Wenn du mittendrin anfängst, verstehst du nicht alles: Beginne lieber am Anfang.
Es war ein beeindruckendes Ereignis. Eine fantastische Bühnenshow und ein umwerfender Sound. Und wir mittendrin. Genial. Aber, auch die eindrucksvollste Show geht einmal zu Ende.
Meine Frau und ich sind schon wieder auf dem Heimweg. Wir sitzen nebeneinander auf der Rückbank des Taxis und halten Händchen wie zwei verliebte Teenies. Auch Julia mag den Sänger sehr gern. Eine von vielen Gemeinsamkeit zwischen uns.
Der Taxifahrer hat ganz offensichtlich einen anderen Musikgeschmack, denn aus den Lautsprechern des Autos quäken quälende Töne in einem unnatürlich schnellen Rhythmus. Ich versuche, die Geräusche so gut es geht auszublenden, denn sie sabotieren meine Erinnerungen an das Konzert und ich bin heilfroh, als endlich ein weniger aufdringlicher Titel beginnt. Naja, über Geschmack lässt sich bekanntlich nicht streiten. Vielleicht muss der arme Fahrer ja noch die ganze Nacht durchhalten, ohne einzuschlafen. Natürlich geht mir auch mein Gespräch mit Claudia nicht aus dem Schädel, die mich unmittelbar vor dem Konzertbesuch in eine Hotellounge ‚entführte‘, um sich ein wenig mit mir zu unterhalten.
Während der Show hatte ich kaum noch darüber nachgedacht. Zu viele Eindrücke prasselten auf mich ein und ich habe das gemeinsame Erlebnis mit Julia mehr als genossen. Dann im Taxi blitzten die Erinnerungen allerdings wieder durch, aber wegen der sägenden Untermalung aus dem Radio konnte ich mich nicht konzentrieren.
Zuhause angekommen drückt Julia dem Fahrer seinen Anzeigebetrag sowie ein gutgelauntes Trinkgeld mit den Worten „Stimmt so“ in die Hand. Ich lasse sie auf meiner Seite aussteigen und mit dem satten ‚Blopp‘ der Autotür kehrt plötzlich Ruhe ein. Herrlich, diese Ruhe. Nur noch die Musik in meinem Kopf – und die erneut erwachende Erinnerung an Claudia und das Hotelcafé. Aber das muss jetzt noch etwas warten.
Nachdem wir uns in unser ‚Couchzivil‘ geworfen haben, lassen wir es uns bei einem lieblichen Glas Wein gut gehen. Ich sitze am rechten Ende des Sofas, Julia liegt mit dem Kopf am linken Ende und ihre Füße liegen demonstrativ auf meinem Schoß, um sanft massiert zu werden. So platziert schwärmen wir uns gegenseitig immer weitere Highlights der Show vor – und davon gab es einige. Letztlich eine ausgefeilte Kombination aus Bühnenbildern und Videoeinspielungen, sowie eine atemberaubende Beleuchtung, die perfekt auf die Akteure abgestimmt ist. Den Rest macht das typische Ambiente eines Livekonzerts, der gegenseitige Austausch von echten Emotionen. Der Sänger und die Band und das Publikum spielen miteinander, man schaukelt sich hoch. Spannung wird aufgebaut und im exakt richtigen Moment entladen. Du weißt genau, dass die das einstudiert haben, aber du merkst genauso, dass es über diesen Punkt hinausgeht, dass die schweißgebadeten Musiker wirklich alles geben und den schwer verdienten Applaus geradezu in sich aufsaugen. Wie eine Form von Energie, die ihnen neue Kraft gibt.
Gibt Claudia mir ebenfalls Kraft? Nun, das tut sie sicherlich, aber ich denke, dass ihre Energie etwas völlig anderes ist. Dieser Energiefluss ist etwas deutlich Größeres. Etwas… göttliches…?
Ich denke, dass zwischen Menschen durchaus eine gewisse spirituelle Energie fließen kann, die sicher auch mentale Kraft spendet. Aber die Energie, die von Claudia ausgeht, ist keine rein mentale Kraft. Ich spüre tatsächlich eine körperliche Stärkung in mir, wenn ich sie berühre. Nicht immer, nicht immer gleich, aber immer dann, wenn ich es brauche. Noch bin ich mir unsicher, kann es nicht genau beschreiben, aber ich habe es mehr als deutlich gespürt.
„Erde an Claude, Erde an Claude, wo befinden Sie sich im Moment? Bitte melden Sie sich“, höre ich Julias Stimme.
Trotz der Last auf meinen Schultern muss ich lächeln. Sie ist eine besondere Frau, meine Julia. Trotzdem habe ich Angst davor, mich ihr zu offenbaren. Angst davor, dass sich zwischen uns irgendetwas verändert. Dass sie mich als Wahnsinnigen ansieht und einen Arzt rufen will. Oder dass sie sich einfach von mir abwendet. Aber niemals würde ich es fertigbringen, die Gespräche mit Claudia vor ihr zu verbergen. Es ist etwas in mein Leben getreten, was ich selbst noch nicht einzuschätzen vermag. Doch nun ist es bereits zweimal geschehen und ich habe keinen Grund, ein drittes Treffen auszuschließen. Dies ist nun ein Teil meines Lebens. Genau wie Julia – und doch ganz anders. Ich atme noch einmal tief durch und schaue ihr in die Augen.
„Ich habe dir vor einiger Zeit einmal etwas verrücktes gesagt“, beginne ich leise.
„An dem Abend, bevor wir den Film über die Tempelritter angeschaut haben. Nach dem Abendessen warst du irgendwie abwesend und du fragtest dich, wie es wäre, mit Gott zu sprechen“, kommt wie aus der Pistole geschossen ihre Antwort zurück.
Ich bin perplex. „Mir war nicht klar, dass diese Bemerkung einen solchen Eindruck bei dir hinterlassen hat“, stelle ich erstaunt fest.
„Das hatte sie eigentlich auch gar nicht“, bestätigt Julia meine Einschätzung, „ich fand die Vorstellung eher amüsant.“ Sie zieht die Beine an und richtet sich auf, rutscht dann neben mich und sieht mich an. „Aber die drei folgenden Nächte hatte ich ziemlich wirre Träume. In jeder Nacht wurden sie deutlicher und einprägsamer. Das kam mir unheimlich vor. So seltsam, dass ich mich nicht traute, dich danach zu fragen.“
Ich drehe mich zu ihr und lege meine rechte Hand auf ihre linke. „Du kannst mich alles fragen. Immer. Was hast du geträumt, Liebes?“
„Ich bin hoch oben. In einem Baum. Ich klettere dort von Ast zu Ast weiter, um etwas zu beobachten, was mich sehr interessiert. Tief unter mir laufen zwei Menschen einen Weg entlang. Ein Mann und eine Frau. Der Mann bist du. Die Frau kenne ich nicht. Ich sehe, dass ihr zwei Hand in Hand geht und dabei lacht. Das macht mich… wütend? Oder… eifersüchtig? Ich stürze mich aus dem Baum auf euch hinab. Ich will die Frau attackieren. Im selben Moment erschrecke ich fürchterlich, weil ich gleich zu Tode stürzen werde. Da lächelt mich die Frau herzensgut an und ich merke, dass sich mein Sturz verlangsamt, als wenn die Zeit fast stehen bliebe. Plötzlich spricht sie zu mir und sagt: ‚Hab keine Angst, kleine Julia. Flieg einfach weiter‘. Im selben Moment bemerke ich, dass ich ein Vogel bin…“
Ich schlucke. Ihre Augen sind feucht. Ich küsse ihre Augen und ihren Mund, schließe sie in meine Arme und flüstere ihr zu: „Mach dir wegen dieser Frau keine Sorgen, Julia. Dein Gefühl trügt dich nicht, sie ist die Güte in Person. Lass mich dir meine Geschichte erzählen…“
Ich bitte sie, es sich wieder bequem zu machen, massiere ihre Füße, die ich liebe, wie ich alles an ihr liebe und erzähle ihr meine Geschichte. Die Geschichte von Claudes Geburt.
Die kleine, zierliche Claudia in ihrem Sommerkleid, die von der Terrasse in den blauen Raum kommt. Der Widerspruch ihrer jugendlichen Erscheinung zu der Weisheit in ihren Augen. Mein Gefühl, dass ich sie schon sehr lange kenne, obwohl ich sie noch nie zuvor gesehen hatte. Unser Spaziergang am See, wo sie mir eröffnete, nicht nur ein ‚einfacher‘ Engel, sondern die Schöpferin des Universums zu sein, woran ich tatsächlich keine Sekunde mehr gezweifelt habe, nachdem ich die Energie gespürt hatte, die sie umgab. Ihr Witz, ihr frecher Humor, ihre Wärme und Güte. Als sie mir dann sagte, ich solle das alles aufschreiben und mit den Menschen teilen. Und nicht zu vergessen, die Traurigkeit in mir, als ich realisierte, dass ich nun wieder in meine Welt zurück muss. Nur an einen kleinen Vogel, der eine Sturzattacke auf sie fliegt, kann ich mich nicht erinnern – und das finde ich schade.
Nachdem ich geendet hatte, sagte sie zunächst einmal nichts. Sie liegt nach wie vor auf der Couch und ich bemerke, dass ich ihre Füße nur noch festhalte. Über meine Erzählung scheine ich das Massieren vergessen zu haben.
„Du hast den lieben Gott ‚Claudia‘ getauft?“, feixt sie, „du bist ja so was von bekloppt“ und lacht kurz und trillernd. „Da trifft der Typ den Allmächtigen und nennt ihn ‚Claudia‘, ich fass‘ es nicht.“
„Du blöde Eule“, werfe ich ihr lachend an den Kopf, „Da steht ´ne schnuckelige Blondine vor mir und ich soll sie Jehova nennen?“
Wir lachen uns gemeinsam den Stress von der Seele, denn zumindest bei mir hat sich seit meiner ersten Einberufung eine ganze Menge davon angestaut. Ich mag keine Geheimnisse zwischen Julia und mir, konnte ihr aber genauso wenig, einfach so, von meinen Erscheinungen erzählen. Und Julia haben ihre Träume, in denen sie mich mit einer jungen Frau flanieren sieht, sicher ebenfalls schwer im Magen gelegen.
„Sie ist ein cleveres Mädchen, deine Claudia“, sagt Julia nach einer Weile des Luftschnappens, „Sie erscheint mir im Traum und macht es dadurch möglich, dass du dich endlich deiner Last entledigen kannst, ohne von mir für geistig verwirrt gehalten zu werden. Sie bringt mich dazu, dich bei einer passenden Gelegenheit anzusprechen. Raffiniertes Biest.“
„Raffiniertes Biest? Der Allmächtige? Und ich soll wegen ‚Claudia‘ ein Idiot sein?“, grinse ich sie mit tadelnd erhobenem Finger an, worauf sie die Hände vor den Mund schlägt und ihr ein „Verdammt“ herausrutscht. „Soll man fluchen?“, frage ich, woraufhin sie unter ihren Händen die Wangen aufbläst, dann meinen amüsierten Gesichtsausdruck erkennt und reflexartig ein Kissen nach mir schmeißt. Das trifft mich perfekt, prallt aber nicht ganz so perfekt ab und sorgt dafür, dass wir beide die nächste Viertelstunde mit dem Aufwischen diverser Rotweinspuren vom Tisch und dem Fußboden beschäftigt sind.
Irgendwann haben wir es aber geschafft. Der Wein ist nur noch dort, wo er hingehört: In unseren Gläsern. Wir haben uns wieder auf unsere Couch gelümmelt und auch Julias Füße liegen wieder auf meinem Schoß und warten.
„Was genau sollst du jetzt eigentlich für Claudia tun?“, fragt mich die Besitzerin der Füße, die ich gerade massiere.
„Nach dem ersten Treffen wusste ich genauso viel, wie du jetzt“, antworte ich, halb in Gedanken.
Mit einem Ruck sind ihre Füße weg und sie sitzt wieder aufrecht. „Wie? Nach dem ersten Treffen? Wie oft hast du sie denn schon getroffen?“, fragt sie mich überrascht.
„Ich wollte es dir gerade erzählen, als du meinen Wein gleichmäßig verteilt hast, Schatz.“
„Pah, das Kissen hast du dir verdient, du Frechling. Jetzt raus mit der Sprache“, drängelt sie und hockt erwartungsvoll im Schneidersitz auf der Couch.
„Zweimal bis jetzt“, kläre ich sie auf. „Sie hat mich heute vor dem Konzert direkt aus dem Badezimmer entführt, als ich zu dir runterkommen wollte. Einfach so beim durch die Tür gehen weggeschnappt.“
„Entführt? Das klingt so dramatisch, nicht?“
„Hör mir einfach nur zu.“
Dann erzähle ich Julia, wie mein zweites Treffen ablief. Die Hotelhalle, die mit beiden Armen fuchtelnde Claudia im Café, die ganz dreist grinsend zugab, mich absichtlich in diesem Moment einberufen zu haben. Natürlich konnte ich ihr nicht böse sein, man kann ihr einfach nicht böse sein.
Ich erzähle ihr von meinen Zweifeln, ob ich der Richtige sei, um Claudias Worte auf Papier zu bringen und unter den Menschen zu verbreiten. Von Claudias Entgegnung, ich wäre absolut der Richtige, um dies zu tun. Jedoch nicht als Prediger oder Erleuchteter, sondern als Chronist, der diese Worte in verständlicher Sprache verfasst. Ich erwähne auch, dass sie viele gute, aber auch sehr viele weniger gute Erfahrungen mit anderen, mit vorherigen Chronisten, gemacht hat.
Ich erzähle ihr, dass Claudia keinen Druck ausübt, dass sie alles als absolut freiwillige Hilfe verstanden haben möchte. Dass es in ihrer Weltsicht keinen Zwang gibt. Dass sie meine ersten Ideen toll findet. Dass sie, im Gegensatz zu mir, nicht an mir zweifelt.
Und wieder schweigt Julia. Und wieder habe ich irgendwann aufgehört zu massieren. „Ich zweifle auch nicht an dir, Schatzi“, sagt sie dann, „Du kannst die richtigen Worte finden.“ Sie krabbelt zu mir herüber und lehnt sich an mich. „Du hast in der Schule ja schon schöne Aufsätze geschrieben“, fügt sie noch hinzu.
„Du warst doch gar nicht dabei“, erinnere ich sie.
„Aber du hast oft genug damit angegeben“, kontert sie und lacht frech.
„Du kennst mich einfach zu gut“, stelle ich fest.
„Das liegt wahrscheinlich daran, dass du mir schon ein paar Jährchen auf die Nerven gehst, mein stolzer Recke“, ahmt sie Claudias Spaß nach.
Ich werfe den Kopf in den Nacken uns strecke die Arme hilfesuchend zur Decke empor: „Oh mein Gott, jetzt habe ich schon zwei Königinnen an der Backe. Was soll nur aus mir werden.“
Das werde ich wohl abwarten müssen…
Die Einzige wird dich leiten – La sola gvidos vin
#lasolagvidosvin – #lasolaicu
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