Wenn du mittendrin anfängst, verstehst du nicht alles: Beginne lieber am Anfang.
Wir sind wieder in der Villa. Vor dem Esstisch. Ich stelle fest, dass ich Hunger habe. Doch zuerst schaue ich mich nach Julia um. Sie liegt noch genauso in der Sofaecke wie bei unserem spontanen Abflug. In der anderen Ecke sitzt Majikku und lächelt mich an.
„Hi, ihr zwei“, reimt sie und winkt zu uns rüber.
„Wer bist du gerade, Majikku-Chan?“, frage ich sicherheitshalber nach, denn in ihrem Körper könnte entweder sie selbst oder immer noch Julia stecken.
„Ich bin es selbst Claude-Chan“, antwortet sie sofort mit der japanischen Entsprechung für lieber Freund aus Kindertagen.
„Du bist wieder du und Julia schläft einfach so weiter?“, erkundige ich mich vorsichtig.
„Das war ein hartes Stück Arbeit für sie. Ich habe sie doch recht weit hinter die Kulissen schauen lassen. Sie hat erahnen können, was es bedeutet, die Summe aller Teile zu sein.
Rebecca geht zu Julia hinüber und setzt sich neben die Schlafende. „Ich bringe sie besser ins Bett. Sonst spürt sie morgen alle ihre Knochen.“
Ohne eine Antwort abzuwarten, verschwindet sie mit meiner Besten, indem sich die beiden einfach in Luft auflösen. Ich weiß, dass sich Julia in den besten Händen befindet und setze mich an ihrer Stelle auf die Couch. „Ich weiß von der Sahara und von New York. Was habt ihr denn da angestellt?“
Majikku lächelt nun wieder, wedelt mit den Händen und antwortet: „Ich war nur das Taxi, Claude, ehrlich. Aber sie war echt toll.“
Becci kommt offensichtlich nicht zurück. Ich gucke in zwei amüsierte Sternenaugen und sage nur: „Dann erzähl mal.“
Majikku räuspert sich und beginnt dann, ihre gemeinsamen Empfindungen in Worte zu fassen.
Die Wüste. Die Sahara. Diese Weite ist beeindruckend. Julia steht mitten im Sand und blickt in alle vier Himmelsrichtungen. Jede erkennbare Stelle rings um sie herum sieht nicht anders aus, als die Stelle unter ihren Füßen. So muss man sich als Schiffbrüchiger fühlen, während man sich an seine Planke krallt um nicht unterzugehen. Doch hier gibt es Hügel. Sie haben durchaus etwas von den Wellen des Ozeans, aber sie bewegen sich nicht. Kein Geräusch. Der Wind. Das einzige hörbare ist der Wind. Es ist ein körperloses Geräusch, denn der Wind ist nichts greifbares. Klar, man spürt ihn, aber trotzdem ist er nicht greifbar. Soviel Sand. Unvorstellbar viel Sand. Man fühlt sich absolut verloren in dieser Wüste. Man ist selbst nur ein Korn im Wind. Ein einzelnes Sandkörnchen. Gibt es eigentlich mehr Sandkörner auf der Erde als Sterne im Universum?
„Ja!“
Julia zuckt zusammen und wirbelt herum.
„Scheiße! Wo kommst du denn her?!“
Die knöchellange blau gefärbte Kleidung umspielt den Körper des stattlichen Mannes sanft. Die weite und lockere Schnittform sorgt sicherlich für eine bessere Luftzirkulation als Majikkus eng anliegende Klamotten. Die Ärmel seines Gewandes sind lang und weit. Dazu trägt er eine Art Kopftuch in dunklerem Blau, das mehrfach in einer auf den ersten Blick undurchschaubaren Technik über Kopf und Gesicht gewickelt ist.
„Ich wohne hier“, antwortet der Mann brav.
„Du warst vor ein paar Sekunden jedenfalls noch nicht hier. Und wieso sprichst du eigentlich deutsch?“, schimpft Julia weiter.
„Ich hoffe doch sehr, dass diese Sprache in der Sahara nicht verboten ist, junge Frau“, sagt der Mann in einem ruhigen Tonfall und einer angedeuteten Verbeugung.
Julia kann sich dem höflichen Auftreten des Wüstensohns nicht länger entziehen. Der Schreck hat sich auch so langsam aus ihren Gliedern zurückgezogen und so schafft sie es, ein deutlich freundlicheres Gesicht aufzusetzen. Eigentlich ist der seltsame Scheich sogar amüsant.
„Entschuldige bitte meinen Anfall, aber du hast mich fürchterlich erschreckt“, versucht sie ihr Verhalten zu erklären. „Du wohnst hier? Bist du ein Beduine?“
„In dieser Gegend gehören die ansässigen Menschen eher zu den Tuareg, einem Berbervolk. Sie sind keine Araber. Und eigentlich wohne ich nicht ausschließlich hier, sondern überall auf der Welt und habe mich für unser heutiges Treffen nur wie ein Tuareg gekleidet, liebe Julia.“
„Ähhhhh. Ohhhhh. Du bist…, ich meine…, ähhhh – La Sola?“
Der Tuareg lacht herzhaft und Julia steht im Sand und weiß nicht recht, ob sie einfach mitlachen oder sich zu Boden werfen soll.
„Du bist selbst La Sola, meine Liebe. Schließlich bist du die Magische, oder etwa nicht?“
„Ja, nein, also schon…., du verarscht mich doch. Du bist La Sola. Also weißt du genau, was Majikku getan hat. Ihr seid Eins.“
„Erwischt, schöne Frau. Komm zu mir“, gibt der Wüstenbewohner unumwunden zu, geht mit ausgebreiteten Armen auf Julia zu und beugt sich tief zu ihr hinunter, um die zierliche Asiatin in die Arme zu schließen, in deren Gestalt Julia heute unterwegs sein darf. „Nun schlage ich aber vor, dass wir in eine etwas kühlere Gegend dingsen. Einverstanden, Madame?“
„Okay, zieh dich schon mal um“, frotzelt Julia und wünscht sich nach New York. Den großen Apfel wollte sie schon immer mal bereisen und noch nie hat es sich ergeben. Heute ist ihr Tag.
Eine Sekunde später sind beide dort. Der Tuareg ist einfach mitgesprungen. Jedoch ist er kein Tuareg mehr. Sommer in NYC und ihr Begleiter präsentiert sich als äußerst gut gebauter Riese mit rotbrauner Haut und zwei stylisch eingeflochtenen Vogelfedern in seiner langen schwarzen Mähne. Ein Riese, der oberhalb einer zerrissenen Jeans ein echt heißes Muskelshirt zur Schau stellt, welches seinen Namen auf diesem Körper tatsächlich verdient.
Julia schaltet sehr schnell und ruft entzückt: „Twocloud! Du bist Twocloud! Dich kann ich auch sehen. Das ist ja Wahnsinn.“
„Immer langsam mit den jungen Pferden. Du bist nicht Julia – vergiss das nicht. Du bist Majikku. Sie kann mich sehen. Sie lässt dich daran teilhaben.“
„Ja. Klar. Tut mir leid. Ich…, fühle mich so Zuhause hier drin und habe echt nicht daran gedacht.“
„Da muss dir gar nichts leid tun, Julia. Du hast dich wunderbar unter Kontrolle. Und Majikku hatte genau das im Sinn, als sie dich eingeladen hat. Wir sollten uns treffen. Aber wir sollten nicht den ganzen Tag hier in dieser stinkenden Gasse herumstehen. Lass uns losziehen.“
Julia klatscht in die Hände. „New York, wir kommen! Halt dich fest! Wo fangen wir an, großer Krieger?“
Twocloud lächelt verständig und bemerkt beiläufig: „Dir ist schon klar, dass uns keiner sehen kann, oder.“
„Nnnnnnnnnnein, nicht wirklich. Ich meine, jetzt schon, aber auch daran hatte ich nicht gedacht. Mal wieder ins Fettnäpfchen getreten. Ich würde keinen guten Engel abgeben, befürchte ich.“
„Du hättest es schon früh genug gemerkt, wenn jemand durch dich durch gelaufen wäre. Claude hat jedenfalls ein ziemlich bescheuertes Gesicht gemacht, als ich mit ihm durch eine geschlossene Tür gegangen bin.“
Julias Gesicht hellt sich merklich auf als sie professionell feststellt: „Das ist dieses Raumzeitding, stimmt’s.“
„Für das Raumding hast du ja schon gesorgt, aber du hast recht; das Zeitding habe ich noch dazu spendiert. Schau dich um.“
Zum ersten Mal seit sie hier gelandet sind, nimmt Julia die Stadt wahr. Riesige Straßenkreuzer cruisen über die Fahrbahn und am Himmel dröhnt ein viermotoriges Propellerflugzeug über sie hinweg. Eine Harley poltert lautstark vorbei und der Fahrer trägt Jeans und ein T-Shirt. Was er über seinen langen lockigen Haaren nicht trägt, ist ein Helm. Die flanierenden Damen zeigen schicke Frisuren im 70er Jahre Stil und da Julia fest davon ausgeht, nicht live im Musical ‚Hair‘ zu Gast zu sein, bleibt nur eine Erklärung. Twocloud hat an der Uhr gedreht.
„Ist es nicht total öde, nie gesehen zu werden?“, fragt Julia ihren Begleiter, während sie sich in der bunten und lebendigen Welt einer längst vergangenen Zeit umschaut. Sie fühlt sich ausgeschlossen von den vielen wunderbaren Menschen um sie herum und kommt sich vor wie ein nutzloser Schatten. „Du bist der Schöpfer, Twocloud La Sola. Ich bin sicher, dass du dich all deinen Kindern zeigen könntest, wenn du es wolltest. Du hast die Regeln geschrieben.“
„Ich darf nicht gesehen werden, liebe Freundin. Dann würde ich mein Ziel verfehlen. Nur einige wenige Ausnahmen gestatte ich mir. Ich habe euch nach meinem Bilde geschaffen, heißt es. Das ist nicht wörtlich zu verstehen, denn ich bin unfassbar für euch. Aber ich habe euch mit allem versehen, was ihr braucht. Jede Eigenschaft, die ihr benötigt um die notwendige Reife zu erlangen, steht euch zur Verfügung. Ich habe euch aus mir geformt und euch jede meiner eigenen Begabungen mit auf den Weg gegeben. Nicht jedem von euch, aber euch allen. Ihr seid fähig, den Weg zu gehen. Doch ihr müsst diesen Weg alleine finden und bis zum Ende durchhalten. Wenn ich eure Probleme für euch löse, werdet ihr verkümmern anstatt aufzusteigen. Jeder Vater will seine Kinder groß werden sehen. Er berät sie gerne, doch er zwingt sie zu nichts. Ich habe geduldig zuzusehen wie ihr meine Fähigkeiten nutzt, um euch selbst zu helfen. Nur selten erlaube ich mir, euch auf die Schulter zu tippen und euch zu fragen, ob ihr sicher seid, bei dem was ihr tut.“
Julia schlendert zu einer Bank hinüber, die vor einer Hecke aufgestellt ist und Twocloud folgt ihr langsam. Beide setzen sich und schauen auf das bewegliche Bild aus der Vergangenheit. „Haben wir diesen Weg gefunden, La Sola? Den Weg, der uns weiterbringt?“
„Die Menschen tun sich schwer, neue Wege zu gehen. Viele von ihnen würden einen neuen Weg nicht einmal erkennen, wenn sie mittendrauf stehen. Aber Menschen wie du und Claude und noch ein paar weitere machen mir Mut. Du musst wissen: Ihr werdet euch nicht im Gleichschritt aufschwingen. Nicht jeder von euch ist bereits in der Lage, die Zusammenhänge zu sehen. Und einige, die sie sehr wohl erkennen, wollen nicht, dass jeder sie sieht, weil sie dann an Gewicht verlieren würden. Diesen Menschen müsst ihr ihre Wichtigkeit nehmen. Ihr müsst lernen, sie zu ignorieren und tatsächlich müsst ihr auch lernen, sie auszustoßen aus eurer Gemeinschaft. Sie sind nicht gut für euch. Sie sind das Böse. Das Böse findet ihr nicht in der Hölle. So ist es nicht. Das Böse findet ihr in euch selbst. Ihr müsst es akzeptieren und besiegen. Jeder für sich allein. Eure Instinkte sind nützlich, um euren Leib zu beschützen. Euer Geist aber wird euch den Weg bereiten. Das muss ein großer Teil von euch verstehen. Dabei musst du mir helfen. Du musst mir helfen, den Menschen zu helfen, dass sie ihren Wert erkennen. Selbsterkenntnis. Du erinnerst dich?“
Julia schließt die Augen und greift zur Seite. Ohne zu zögern findet sie zielsicher Twoclouds Hand. Ihr Gefühl hat ihre Hand zu seiner Hand geführt. Ihre Finger fügen sich ineinander. Zwischen ihnen beiden fließt keine Energie, wie sie es bei Becci erlebt hat. Denn sie beide sind La Sola. Physen des großen Geistes. Zu allem fähig und doch wissend, dass sie das große Ganze nicht verändern dürfen, um nicht alles geplante zunichte zu machen. Im Moment dieser Erkenntnis sieht Julia, zu Gast im Körper Majikkus, durch deren göttliche Augen die Menschen auf der Straße in einem völlig anderen Licht. Sie sieht deren Seelenaufgaben. Sie spürt, was noch vor ihnen liegt. Sie fühlt, wer seine Aufgaben bereits erfüllt hat und zur Unterstützung noch bleibt. Sie kennt jeden dieser Menschen besser, als jeder dieser Menschen sich selbst kennt. Wirklich jeden. Im selben Augenblick. Und sie erkennt noch mehr. Über die Menschen hinaus. Alles um sie herum kommuniziert mit ihr. Es ist so viel. Von einem Moment auf den nächsten ist der Spuk vorbei.
„Du bist erschöpft, Julia. Kaum ein Mensch ist so stark wie du. Doch nun ist es genug. Ich werde Claude und dich irgendwann einmal abholen. Ihr sollt meinen Weg aus dem Ursprung kennenlernen. Dann werdet ihr euren Ursprung besser verstehen können. Ihr seid meine Kinder. Ich habe euch gezeugt. Es war meine Entscheidung. So, wie es eure Entscheidung war, euer Kind zu zeugen. Ihr habt euer Kind nicht gefragt, ob es gezeugt werden möchte. So, wie ich euch nicht gefragt habe. Wie auch. Hab ein wenig Geduld, liebe Freundin.“
Julia hat geduldig zugehört. Twocloud hat vollkommen recht. Tatsächlich hat es sie erschöpft, an dieser göttlichen Wahrnehmung der Schöpfung nur eine Sekunde lang teilhaben zu können. Sie ist absolut platt. Eine bleierne Müdigkeit fällt auf sie herab. Sie muss einen Moment lang die Augen schließen. Nur ein paar Sekunden.
„Schön, dass sie Twocloud kennengelernt hat. Er war mir ein guter Lehrer“, spreche ich aus, was ich auch wirklich denke. „Twocloud-Sensei“, füge ich noch an und muss grinsen.
„Wobei…“, muss ich nochmal anfügen, „…ich mich noch ein wenig schlau gelesen habe, was die japanischen Namenszusätze angeht. Da habe ich gefunden, dass Mädchen vom Kindergarten bis ins hohe Alter mit dem Zusatz ‚Chan‘ angeredet werden, aber Jungs früher oder später eher mit ‚Kun‘ angesprochen werden. Du hast mich aber ebenfalls ‚Chan‘ genannt.“
„Japanische Höflichkeitsformen sind tatsächlich ziemlich kompliziert“, antwortet Majikku und wiegt dabei ihren Kopf hin und her. „Ich kenne dich von deiner Geburt an. Wir sind also sozusagen Sandkastenfreunde. In einem solchen Fall kann ich weiterhin das vertraute ‚Chan‘ anwenden, auch wenn du ein Junge bist. Dass du mich genau genommen noch nicht solange kennst wie ich dich und ich eine etwas andere Art von Mensch bin, haben die Begründer der japanischen Kultur anscheinend nicht auf dem Schirm gehabt.“
„Eine besondere Art von Mensch bist du allerdings, meine magische kleine Kindergartenfreundin. Ich habe noch Kohldampf. Machst du mit, Majikku-Chan?“
„Ich kann dich doch nicht allein futtern lassen. Das lässt die japanische Höflichkeit auch gar nicht zu. Wozu sind Freunde denn sonst da.“
Die Einzige wird dich leiten – La sola gvidos vin
#lasolagvidosvin – #lasolaicu
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- 5b Geld macht nicht glücklich
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