Wenn du mittendrin anfängst, verstehst du nicht alles: Beginne lieber am Anfang.
Ich suche noch einen Parkplatz, weil ich recht nah an meine Halbzeitbank heranfahren wollte. Aber so ganz nach Wunsch klappt das heute irgendwie nicht. Typisch. Wenn du keinen Parkplatz suchst, sind tausend Stück frei, aber wehe, du brauchst einen. Ist aber nicht schlimm. Es ist trocken, etwas kühl vielleicht, aber nicht feuchtkalt. Es ist jetzt ungefähr die Zeit, zu der ich immer meinen Lauf mache. Also könnte Rebecca schon an der Bank sein.
Da! Endlich eine halbwegs große Lücke. Auto rein und gut. Heute gehe ich einen Querweg entlang, der knapp vor der Bank auf den Hauptweg mündet. Die Bank ist schnell erreicht, aber sie steht ohne meine Reisegefährtin dort. Das macht aber nichts, dann tippe ich noch ein bisschen auf dem Smartphone herum. Ich schreibe Stichpunkte zu meiner ersten Unterhaltung mit Rebecca auf.
Hinter mir räuspert sich eine weibliche Stimme und fragt: „Ist hier noch frei?“ Ich lege mein Telefon zur Seite und stehe auf. Natürlich habe ich Beccies Stimme sofort erkannt und drehe mich zu ihr um. Sie sieht blendend aus, meine Miniphysis. Heute trägt sie eine warme schwarze Jacke, unter der ein türkisfarbener Pulli steckt, darunter eine dunkelblaue Jeans und weiße Sportschuhe mit hohem Schaft und zum Pulli passenden Farbelementen. Sie hat ein entzückendes Lächeln auf den Lippen und trägt ihr jetzt rot getöntes Haar unter einer weißen Strickmütze. Wir gehen um die Bank herum auf uns zu und umarmen uns. Auf diesen zwei Metern konnte ich einen kurzen Blick in ihre kristallklaren Augen werfen, die überhaupt nicht mehr müde oder leer wirken. Es britzelt kein bisschen, bei unserem engen Kontakt. Sie ist noch immer ein purer Mensch. Ihr ‚Draht nach oben‘ ist sehr wahrscheinlich um Potenzen gewaltiger als mein Splitter je war, aber körperlich ist sie noch immer im Hier und Jetzt.
Sie hatte es ‚Funken‘ genannt, das, was ich von Claudia als ‚Splitter‘ kennengelernt habe. Ist damit möglicherweise das gemeint, was die Menschen gemeinhin die ‚Seele‘ nennen? Der ‚Odem‘ Gottes? Der ‚Heilige Geist‘? Ich bin nicht sicher. Wie viele Religionen haben wie viele Bezeichnungen für diesen Teil von jedem Lebewesen? In wie vielen Religionen wird gesagt, dass Tiere keine Seele haben? Schon wieder muss ich recherchieren. Claudia sagte aber definitiv, jedes Lebewesen hat einen Splitter. Und je höher es entwickelt ist, umso größer wäre er. Wächst der Funken an seinen Aufgaben? Ich hätte fragen können, sagte Becci gestern, aber stell mal eine Frage, die du noch nicht kennst.
„Wo bist du denn gerade, Tommy?“, fragt Rebecca statt dessen mich und löst sich aus der Umarmung.
„Oh, entschuldige bitte, meine Liebe. Als ich dich hielt, kamen die Erinnerungen an unser letztes Treffen zurück. Der Funken, die Seele, ob es dasselbe ist und warum ich nie gefragt habe.“
„Verstehe“, sagt sie nur. „Man kriegt etwas erzählt und glaubt, es verstanden zu haben. Dann versucht man, das Gehörte in nachvollziehbare Bahnen zu bringen und stellt fest, dass man nichts kapiert hat. Und, dass man schon wieder neue Fragen hat.“
„Ja“, bestätige ich. „So ist es. Ich merke es oft erst beim Schreiben. Plötzlich stelle ich fest, dass ich etwas nicht weiß, was für die Geschichte unbedingt nötig wäre. Dann stammle ich um diese Aussage herum und lege das Kapitel zur Seite. Wenn ich beim nächsten Gespräch daran denke – und nicht schon wieder von irgendeiner anderen Sache überwältigt bin – frage ich eine andere Physis und baue das nachgelieferte Wissen in die angefangene Geschichte ein.“
Rebecca lächelt mich wissend an. „Und dann kommt es dir wie eine Lüge vor, weil du die Geschichte verfremdest, richtig?“
„Irgendwie ist es doch so, oder?“
„Nein, Thomas. Ist es nicht“, sagt sie, nimmt ihre Mütze ab und schüttelt leicht den Kopf. Ihre feinen Haare, die nun ganz seidig auf ihre Schultern fallen, folgen der Bewegung mit einer winzigen Verzögerung. „Wenn dir nach der Reise mit Twocloud etwas unklar geblieben ist, was dir erst Wochen später von Claudia erklärt wird, ist es viel besser, dieses Wissen an der richtigen Stelle in den Erzählfluss der Twocloud-Geschichte zu integrieren. Ich meine, hättest du La Sola direkt nach der Reise mit dem Telefon anrufen können, hättest du das wahrscheinlich getan und sie einfach gefragt.“
Becci nimmt mich an die Hand und spaziert los. Ihre ganze Erscheinung wirkt so leichtmütig, so beschwingt. Sie hat nichts mehr mit dem traurigen Mädchen der ersten Tage gemein. Während wir so schlendern, plappert sie gut gelaunt weiter.
„Es könnte sogar verwirrend für den Leser sein, wenn du die nachbesorgte Twocloud-Erklärung völlig zusammenhanglos in die Claudia-Geschichte hineinprügeln würdest. Die Antwort auf deine Frage gibt dir immer La Sola. Ob früher oder später, ob als Isaak oder Yasmin, spielt nicht die geringste Rolle. Die Menschen müssen ohne Umwege in der Lage sein, den Willen La Solas herauszulesen.“
„Na, du kennst ja schon viele von deinen zukünftigen Kollegen“, amüsiere ich mich.
„Boah, du hast ja keine Ahnung, Tommy. Das ist total abgefahren.“ Sie lässt meinen Arm los und gestikuliert begeistert mit Händen und Füßen, während sie seitwärts und sogar rückwärts vor mir her tänzelt. „Stelle dir den Kosmos als Ort des Lebens vor. Stelle dir viele verschiedene Lebensformen vor, verteilt auf eine unermessliche Weite. Stelle dir Leben vor, welches für dich beinahe unvorstellbar wäre und lege noch eine Schaufel obendrauf. Eine zierliche Claudia könnte mancherorts ein abscheuliches Monster sein und Angst und Schrecken auslösen. La Sola könnte dir in Formen erscheinen, die du versehentlich zertreten könntest und sie könnte dir in Formen erscheinen, die durch eine kleine Unachtsamkeit Europa und Asien vernichten könnten.“
In letzter Sekunde umweht sie haarscharf eine Straßenlaterne, entscheidet sich wieder für den Vorwärtsgang und greift erneut nach meiner Hand. Was für eine bizarre Situation. Rebecca plaudert ohne böse Absicht über Szenarien, die mich an alte Horrorfilme mit Riesenmonstern und Kampfjets erinnern und wir schlendern dabei Hand in Hand auf mein Auto zu. Und sie ist noch nicht fertig.
„Du könntest ein Lebewesen sein, so groß wie unser ganzer Planet und trotzdem würdest du La Sola nicht in ihrer Gesamtheit erkennen können. Sie muss mit allen Lebensformen immer so kommunizieren, dass sie von diesen auch wahrgenommen werden kann.“ Ihre Stimme wird weicher, bleibt aber dennoch eindringlich. „Deshalb muss es Physen geben. Viele davon. Keine wie die Andere. Physen sind Sonnen, Monde, Sterne, Berge, Bäume, Sträucher, Quellen, Flüsse, Tiere, Fabelwesen, Engel, Götter, Väter und Mütter, Söhne und Töchter. Und manchmal einfach nur Träume.“
Sie bleibt plötzlich stehen. Ich schrecke aus meinen Gedanken hoch. Ich war ihr einfach nur gefolgt und hatte diese Bilder und Videos, die sie so überaus lebendig schilderte, vor meinem geistigen Auge. Jetzt registriere ich, dass wir an meinem Auto stehen. „Woher wusstest du, wo das Auto steht…?“
„Träume, Thomas, einfach Träume“, sagt sie nur und lächelt mich an, wie Becci nun mal so lächelt. Nur ihre Augen erscheinen weiter und tiefer als sonst. Aber dieser Eindruck lässt im selben Moment wieder nach, als ich ihn wahrnehme. Für eine halbe Sekunde schließt sie beide Augen, ein ganz langsames Blinzeln sozusagen. Nun sehe ich wieder Rebecca vor mir.
„Wollen wir los?“, fragt sie und ihre menschlichen Augen funkeln vor Freude.
Es macht mich glücklich, sie so zu erleben. Ich entriegele das Auto, öffne die Beifahrertür und schließe sie hinter ihr wieder. Ganz Gentleman. Dann steige ich ein und fahre los. Einfach so. Becci wusste, wo das Auto geparkt war. Ich weiß, wo es hinfahren soll. Träume?
Ich bin nicht der Typ, der beim Fahren viel spricht. Aber ich höre gerne zu. Becci sitzt entspannt neben mir, hat sich die Lehne sehr flach eingestellt, und übernimmt den aktiven Teil der Unterhaltung.
„Ich bin sooo gespannt, was mich erwartet“, singt sie beinahe.
„Du hast keine Ahnung…?“, frage ich verdutzt zurück.
„Nicht die Bohne“, antwortet sie. „Ich werde gebraucht, um jemandem zu helfen. Gleichzeitig helfe ich mir selbst dabei. Klingt ein wenig kryptisch, nicht?“
„Weiß nicht. Wer weiß schon, was La Sola sich so denkt.“
„Mein La-Sola-Teil verhält sich jedenfalls auffällig unauffällig. Im Moment habe ich den Eindruck, jeden Kontakt verloren zu haben und das war noch nie so. Also, seit wir verschmolzen sind, meine ich.“
„Vielleicht bringt dir deine Aufgabe nur dann etwas, wenn du sie als Menschlein erledigst, Becci“.
„Hmm, mag sein. Ich lass mich überraschen. Was soll ich auch sonst tun?“, entgegnet sie und räkelt sich in ihrem Sitz.
„Wenn du heute solo unterwegs bist, also ohne La Sola, dann…“ Ich muss einen Moment die richtigen Worte suchen, um nicht gemein zu sein. „Was ich sagen will…, ohne La Sola warst du…, ziemlich verloren, Rebecca. Jetzt bist du aber überhaupt nicht so wie vorher. So total neben der Spur, wie bei unserem ersten Zusammentreffen, meine ich.“
„Ich weiß, dass sie nicht wirklich weg ist“, antwortet Rebecca sofort und ohne nachzudenken. „Ich spüre nach wie vor ihre Kraft. Sie durchfließt mich in jedem einzelnen Augenblick. Nur…, sie ist nicht als Teil meines Bewusstseins präsent. Meine Gedanken sind…, flach…, ohne Höhen und Tiefen. Als wenn mein Geist in einem verschlossenen Raum mit schmutzigen Fenstern stecken würde. Das…, das klingt jetzt fies…, dir gegenüber, aber…, wenn du einen Hauch göttlicher Sinne erahnen durftest, dann…, dann merkst du erst, wie beschränkt dein menschlicher Körper ist.“
Seit ich durch Cassandras Augen in Kamatos Körper gefahren bin, habe ich eine ungefähre Vorstellung davon, was sie ausdrücken möchte und höre weiter gebannt zu, was sie zu berichten hat.
„Weißt du, jedes Leben umgibt eine Aura. Das wusste ich schon früher, also vor La Sola, verstehst du? So wie in manchen Nächten der Mond einen Hof hat, so hell kannst du dir die Aura eines normalen Menschen vorstellen. Nicht deine, die ist kein Maßstab, aber die von so einem ganz normalen Menschen. Im Gegensatz dazu bin ich jetzt so hell wie die Sonne. Ungelogen. Und das, obwohl ich hier gerade ohne göttlichen Schimmer herumsitze.“
Wow. Das ist mal eine Hausnummer. Und ich dachte, Twocloud wäre der Herr der klaren Worte. Ich schaue kurz zu ihr rüber, aber sie ruht in sich. Ich denke, sie hat gerade nur mit ihren Worten wiedergegeben, wie sie La Solas Präsenz wahrnimmt. Nach einer Weile des Schweigens spricht sie mit geschlossenen Augen und halb liegend weiter.
„Die alte Rebecca war am Ende, verstehst du? Ich hatte aufgegeben. Mich selbst aufgegeben. Aber ich war nicht depressiv, nein, ganz und gar nicht. Ich hatte mich stattdessen in meine kleine Welt zurückgezogen. Dort war ich allein und niemand tat mir weh. Falls ich den Eindruck hatte, dass es doch jemand versuchen könnte, machte ich einfach die Tür meiner kleinen Welt zu, versteckte mich dahinter und war ganz still. Ich konnte das auch immer schon spüren, weißt du? Mit diesem sechsten Sinn, den ich immer schon hatte, dieser Sicht auf den übersinnlichen Glanz mancher Menschen. Als ich da auf der Bank gehockt habe und du kamst angelaufen, da habe ich dein helles Licht gesehen. Du bist etwas ganz Besonderes und ich hatte sofort Vertrauen zu dir. Ich hatte keine Angst. Keinen Zweifel an dir. Keine Sekunde kam mir in den Sinn, mich vor dir verstecken zu müssen.“
Wir haben die Stadt hinter uns gelassen. Die Bebauung wird zunehmend spärlicher. Auto läuft fast alleine, der Tempomat steht auf ausreichend flotten 140 km/h und ich fließe auf der dreispurigen Autobahn zwischen nicht allzu vielen anderen großen und kleinen Fahrzeugen dahin. Aus dem Radio plätschert unaufdringliche Musik, die nicht sehr laut eingestellt ist.
„Es ist seltsam, auf die Entwicklung zurückzublicken, die dazu geführt hat“, sagt Becci leise. „Vor allem mit dem Horizont, den ich jetzt habe. Das seltsamste daran ist, dass ich, der Gott, dieser sensiblen Rebecca ihre Schwäche sofort verziehen habe, aber ich, der Mensch, dieser Idiotin am liebsten einen Tritt in den Arsch verpassen möchte, weil sie ihre Aufgabe derartig vermasselt hat.“
Ich muss kurz grinsen. Nicht, wegen dem, was sie gerade gesagt hat, sondern deshalb, wie sie es gesagt hat. Aber dieser amüsierte Anflug ist schnell wieder vorbei, denn was sie erlebt hat, muss schwer auf ihr lasten, wenn es ihre menschliche Seite noch immer derartig aufwühlt. Die Musik verklingt und der Radiomoderator erzählt irgendetwas über den bevorstehenden Frühling, aber ich bin in Gedanken nach wie vor bei Rebecca. „Welchen Fehler glaubst du denn, gemacht zu haben? Oder…, nein…, wir fangen anders an: Was ist denn überhaupt Schlimmes passiert, was zu dem traurigen Ende geführt hat? Möchtest du mir das erzählen?“, frage ich mitfühlend.
Zwei Sekunden herrscht Ruhe. Dann holt sie Luft und erzählt mit spürbar aufgesetzter Härte in ihrer Stimme: „Ich war jung, ich habe mich verliebt und ich habe mich völlig auf meinen Freund verlassen. Nach drei Jahren war er plötzlich weg. Von heute auf morgen verschwunden. Ohne Streit, ohne Wort, ohne jede Spur. Ich bin vor Sorge beinahe gestorben. Ich habe ich ihn überall und nirgends gesucht, habe alle Freunde und Bekannte abgeklappert. Weil ich mit ihm ja nicht verwandt war, konnte ich die Polizei nur mit Mühe davon überzeugen, nach ihm zu suchen. Seine Familie lebte im Ausland. Die konnten auch nicht wirklich etwas erreichen. Bei ihnen hatte er sich aber auch nicht gemeldet. Er war weg, er blieb weg und ich blieb allein.“
Sie schweigt und hängt ihren Gedanken nach.
„Hast du keine Familie, die dir zur Seite stehen konnte?“, frage ich nach.
Sie lächelt traurig und erwidert: „Nein, schon lange nicht mehr. Meine Eltern starben als ich zehn war. Wir drei waren unsere ganze Familie.“ Unendlich sanft kommt dieser eine Satz über ihre vollen Lippen, die keine fünf Sekunden später weiß und schmal wie ein Kreidestrich werden. „Es war ein Scheißunfall“, zischt sie durch ihre Zähne. „Ein besoffener Autofahrer nietet meine Eltern um und ich stehe keine zwanzig Meter daneben. Glückskind, juhu.“ Ihre Augen glitzern verräterisch als sie irgendwelchen imaginären Zuschauern zuwinkt.
Das tut weh. Ich sehe ein Kind vor mir, welches den Tod seiner Eltern erleben muss. Von einem Moment auf den anderen. Was geht in so einem zehnjährigen Mädchen vor? Will ich das wissen? Ich muss blinzeln, um meinen Blick zu klären. Rebeccas Stimme klingt wieder beherrschter, als sie ihre Geschichte fortsetzt.
„Meine Großeltern väterlicherseits sind nicht alt geworden, die Eltern von meiner Mutter lebten am anderen Ende der Welt und hatten wohl nicht die Mittel, sich um mich zu bemühen. Ich bin dann in Heimen und bei Pflegefamilien aufgewachsen und ich war wohl auch kein einfaches Kind. Ja, mein Start ins Leben war schon ein bisschen hakelig“.
Sie stellt ihren Sitz ein wenig senkrechter ein und rutscht in eine bequemere Position.
„Wahrscheinlich habe ich mich deshalb auch so eng an meinen Freund gebunden. Er wurde zu meiner Familie. Wir hatten Zukunftspläne. Wollten zusammen so viel erreichen. Kamen beide aus kaum behüteten Verhältnissen. Waren beide allein und haben uns dann gefunden. Es war eine tolle Zeit.“
Sie nimmt einen großen Schluck aus der Wasserflasche, die ich uns als Reiseproviant eingepackt habe.
„Tja, und dann war die tolle Zeit plötzlich vorbei und ich bin tiefer gefallen als ich zuvor jemals war. Dieser Fall war ein Sturz ins Bodenlose. Wahrscheinlich würde ich heute hier gar nicht mehr sitzen, wenn ich nicht schwanger gewesen wäre.“
„Du warst schwanger? Ihr habt ein Kind erwartet?“
„Eigentlich habe ich ein Kind erwartet, denn mein Freund wusste nichts davon. Ich habe es selbst erst nach seinem Verschwinden erfahren. Es war das reinste Gefühlschaos. Ich weiß echt nicht mehr, in welcher Reihenfolge mir welche Gedanken durch den Kopf geschossen sind.“
Ein weiteres Mal nimmt sie einen Schluck aus der Flasche. Ich frage mich, ob sie vom Reden einen trockenen Mund hat, oder ob sie einfach eine Beschäftigung für ihre Hände sucht.
„Da glaubst du dich in einer Situation, die durch Nichts und Niemanden jemals zerstört werden könnte. Du bist 20 und glücklich. Du glaubst, dass du immer 20 und glücklich sein wirst. Und dann wird das ganze Gebilde plötzlich in Frage gestellt. Aber du gibst nicht auf und du kämpfst darum. Du steckst voller Wut und voller verzweifelter Energie. Doch…, wie in einer Gummizelle…, verpufft diese Energie. Du rennst im Kreis und rempelst mal hiergegen und mal dagegen und jedes mal ist ein bisschen weniger von dir übrig. Du bist irgendwann nur noch eine Pfütze auf der nassen Straße.“
Ihre zurückgehaltenen Tränen sind wieder getrocknet. Sie atmet langsam und tief ein. „Und dann kommt jemand an den Rand dieser Pfütze und sagt: Aus dir wird neues Leben entstehen. Das ist Achterbahn, Thomas.“
„Ich weiß gerade nicht, was ich dazu sagen soll – und das kommt nicht ganz so oft vor“, muss ich gestehen. „Achterbahn ist das richtige Wort, glaube ich. Das war jetzt natürlich Zeitraffer für mich, aber…, mit Peitsche und Zuckerbrot. Wow, du bist psychisch total am Ende und gleichzeitig ein Quell des Lebens. Wie hast du davon erfahren?“
„Das ist schon wieder eine Story für sich, aber ich kürze sie mal ab. Ich hatte den Boden der Tatsachen erreicht. Tiefer ging nicht mehr. Ich pennte in einem Hauseingang und die Nacht wurde kälter als erwartet. Irgendein Nachtschwärmer rief den Rettungsdienst, damit ich nicht erfriere. Im Krankenhaus machte irgendein Arzt den großen Rundumcheck, obwohl ich nicht versichert war. Hatte wahrscheinlich ein Helfersyndrom oder eine altruistische Ader. Der Typ hat mich wieder auf die Füße gestellt und mir die gute Nachricht überbracht. Ich habe sofort losgeheult und weiß bis heute noch nicht, ob aus Glückseligkeit oder totaler Verzweiflung. Aber er hat gelächelt, als er es mir gesagt hat und dieses Lächeln hat sich mir eingebrannt. Nachdem ich irgendwann später meinen Zustand realisiert hatte, sah ich immer wieder dieses Lächeln vor mir. Das war etwas Positives. Dieses Lächeln machte mir klar, dass ich mich freuen sollte. Und da begann ich mich zu freuen. Ich wollte es dem Doktor auch noch sagen, aber ich sah ihn nicht mehr und die Klinik schmiss mich raus, nachdem ich offensichtlich außer Lebensgefahr und nebenbei auch noch Pleite war.“
Ich muss auch lächeln. Wie dieser Arzt. Ich sehe sein Gesicht vor mir und ich sehe ihn lächeln. Natürlich ist es nur irgendein Gesicht, dass ich wahrscheinlich irgendwann in meinem Leben einmal irgendwo zufällig gesehen hatte, aber in diesem Moment ist es genau das richtige Gesicht an der richtigen Stelle. Das personifizierte positive Lächeln. Ein Lächeln, das Mut macht, das ansteckend wirkt. So sehe ich es vor meinem geistigen Auge. Und das nur, weil Rebecca mir davon erzählt hat. Ist das Leben nicht total verrückt? Ein sympathischer junger Mann in grüner Arztkleidung. Dunkelblondes dünnes Haar, eine rahmenlose Brille auf der Nase und ein positives Lächeln im Gesicht.
„Das war es aber nicht, was dich in den Zusammenbruch getrieben hat, nicht wahr?“, frage ich weiter, denn es ist mir vollkommen klar, dass ihre Geschichte an dieser Stelle nicht enden kann.
Es ist erstaunlich, wie wenig Aufmerksamkeit die Straße erfordert. Mein Wagen läuft fast wie von selbst. Nur minimale Bewegungen am Lenkrad sind nötig. Immer ist eine große Lücke verfügbar, in die ich sachte einscheren kann, ohne in den Tempomaten eingreifen zu müssen. Becci ist in Gedanken versunken. Wahrscheinlich durchlebt sie die geschilderte Situation gerade noch lebendiger, als ihre Erzählung dies bei mir bewirken konnte.
„Nein“, beginnt sie, „ganz sicher nicht.“
Ich hatte damit gerechnet, dass sie weitererzählt, aber das tut sie nicht. Ich respektiere das selbstverständlich, denn sie hat schon verdammt viel über sich preisgegeben, in dieser relativ kurzen Zeit. Und in Summe hat dieser junge Mensch schon mehr mitgemacht, als die meisten anderen ihres Alters. Wieso ist das so? Warum, um alles in der Welt, muss ein Kind seine Eltern verlieren? Warum können dann nicht wenigstens die Großeltern oder andere Verwandte da sein? Warum muss dieses gestrafte Kind dann gegen so viele Widerstände erwachsen werden? Wieso wird ein neues Glück, welches dieser junge Mensch dann findet, auch direkt wieder zerstört? Soll das so sein? Sollen bestimmte Menschen ein extra hartes Leben führen, damit etwas Besonderes aus ihnen werden kann? Wie in der Schmetterlingsgeschichte?
„Fährst du bitte gleich mal irgendwo raus, Thomas? Zum Beine vertreten?“, fragt Rebecca und holt mich aus meinen Gedanken. War da nicht gerade…? Ja, ein Hinweisschild auf einen Parkplatz in wenigen hundert Metern. Ich folge diesem Hinweis und stelle den Wagen seitlich ab. Becci setzt ihre Strickmütze auf, steigt aus und läuft langsam los. Ich tue es ihr gleich und gehe ihr nach. Sie schlendert langsam und ich habe keine Mühe, ihr zu folgen und sie einzuholen. Ohne sich umzudrehen streckt sie mir nach hinten ihre linke Hand entgegen, wie eine Staffelläuferin und ich muss unwillkürlich lächeln als ich zugreife. Sie drückt beherzt zu, dankbar, dass ich da bin. Wir beide gehen noch gut 50 Meter weiter und erreichen so eine Art Aussichtsplattform. Rebecca löst ihre Hand aus meiner und stellt sich frontal an das Geländer, welches die asphaltierte Fläche der Fahrbahn von einer riesigen Wiese trennt. Ich stelle mich neben sie und halte Ausschau nach der Sehenswürdigkeit, die es hier zu bestaunen geben sollte. Doch da ist nichts.
„Mein Leben, Thomas“, sagt sie und macht eine umfassende Geste mit ihren beiden erhobenen Armen über die leere Wiese. Kein Baum, kein Busch, keine auch nur etwas größeren Sträucher, nichts. Becci schaut leicht zur Seite und so kann ich erkennen, dass sie lächelt. „Sie sieht so leer und so unbedeutend aus, nicht wahr? Aber das ist sie nicht, Tommy. Milliarden von Lebewesen bevölkern diese Wiese. Tiere unter der Erde, Tiere über der Erde, Tiere in der Luft über der Wiese. Gräser, Kräuter, Pflanzen noch und nöcher. Flechten, Pilzen, Myzelnetze in riesiger Ausdehnung. Niemand sieht sie und doch sind sie da. Es ist ein Kommen und ein Gehen. Manches bleibt für ewig, manches nur für wenige Sekunden und doch war es da. Es war da und es war wichtig. Ich weiß nicht, welcher Teil dieser Wiese ein anderer geworden wäre, wenn das Eine oder Andere nicht genauso geschehen wäre, wie es geschehen ist. La Sola legte vor Ewigkeiten die Regeln fest. Und doch sind diese Regeln so weit gefasst, dass sich Billiarden von Möglichkeiten ergeben. Alles folgt einem Plan. Die Gesamtheit La Solas kennt diesen Plan. Doch wir, die wir alle nur ein Teil des Ganzen sind, können diesen Plan nicht verstehen. Das können wir genauso wenig, wie wir die Gesamtheit La Solas erkennen können. Sollen bestimmte Menschen ein extra hartes Leben führen, damit etwas Besonderes aus ihnen werden kann, Thomas? Vielleicht ist das so. Wäre ich jetzt hier, wenn nicht alles genauso geschehen wäre, wie es geschehen ist? Meine Kindheit? Meine Eltern? Meine Jugend? Mein Freund? Mein Kind?“
Sie dreht sich zu mir um und ich sehe das aufflammende Lodern in ihren Augen. Ich sehe Galaxien vorbeiziehen und miteinander verschmelzen. Ich fliege mit Lichtgeschwindigkeit zwischen all diesen Sternen hindurch und stehe trotzdem nach wie vor an diesem Geländer. Noch immer hält sie die Arme erhoben in dieser umfassenden göttlichen Geste. Zwischen ihren beiden Händen beginnt die Luft zu flirren, dann erstrahlt dort ein Licht. Es leuchtet heller als jede Sonne, der ich auf meinem immer noch andauernden rasenden Flug durch das Universum ausweiche. Ich bekomme eine Gänsehaut am ganzen Körper, als ich sehe, dass ihre Füße den Boden nicht mehr berühren. Ich spüre zum ersten mal, hier und jetzt in Rebeccas Gegenwart, die unendliche Macht La Solas. Nicht nur ein wenig Tiefe in ihrem Blick, nicht nur die eine oder andere kryptische Bemerkung, sondern die volle Breitseite. Ich werde aufgeladen, wie ich es bei anderen Physen so noch nicht erlebt habe. Eine gewaltige Woge aus Lebenskraft, purer Energie und unendlicher Liebe überrollt mich und ich nehme jeden einzelnen Tropfen davon dankbar in mich auf.
Rebecca schließt langsam die Augen und die Wärme wird spürbar schwächer. Das gleißende Licht blendet nicht mehr so stark und das Rauschen in meinen Ohren wird leiser. Ich fliege nicht mehr und weiß nicht einmal, wann ich gelandet bin. Ich stehe Rebecca, die ihre Augen noch immer geschlossen hält, direkt mir gegenüber. Sie senkt ihre Schultern und kommt mit einem wackeligen Schritt auf mich zu. Ich eile ihr die noch fehlenden Zentimeter entgegen und nehme sie in meine Arme. Becci klammert sich an mir fest, bis sie wieder sicheren Halt unter den Füßen findet. Uns beiden scheint diese Umarmung gut zu tun. Nach einer knappen Minute sagt sie mit leiser Stimme direkt in mein Ohr: „Mein Sohn ist mit 8 Jahren gestorben, Thomas. Das hat mir den Rest gegeben. Eigentlich habe ich meine kleine Welt danach überhaupt nicht mehr verlassen. Ich war in ihr gefangen. Ich ging nur in den Park auf eine Bank. Dann sah ich durch die Bäume dein Licht und habe die Bank gewechselt. So lange, bis du aufgetaucht bist. Du warst der Auslöser für alles.“ Rebeccas Umklammerung wird ein wenig lockerer und sie schaut mir in die Augen. „Mein Sohn hieß Cedric. Bevor er ging, war er lange Zeit krank und konnte nur noch selten sein Bett verlassen. Aus dem Buch, das ich im Park immer dabei hatte, habe ich ihm während dieser Monate Geschichten vorgelesen. Alles hat seine Zeit. Alles hat seinen Sinn. Das alte Buch brauchen wir nicht mehr.“
Sie löst sich ganz aus meinen Armen und tritt einen kleinen Schritt zurück. Immer noch schaut sie mich an und in ihrem Blick liegt keine Trauer, kein Kummer und keine Verzweiflung. Im Gegenteil sehe ich Kraft und Hoffnung – und ein leises Lächeln.
„Das waren meine heutigen Aufgaben, Tommy. Ich musste mein Leben nochmals durchleben und die schönen sowie die schlimmen Geschehnisse verarbeiten. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft trafen gerade in meinem Inneren aufeinander. So habe ich mir geholfen. Dir helfe ich nun, indem ich dich in deinem Handeln bestätige. Glaube weiter daran, dass kein Leben verschwendet ist, auch wenn es noch so kurz und unbedeutend scheint. Auch wenn niemand den Sinn hinter Leben und Tod versteht. Auch du kannst nicht alles verstehen, kleiner Käfer, damit musst du leben. Egal, wie stark dein Funke ist. Alles hat seine Zeit. Alles hat seinen Sinn. In deinem Fall haben sogar alte Bücher noch einen Sinn. Sie sind wichtige Nachschlagewerke. Die Menschen müssen sich nur bewusst sein, dass sie darin sehr viel über die Sitten, die Gebräuche und die Denkweise ihrer Vorfahren lernen werden, aber nicht wirklich etwas über ihren Gott. So oder so ist es an der Zeit, dass neue Bücher geschrieben werden.“
Die Einzige wird dich leiten – La sola gvidos vin
#lasolagvidosvin – #lasolaicu
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Das erfährst du auf der Seite „Neuigkeiten„.
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- 1a Über die „Geburt“ von Claude
- 1b Bin ich wahnsinnig oder nur verrückt?
- 2a Über die Verbreitung des Wortes
- 2b Und wie bringe ich das nun meiner Frau bei?
- 3a Über Fragen und Antworten
- 3b Eine willkommene Abwechslung
- 4a Über Pferderassen, Bekleidung und die Vielfalt
- 4b Der bärtige alte Mann
- 5a Über eine Welt ohne Geld
- 5b Geld macht nicht glücklich
- 6a Über die Entstehung des Universums
- 6b Unbekanntes Terrain
- 6c Endlich ein Anfang
- 6d Wie funktioniert eigentlich Claudia?
- 7a Über Menschen, Tiere und Speisevorschriften
- 7b Glückliche Schweine und andere Tiere
- 8a Über die Selbstbestimmung
- 8b Hoppe, hoppe, Reiter
- 9a Über die Ebenen des Universums
- 9b Sie ist mein Anker
- 10a Über die Kinder La Solas
- 10b Exotische Jahreszeiten
- 11a Über falsche Götter
- 11b Götterdämmerung
- 12a Über Rebeccas Heimkehr
- 12b Freude schöner Götterfunken
- 13a Über Rebeccas Vergangenheit
- 13b Julia trifft eine Freundin
- 14a Über die Allseitigkeit
- 14b Mit Julia am See
- 15a Über eine Fahrt ins Ungewisse
- 15b Über den Weg der Göttin
- 16a Über Raum und Zeit
- 16b Über ein besonderes Wochenende
- 17a Über fiese alte Männer
- 17b Aller Abschied fällt schwer
- 18a Über fantastische Möglichkeiten
- 18b Utopia
- 19a Offen
- 19b Offen
- 20a Über den Blitz der Erkenntnis
- 20b Nachleuchten
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