07a Über Menschen, Tiere und Speisevorschriften

Wenn du mittendrin anfängst, verstehst du nicht alles: Beginne lieber am Anfang.

Es ist Sonntag. Ein schöner sonniger Frühlingssonntag. Das gefällt mir. Endlich Wochenende. Ich genieße die durchaus schon wärmenden Sonnenstrahlen, habe zwei Gartenstühle auf die Wiese am Haus gestellt und es mir in einem davon so richtig gemütlich gemacht. Meine bessere Hälfte ist noch unterwegs und so gebe ich mich meinen Gedanken hin. Die Luft riecht nach dem nahenden Sommer. Vielleicht bilde ich mir das aber auch nur ein. Vor meinen Füßen liegt eine Gummikarotte, die darauf wartet, geworfen zu werden. Das erwartet zumindest mein Hundemädchen, die mit einem Steh- und einem Schlappohr vor mir sitzt und das bunte Vogelgezwitscher mit einem geduldigen Hecheln untermalt. Sie ist sechs Jahre alt, heißt Amanda und eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen ist es, genau diese Karotte vor meine Füße zu schmeißen, damit ich sie zum hundertsten Mal wieder wegwerfe. Sie hieß schon so, als wir sie aus dem Tierheim geholt hatten und dabei, oder der Kurzform Mandy, haben wir es auch belassen. Jetzt stellt sie auch das zweite Ohr auf, was ein sicheres Zeichen dafür ist, dass sie wirklich dringend etwas von mir erwartet. Also greife ich zur Karotte und tu ihr den Gefallen. Die Karotte schießt von dannen, Mandy schießt hinterher. Ich schließe die Augen und höre mir das vorübergehend hechelfreie Pfeifkonzert der Vogelschar an. Es klingt manchmal wie ein Frage-und-Antwort-Spiel in Stereo. Es ist sehr entspannend zuzuhören…

…dem Zwitschern folgen, wie es hin und her läuft…

…einfach seinen Gedanken nachhängen…

…in entspannenden Erinnerungen schwelgen…

…an den ruhigen See zusammen mit Claudia…

…an Cassandra und die einsame Sonneninsel…

…an das Knistern des Feuers in der Wüste mit Isaak…

…wirklich sehr entspannend…

…zu entspannend, wie mir nach einer Weile scheint, als ich zu meiner linken Seite raschelnde Geräusche und das schwungvolle Sausen der Luft höre, dass entsteht, wenn die Karotte ‚abgeschossen‘ wird. Direkt anschließend erfolgt, wie erwartet, der Spurt von vier Pfoten, von Null auf Hundert in weniger als 3 Sekunden. „Ich habe gar nicht bemerkt, dass du schon da bist, Schatz“, gähne ich herzhaft hervor.

„Das macht doch nichts, Liebling“, höre ich von der Seite und erstarre für den Bruchteil einer Sekunde, als ich die Stimme erkenne. Ich denke einen Moment nach und erwidere mit einer mich selbst überraschenden Seelenruhe: „Hast du einen leckeren Latte Macchiato von drinnen mitgebracht, meine Hübsche?“

Es lacht spontan neben mir, aber die Antwort folgt auf dem Fuße: „Aber natürlich, mein Herzallerliebster. Ich kenne doch deine Vorlieben.“

Langsam öffne ich die Augen und tatsächlich stehen auf dem kleinen Gartentisch vor uns zwei Gläser des köstlichen Stoffs. „Du bist so eine verrückte Nudel, Cassie“, sage ich lächelnd und schwinge mich aus meinem Stuhl, um sie zu begrüßen. Auch Cassandra steht auf und wir nehmen uns in die Arme. Es fühlt sich wunderbar an, wie jedes Mal. Ihre Kraft, ihre Energie zu spüren ist unbeschreiblich. Ein Teil davon fließt auf mich über und sorgt dafür, dass ich mich wie aufgeladen, wie regeneriert fühle.

„Du siehst gut aus, mein lieber Freund“, sagt sie, als wir uns an den Händen haltend gegenüberstehen und zeigt ihr gewinnendes Lächeln mit den strahlend hellen Zähnen, die einen starken Kontrast zu ihrer dunklen und im Sonnenlicht leicht glänzenden Haut bilden. „Das kann ich nur zurückgeben, Cassandra.“

„Entschuldige den Überfall und meinen kleinen Spaß, Claude, aber es bot sich einfach an. Der Latte ist übrigens echt… und er ist lecker. Wir sollten ihn nicht kalt werden lassen.“ Mit diesen Worten dreht sie sich mit der ihr eigenen Eleganz wieder zum Stuhl, wobei ihre luftige Kleidung aus einer silbergrauen Hose und einer farblich angepassten aber mit glänzenden Fäden durchwirkten Bluse, ihr leicht verzögert nachweht und setzt sich nieder. Ihr Haar, wie beim ersten Treffen dicht und tiefschwarz und beinahe unirdisch glatt, schimmert, wie ihre ganze Erscheinung, im Licht der Sonne.

Auch ich setze mich wieder in meinen Stuhl und schnuppere genussvoll an meinem Getränk. „Ist der echt aus unserer Maschine?“, frage ich sie, „oder hast du ihn als ‚Coffee to Earth‘ mitgebracht?“

Sie lacht auf und setzt ein wissendes Lächeln auf: „Das wirst du niemals erfahren. So, wie das mit dem Pavillon am See.“

„Hauptsache, er schmeckt“, bemerke ich pragmatisch und sehe zu, wie Mandy ihre Karotte vor Cassandras Füße legt und sie wartend ansieht. Die lässt sich auch nicht lange bitten, greift beherzt zu und wirft das Ding mit professionellem Armschwung bis zum Ende der Wiese, ganz zur Freude des Vierbeiners.

„Du hast ‘ne neue Freundin, glaube ich. So schnell wirst du sie nicht mehr los“, feixe ich ihr zu.

„Oh, das ist okay“, meint sie dazu, „Wir beide haben uns schon eine ganze Weile gut beschäftigt, Mandy und ich.“

„Na, das ist doch schön, dass die beiden Damen sich amüsieren…“

„Während der Hausherr den Schlaf des gerechten feiert, nicht wahr, Mandy?“, fällt sie mir ins Wort. Mandy setzt sich demonstrativ an Cassies Seite und lässt die Zunge seitlich aus dem Maul hängen.

„Super, ihr habt euch verbündet, stimmt’s?“, fällt mir zu diesem Bild nur noch ein. Cassie lächelt und greift zum Glas, um sich auch einen guten Schluck des Kaffeegetränks zu gönnen.

„Du, Cassandra?“

„Mmmh?“

„Sie kann dich sehen, riechen und fühlen, oder?“ frage ich sie spontan, als mir der Sinn ihrer Aussage langsam bewusst wird.

„Na klar, kann sie mich sehen. Sie ist ein Hund“, lautet wie selbstverständlich die Antwort.

„Logisch“, sprudelt es aus meinem Mund, „dass ich da nicht selbst drauf gekommen bin“, verspotte ich mich selbst. „Jeder Hund kann dich wahrnehmen?“, frage ich aber zur Sicherheit noch einmal nach.

„Eigentlich schon“, bestätigt Cassie, „Sehr viele höher entwickelte Tiere nehmen mich wahr. Nur bei den Superaffen dieses Planeten klappt das nicht sehr gut. Wie hießen die doch gleich…? Ach ja, Menschen.“

„Warum ist das so? Was ist mit der Größe dieses Splitters?“ Mein Gesicht muss Bände sprechen, denn sie beginnt zu Grinsen.

„Nun sei nicht neidisch, du Superaffe“, veralbert sie mich, „ihr habt einen seltsamen Entwicklungspfad genommen, ihr Menschen. Ihr habt sinnvolle Instinkte verloren, die von Vorteil für euch gewesen wären.“ Sie schaut mich beinahe mitleidig an. „Gleichzeitig habt ihr andere, für Lebewesen eurer Entwicklungsstufe nachteilige, Instinkte beibehalten. Das ist recht selten, bietet aber durchaus ein starkes Potential. Die Menschen machen fünf Schritte, wo andere nur einen machen, laufen aber sehr oft mit Schwung vor die Wand.“ Jetzt wirkt sie wie eine Mutter, die von ihrem ungestümen Kind redet, „…und ihr spuckt euch bei jeder Gelegenheit selbst in die Suppe.“ Sie löst sich von ihren Gedanken und sieht mich wieder mit klarem Blick an: „Das werden wir bei Gelegenheit noch vertiefen. Aber für den Moment: Deine Mandy sieht mich, dein Nachbar, dort drüben, sieht mich nicht.“

„Dann bin ich jetzt schon sehr gespannt auf dieses Gespräch“, lenke ich ein, „Aber wo wir gerade bei Tieren sind: Darf ich dir nochmal ein paar Fragen zu den alten Schriften stellen?“

„Dein Lieblingsthema?“ fragt sie und stellt das Glas ab, „Die alten Schriften, in denen du gerade herumstöberst? Dann mal zu“, fordert sie mich auf und sieht mich mit ihren unendlich tiefgründigen und fesselnden Augen abwartend an.

„In einigen Schriften sind Speisevorschriften erwähnt, nach denen die Gläubigen sich richten sollen“, wage ich meinen Vorstoß.

„Stimmt. Hast du diese Stellen denn alle richtig verstanden?“, lautet die Gegenfrage.

„Eigentlich ist da für mich gar nichts ganz klar ersichtlich. Wie so oft bei diesen Büchern“, muss ich ehrlicherweise einräumen. „Es wird aber nun einmal so gelebt. Hast du damit etwas zu tun, oder ist das auch wieder so ein ‚Menschending‘?“

Sie wiegt langsam ihren Kopf hin und her. „Nein, das nicht. Ich denke, dazu habe ich durchaus einiges beigetragen. Die Menschen verfügten in diesen Zeiten über kein Wissen zu Keimen, Bakterien oder Sporen. Sie sollten aber trotzdem keinen vermeidbaren Schaden nehmen. Also habe ich ihnen gesagt, welche Nahrungsmittel die größten Risiken mit sich bringen.“ Sie nimmt noch einen Schluck vom Kaffee.

„Damit sie nichts verdorbenes essen, verstehe“, bemerke ich kurz und nehme ebenfalls mein Glas in die Hand.

„Genau. Heute kennt ihr alle diese Erreger und ihr wisst auch, unter welchen Bedingungen sie ein Risiko darstellen. Für uns beide ist das also eigentlich kein großes Thema mehr.“

„Musstest du da auch wieder Unterschiede beachten?“, frage ich weiter, denn ich habe ja bei Isaak etwas über Genetik gelernt. „Wie bei der Kleidung, meine ich? Rasse, Klima und so?“

„Zur Rasse nicht“, winkt sie ab, „Da seid ihr alle ziemlich gleich. Beim Klima schon, da liegst du richtig. Auch die Region und das Umfeld waren wichtig. Deshalb gab es auch verschiedene Versionen dieser Empfehlungen…“

„Ich kenne eigentlich nur Auslegungen der drei Schriften, die allesamt ‚aus der Wüste‘ stammen“, muss ich gestehen.

„Die wurden auch von Schreibkundigen notiert, die es damals nicht überall gab. Hauptsächlich dadurch haben sie die größte Verbreitung gefunden“, klärt sie mich auf. „Aber es gab schon mehrere Varianten, denn an verschiedenen Orten gibt es natürlich auch viele verschiedene Lebensmittel. Sowohl tierische als auch pflanzliche. Ihr braucht ja beides für eine ausgewogene Ernährung, also durfte ich eure Raubtier-Vergangenheit nicht einfach ausschließen.“

„Raubtier…? Wie klingt das denn…?“, rümpfe ich die Nase und spiele den Beleidigten.

„Ist ja nun mal so“, erklärt sie grinsend und faucht mich mit zur Kralle geformter rechter Hand an. „Über diesen Weg seid ihr nun einmal gekommen. Aber in vielen eurer Gemeinschaften hat sich in jüngster Zeit ja auch ein vegetarischer oder sogar veganer Ernährungsstil ausgebreitet, was durchaus zu begrüßen ist. So muss kein Lebewesen mehr sterben, um auf dem Teller zu landen. Du kennst ja meine Meinung zum Leben als solches.“

„Da sagst du was. Ich habe sogar gelesen, dass einige Menschen von Pflanzen nur noch die Früchte, Blüten oder abgeworfene Teile essen, damit keine komplette Pflanze getötet werden muss.“

„Okay, diese Menschen wollen damit sicherlich ihren tiefsten Respekt vor dem Leben Ausdruck verleihen. Aber bei jedem alternativen Ernährungsstil gilt: Man muss darauf achten, dass die Versorgung mit allen nötigen Nährstoffen stimmt. Das ist extrem wichtig. Sonst bringt das nichts. Der totale Verzicht ist nicht immer die beste Lösung. Ihr müsst euch eurer Natur bewusst sein, auch das gehört zur Selbsterkenntnis. Seine Herkunft vor sich selbst zu verschweigen, ist Selbstbetrug.“

Sie schaut mich an und nimmt einen Schluck Kaffee. Ich nutze die Pause für eine Anmerkung: „Das Raubtiererbe? Ich bin kein Vegetarier. Dann bin ich halt ein Raubtier. Trotzdem kann ich doch dafür Sorge tragen, dass Nutztiere nicht gequält werden, oder? Ich fahre auch nicht mit dem Auto durch die Wildnis und knalle alles ab, was nicht bei drei auf dem Baum ist. Ich bin kein Killer. Ich muss nicht jeden Tag ein Steak essen. Das will ich gar nicht. Das ist tatsächlich ein schwieriges Thema. Ich würde aber auch nie auf die Idee kommen, einen Vegetarier für bekloppt zu halten.“

Diesmal nutzt Cassie meine Atempause aus: „Ich sehe das so: Wenn gerade die Menschen, denen bewusst ist, dass Raubbau der falsche Weg ist, durch Mangelerkrankungen ausfallen oder früh sterben, wer soll dieses Bestreben dann vorantreiben?“

„Das ist natürlich richtig“, muss ich zugeben, „Aber es gibt heute auch schon viele vegetarische oder vegane Lebensmittel im Handel. Da sollte eigentlich doch alles drin sein, was man als Mensch so braucht.“

Cassandra lacht laut auf. „Claude, mein Lieber. Hast du eine Ahnung, wie viele Leute tatsächlich ein fundiertes Wissen über Ernährung besitzen? Menschen, die aus innerer Überzeugung auf tierische Produkte verzichten, aber auch wissen, was sie da tun? Kaum jemand. Die Mehrheit eurer jungen wilden Veganer rennt eigentlich nur einem Hype hinterher. Die wissen doch noch nicht einmal, welches Grünzeug vom heimischen Wegesrand sie essen dürften, ohne sich selbst zu vergiften. Aber sie wollen vegan leben. Dieser Hype wird übrigens durch die Industrie auch noch angefeuert. Die stecken Millionen in die Werbung und wollen Milliarden verdienen. In etlichen dieser vegetarischen und veganen Lebensmittel sind Inhaltsstoffe verbaut, die äußerst bedenklich sind.“

„Bedenklich? In diesen industriell hergestellten Produkten?“

„Ja, genau. Da werden Rezepte designt, die mit Natur nichts mehr zu tun haben, aber alles ist ‚natürlich‘ vegan. Logisch. Plastik ist auch vegan. Dazu kommt dann, dass die Vorschriften für die Angaben zu den Inhaltsstoffen, die eure gesetzgebende Politik sich ausgedacht hat, mehr am Umsatz der Industrie als am Wohlergehen der Kundschaft orientiert sind. Weißt du, was ich meine?“

Sie schaut mich kurz fragend an, fährt aber, ohne eine Antwort abzuwarten, weiter fort: „Alles könnte so einfach sein. Ohne seitenlange Nonsens-Verordnungen. Wenn die Nährstoffversorgung nur gelingt, indem Tiere oder zumindest tierische Produkte verspeist werden, dann ist es halt so. Auch eure Vorfahren haben das so gemacht und trotzdem haben sie das Leben geachtet. Und zwar oft mehr als ihr modernen, aufgeklärten, mitleidenden Menschen.“

„Aha? So wie die Indianer?“, fällt mir dazu sofort ein, „Nur töten, was man zum Überleben braucht?“

„Ziemlich genau so“, bestätigt sie meinen Einwurf, „Obwohl die Indianer lange nicht die ersten waren, die so lebten. Aber das kannst du natürlich schlecht mit eurer hochspezialisierten Zivilisation vergleichen. Wer von euch jagt denn noch?“, fragt sie in meine Richtung, zieht die Schultern hoch und hält die Handflächen nach oben.

„Stimmt“, sage ich, „bei uns werden Nutztiere direkt für den Verzehr gezüchtet. Der Mensch geht nur noch in den Laden und kauft sein Steak.“

„Aber auch ohne selbst zu jagen, habt ihr Einfluss auf die Aufzucht der Tiere. Du hast es ja vorhin schon angesprochen: Unter welchen Umständen wurde das Tier aufgezogen? Hatte es ein zufriedenes Leben? Hat es gelitten? Während seines Lebens, bei seiner Tötung? Diese Umstände sollten deklariert werden müssen. Damit ihr im Geschäft beim Kaufen eine Wahl habt.“

Man spürt, dass dieses Thema ihr sehr wichtig ist, denn während ihres Referats ist sie immer ein wenig lauter geworden. „Man kann vieles falsch machen und nur weniges richtig, weißt du? Ein Leben in Freiheit oder im Verschlag? Leckeres Futter oder Nährstoff? Stundenlange Transporte auf Lastwagen? Unter Stress in Tötungsstationen hineintreiben? Muss das sein? Sekunden der Qual können als Ewigkeit wahrgenommen werden.“ Um sich zu besinnen, hält sie sich an ihrem Kaffee fest.

„Stunden des Glücks verfliegen einfach so. Minuten des Leidens scheinen nie vorüber zu gehen“, sage ich halb in Gedanken.

Erst nachdem sie noch ein paar weitere Sekunden ihren Kaffee angestarrt hat, schaut sie wieder hoch: „Du hast ja eine poetische Ader, Claude“, lächelt sie mich an. Zumindest hat meine Pseudopoesie ihr ein wenig geholfen, wieder ruhiger zu werden. Und so spricht sie dann auch weiter: „Mit deinem kleinen Spruch hast du es im Grunde erfasst. Ein gezüchtetes Nutztier muss kurz und schmerzlos getötet werden. Wenn Zweifel bestehen, dass das aus irgendwelchen Gründen nicht klappt, muss es zuvor betäubt werden. Das Tier darf seinen Tod jedenfalls nicht bewusst erleben oder im Todeskampf leiden. Darauf solltet ihr achten, wenn ihr ‚euer Steak kauft‘, wie du gerade so schön sagtest.“

„Wenn diese Biosteaks von glücklichen Rindern nur nicht so viel teurer wären…“, werfe ich an dieser Stelle beiläufig ein.

„Und da ist es wieder!“, kommt triumphierend aus ihrem Mund, „euer tolles Geld, was so viel Leid bringt und euch trotzdem so lieb und teuer ist.“

Ein wenig deprimiert seufze ich hervor: „Ich habe noch immer nicht die leiseste Ahnung, wie ich den Menschen beibringen soll, darauf zu verzichten.“

„Aufs Steak?“, wirft sie leise ein.

„Verarsch’ mich nur“, schmolle ich.

„Entschuldige. Ich versteh’ dich ja. Sieh es einfach so, Claude: Steter Tropfen höhlt den Stein. Das mit dem Geld geht nun mal nicht von heute auf morgen. Ihr seid schon viel zulange darin gefangen.“

„Ja, so ist das nun mal. Aber ich arbeite daran. Nochmal kurz zum Nutztier: Hast du bestimmt, dass Tiere geschächtet werden müssen?“

„Nein, habe ich nicht“, antwortet sie, ohne zu zögern, „Das war aber damals, bei großen Schlachttieren, die Standardmethode, denn man kann einem großen Tier schlecht das Genick brechen oder es durch Nackenschlag töten. Und elektrische, pneumatische oder sonstige Gerätschaften gab es damals noch nicht.“

„Natürlich nicht. Aber warum hast du es dann überhaupt angesprochen?“

„Wenn sie es schon so machen, war mir wichtig, dass sie es richtigmachen. Eben so, dass die Tiere nicht leiden müssen“, erklärt sie mir, „noch wichtiger war mir aber, dass die Tiere sehr schnell ausbluten. Blut ist ein idealer Nährboden für vielerlei Krankheitserreger. Gerade in warmen Regionen. Außerdem ist das Fleisch nach dem Ausbluten deutlich länger haltbar. Aber das alles ist tausende von Jahren her.“

„Also ist Schächten keine Gottesregel?“, versichere ich mich.

„Nein, ist es nicht“, bestätigt sie und schüttelt den Kopf, „Ich wollte mit meinen Hinweisen auch noch verhindern, dass irgendwelche Deppen verendete Tiere am Wegesrand aufsammeln und dann auf den Speiseplan setzen. Sie sollten nur essen, was sie selbst frisch erlegt haben.“

„Also alles Vorsichtsmaßnahmen?“

„Genau. Und natürlich handwerkliche und moralische Hinweise, so im Sinne von: Das Töten muss schnell gehen, um Leid zu vermeiden. Habt Respekt vor dem Tier, welches stirbt, um euch das Leben zu ermöglichen. Ich habe lange zuvor auch schon darauf hingewiesen, dass nicht nur die Menschen, sondern auch die Tiere meine Geschöpfe sind und eine Seele haben“ Sie schaut mich wieder direkt an und ich bemerke, dass sie sich um einen sachlichen Gesichtsausdruck bemüht. „Ihr seid nun mal Raubtiere und das könnt ihr in ein paar hundert Jahren auch nicht ändern. Ob nun aber ein Schnitt durch die Kehle oder ein Stich ins Herz oder ein Kopfschuss die beste Methode ist, ein Tier umzubringen, mag ich für euch nicht bestimmen.“

„Und ich soll jetzt für meine Schrift die beste Methode selbst auswählen? Vielen Dank.“

„Frag dich doch selbst einmal, ob du lieber durch einen Kopfschuss oder einen Schnitt durch die Kehle sterben möchtest und ob du dabei lieber wach oder betäubt sein willst. Sei ehrlich zu dir. Was du für dich selbst als schnellen und gnadenvollen Tod wählen würdest, solltest du auch für ein Tier wählen.“

Manchmal will sie mir ganz offensichtlich nicht aus der Klemme helfen. „Na, Mahlzeit. Wer macht sich denn Gedanken darüber, wie er am liebsten umgebracht werden möchte?“, halte ich an dieser Stelle etwas ernüchtert fest.

„Die meisten von euch sicherlich nicht“, sagt sie, wie in Gedanken versunken, und zieht die Mundwinkel schief. „Die kaufen im Supermarkt ihr Steak und verdrängen zu Gunsten ihres eigenen Seelenheils lieber komplett, dass ihr Grillgut vor kurzem noch Gras gefressen hat.“

„Anderen wiederum sind die Leiden von Tieren einfach nur egal“, leide ich mit ihr. Manches auf diesem Planeten ist wirklich zum… lassen wir das.

„Ja, die gibt’s auch.“ Dann hebt sie ruckartig ihren Kopf: „Arbeitet doch lieber daran, euer Steak im Labor zu züchten. Ganz ohne Tier drum herum. Da läuft doch schon was. Wenn man dieses Thema ohne Profitgier und genetische Hintergedanken anfassen würde, könnte es sogar ohne ethische und moralische Klimmzüge hinhauen. Und bis es soweit ist, denkt weiter darüber nach, wie ein Schlachttier am wenigsten leidet. Das werdet ihr doch wohl hinkriegen, oder?“

„Hmm, hier muss ich noch einen langen Kampf gegen genau diese Profitgier ausfechten. Forschung kostet Geld und viele Großbetriebe interessiert das einzelne Tier einen Dreck.“

„Ich werde jetzt nicht wieder über Geld sprechen“ sagt sie und schwenkt den Zeigefinger hin und her, „es ist müßig.“

„Aber im Hier und Heute gibt doch auch Fälle, wo tatsächlich noch gejagt wird. Was kann ich dazu schreiben?“

„In freier Wildbahn muss natürlich der Jäger selbst dafür sorgen, möglichst schnell den Tod des Beutetieres herbeizuführen. Das ist klar“, hierbei tatscht sie mit den Spitzen ihrer gespreizten Finger auf die Tischplatte. „Ein versehentlich nur verletztes Tier muss unverzüglich den Gnadenstoß erhalten“ Die nächsten fünf Fingerspitzen stupsen auf den Tisch. „Der Todeskampf darf nie in die Länge gezogen werden…“

Unvermittelt zieht sie ihre Hände hoch und legt sie zusammen. „Ach, weißt du was? Wir beide gehen jetzt zusammen auf eine kleine Reise.“

„Soll ich jetzt Klamotten einpacken, oder wie meinst du das?“

„Nein. Setzt dich wieder hin. Reich mir deine Hände und pass auf: Claude, das ist eine neue Erfahrung für dich. Du wirst in das Leben eines jungen Mannes eintauchen. Du fühlst, was er fühlt. Du nimmst seine Wahrnehmungen auf, als wenn es deine wären.“

Ich reiche ihr meine Hände und höre gebannt weiter zu. „Du siehst durch seine Augen, hörst mit seinen Ohren, fühlst alles mit seinem Körper. Du bist aber nur ein Gast. Du hast keinen Einfluss auf ihn und er weiß auch nicht, dass du bei ihm bist. Bist du bereit?“

„Ist das dein Ernst?“, frage ich sie total entgeistert…

„Absolut. Du kannst nicht eingreifen, auch wenn’s brenzlig wird. Du bist aber nicht in Gefahr. Nur deine Sinne sind bei ihm, dein Körper ist hier in Sicherheit. Traust du dich?“

Ich verarbeite noch, was ich soeben gehört habe, aber ich vertraue ihr blind: „Okay.“

Sie lächelt wissend, zwinkert mir zu und sagt: „Schau in meine Augen.“

Ich werfe noch einen Blick auf Mandy, die friedlich im Gras liegt und schläft, dann wende ich mich Cassie zu… suche Blickkontakt… schaue, wie schon so oft, in diese unfassbare Unendlichkeit und halte mich an ihr fest. Mit den Händen und mit den Augen klammere ich mich an ihr fest und trotzdem zieht es mich hinein in den endlosen Tunnel, der bis weit hinter ihre Augen reicht. Ich sehe ihre Augen nicht mehr, aber der Weg führt weiter. Durch rotierende leuchtende Gaswolken zieht es mich, einem Strudel gleich, in die Ferne. Das bunte Leuchten weicht einem satten Grünton. Plötzlich spüre ich Cassandras Hände nicht mehr, kann die aufkommende Panik jedoch unterdrücken, weil ich ihr grenzenlos vertraue. Stattdessen spüre ich etwas Festes in meinen Händen. Einen Stab? „Cassandra?“ frage ich…, nein…, ich denke es nur, stelle ich fest. „Sei ganz ruhig, Claude. Gleich bist du dort“, sagt eine Stimme in meinem Kopf. Cassies Stimme. Das grüne Wallen wird schärfer. Hohes Gras. Eine Steppenlandschaft. Ich nehme eine andere Stimme wahr…, Geflüster…, Gedanken…, das ist…

Kamato liegt im trockenen Gras. Er atmet kaum, denn er darf die Herde nicht verschrecken. Die großen kräftigen Tiere gehen gemächlich umher. Falls sie seine Jagdgruppe vorzeitig bemerkten, könnte es sehr schnell sehr gefährlich werden. Das ist ihm bewusst. Er hatte sich äußerst langsam immer näher herangeschlichen und wartet nun mit den anderen auf das Signal des Aufscheuchers. Das Signal der Aufscheucherin, verbessert er sich. Denn heute hat Liriss diese Aufgabe zu erfüllen und das macht ihn noch ein wenig nervöser. Er wollte sie eigentlich schon lange ansprechen, aber irgendwie hatte er noch nicht den Mut dazu aufgebracht. Sie ist eine unglaublich gute Aufscheucherin und weiß den Zeitpunkt und die Richtung ihrer Aktionen hervorragend zu bestimmen. Dazu muss sie sich jedoch zunächst an die richtige Position bringen, damit die Herde auch in die richtige Richtung flieht. Dorthin, wo Kamato und seine Gefährten warten, um ein Tier aus der Herde zu erlegen. Es durfte nicht das Leittier sein, denn dadurch hätten sie den Fortbestand der Herde gefährdet, die führungslos vielleicht zu Schaden gekommen wäre. Das durfte nicht geschehen, denn das Gesetz verlangte es von ihnen und es war ein gutes Gesetz, das jeder verstehen konnte. Doch auch ein kleineres Mitläufertier würde ausreichen, um das Dorf für längere Zeit zu versorgen. Keine zehn Meter von ihm entfernt läuft ein Muttertier mit seinem Jungen vorbei. Auch diese beiden waren natürlich tabu, das verstand sich von selbst. Lieber würden sie ohne Beute heimkehren, als eine solche Schandtat zu begehen. Es geht nie darum, einfach ein Tier zu erlegen, denn was sollten sie zukünftig jagen, wenn sie der Herde die Grundlage entzogen? Jeder von ihnen kennt die Gesetze und die Regeln der Natur und jeder von ihnen achtet sie. Jeder in seinem Dorf und auch jeder in den anderen Dörfern. Denn würden sie diese Regeln missachten, würden letztlich sie selbst darunter leiden. Jede essbare Pflanze und jedes Tier benötigen ein spezielles Umfeld. Wer diese Balance stört, kann einen Schaden anrichten, der nur sehr schwer wieder ausgeglichen werden kann. Manchmal leider gar nicht mehr. Die Gemeinschaft muss dann darunter leiden, dass einer von ihnen einen Fehler gemacht hat.

Plötzlich geht alles sehr schnell. Liriss stößt mit ihrem Gleitschirm aus den Wipfeln der Baumgruppe herab und macht laute Geräusche dabei. Sie rast von links hinten auf die Herde zu und lässt den Schirm ruckartig leicht nach rechts kippen, als wenn sie von dieser Seite angreifen wolle. Das Leittier erfasst blitzartig, aus welcher Richtung Gefahr zu drohen scheint, gibt einen Ruf ab und die Herde folgt ihm bereits in der nächsten Sekunde in die vermeintliche Sicherheit. Sowie die Herde ihre Fluchtgeschwindigkeit erreicht hat und die Richtung nicht mehr so leicht ändern kann, hat sie die Position erreicht, an der Kamato und die anderen bereits warten. Sein Herz pocht wie wild und dies erst recht, als er sieht, dass das zuvor mittels Lautzeichen ausgewählte Tier direkt auf ihn zu rennt. Für den Bruchteil einer Sekunde will er aufspringen und sich in Sicherheit bringen, aber der Gedanke erstirbt im selben Moment. Sein Herz schlägt immer noch bis zum Hals, aber eine gewisse Ruhe überkommt ihn nun. Er kennt seine Verantwortung und fasst den Stützspeer fester. Die Zeit um ihn scheint in Zeitlupe abzulaufen. Er sieht das Tier näher und immer näherkommen, denkt an die vielen Übungsstunden mit seinem Lehrer, hält die Luft an und wartet auf die richtige Zehntelsekunde. In einer fließenden und tausendfach geübten Bewegung reißt er den Stützspeer an der Lederschlaufe in die Höhe, rammt beinahe gleichzeitig den Erdspieß in den Boden und zielt mit der Speerspitze auf die Brust des Tieres. Mehr kann er jetzt nicht mehr tun.

Kamato wartet auf den Aufprall. Das Tier rennt bis zur Prallplatte in den Speer, der Erdspieß wird nach hinten gepresst, verankert sich im Boden und das gewaltige Tier wird vom eigenen Schwung über Kamato hinweggeschleudert, um dann auf dem Boden aufzuschlagen. Die folgenden Tiere laufen zwar einen leichten Bogen um die Stelle, kommen Kamato aber immer noch gefährlich nahe. Erst langsam wird die Schneise breiter, sodass er zu seiner Beute laufen und sie betrachten kann.

Er hatte gut gezielt, denn das Tier war tot. Es war sofort gestorben und das machte ihn froh. Ansonsten hätte er es jetzt getötet, um ihm Leid zu ersparen. Er fiel auf die Knie und verspürte eine große Dankbarkeit. Dafür, dass das Jagdglück auf seiner Seite war. Dafür, dass er unverletzt geblieben war. Er bedankte sich bei dem Tier und entschuldigte sich bei ihm. Er wird es ehren, denn es ermöglicht ihm und seinen Leuten das Weiterleben bei guter Gesundheit.

Am Abend auf dem Dorfplatz wurde er als großer Held gefeiert. Er wusste aber genau, dass die Jagd ohne seine Gefährten nicht möglich gewesen wäre. Die Jagd war seine Berufung, er war talentiert und hatte eine sichere Hand. Aber jeder Mensch im Dorf war wichtig und hatte seine Aufgaben. Das Beutetier war inzwischen zerlegt worden und beinahe alle Teile seines Körpers wurden für die verschiedensten Zwecke verwendet. Sein Tod soll nicht umsonst gewesen sein. Seiner Seele wurde eine gute Heimfahrt gewünscht. Hierzu wurde eine Zeremonie durchgeführt. Vielleicht begegnet man sich ja nochmal wieder. Vielleicht in einem späteren Leben. Dann sollte man sich ehrenhaft in die Augen schauen können. Wer weiß, wer dann der Jäger und wer dann die Beute sein wird. Oder sollte es ein Wiedersehen unter Gleichen werden? Direkt neben ihm sitzt Liriss und lacht ihn an. Er fühlt sich heute so gut, so euphorisch, dass er es nun wagen wird, sie anzusprechen. Heute ist sein Tag. Kamato ist glücklich.

Ich fühle warme Hände. Sie ziehen mich fort. Fort von Kamato und durch den Tunnel. Die strudelnden Farben verwischen, sie verblassen und formen sich zu Augen. Schönen Augen. Cassandras Gesicht, Cassandras Hände. Ich bin zurück. Ich sitze ihr gegenüber und bin stumm. Sie lächelt. Ich räuspere meine Stimme frei.

„Was…, was waren das denn für Tiere?“

„Du kannst sie nicht kennen. Sie sind nicht von deiner Erde.“

Ich schaue mich desorientiert um. Die Kaffeegläser sind weg. Statt ihrer steht ein Glas mit Wasser vor mir, das ich dankbar annehme. „Wow! Das war… ich weiß nicht… einzigartig?“

Noch einmal schweift mein Blick über ‚meine‘ Wiese. Dort liegt Mandy neben Cassies Füßen. Mein Blick wandert an ihren Beinen entlang ihre Gestalt hoch und findet ihre Augen. „Mir fehlen die Worte. Das war wirklich alles echt?“

„Das war das echte Leben eines echten Lebewesens, auf einer echten Erde mit echten Tieren und die echten Emotionen eines echten Jägers“, bestätigt sie lächelnd und bei jedem ‚echt‘ klopft sie mit dem Finger auf die Tischkante.

„Wirklich faszinierend, dieses… Erlebnis. Ich war… in ihm drin. Ich habe ihm…, ich weiß nicht…, beim Leben live über die Schulter geschaut?“ Ich stelle die Frage in den Raum und erwarte nicht, dass sie mir antwortet. „Das ist Wahnsinn. Ist es das, was du tagsüber so machst?“

Sie lacht glockenhell auf und grinst mich breit an: „Aber nur dann, wenn ich nicht gerade Golf oder Tennis spiele.“

„Okay, den habe ich auch verstanden“, spiele ich kurz den Beleidigten, bevor es mit mir durchgeht: „Ehrlich, das war wunderbar. Was er sich für Gedanken gemacht hat“ sprudelt es aus mir heraus, „Wie er in seinen Erinnerungen Kraft gesucht und gefunden hat. Ich habe so viel über seine Kultur gelernt, über seine Achtung vor der Natur, vor den Tieren. Ich konnte spüren, wie er mit seinesgleichen umgeht, wie sein Dorf funktioniert. Ich habe sein Verständnis von Gerechtigkeit und Arbeitsteilung selbst wahrnehmen können. Es ist aufregend, wie viel in einem Menschen in jeder Sekunde vorgeht.“

„Nur, dass er kein Mensch ist“, stellt sie richtig. „Aber sie sind euch sehr ähnlich.“

„Ja, du sagtest, es war nicht unsere Erde. Du hast mich doch schon einmal in eine Wüste eingeladen, die ebenfalls nicht auf unserer Welt war“ Noch immer fühle ich mich wie aufgedreht von diesem Erlebnis. „Ziehen wir zwei etwa gemeinsam durch unser Universum?“

„Das ist echt eine tolle Idee. Claude und Cassie per Anhalter durch die Galaxis“, amüsiert sie sich. „Nein, nicht jedes Mal. Eure Erde hat auch viele schöne Ecken. Aber es bietet sich von Zeit zu Zeit einfach an. Es öffnet dir die Augen etwas weiter“, begründet sie ihre Aussage. „Manche Zivilisationen haben eine so ganz andere Art zu leben als ihr. Sie haben andere Prioritäten, weißt du? Wo du soeben warst, wird das Leben geachtet, obwohl auch diese Spezies aus Raubtieren hervorgegangen ist. Sie hat eine fast gleiche Entwicklung wie ihr durchlaufen. Eure Denkmuster sind sehr ähnlich und trotzdem arbeiten diese Wesen miteinander und nicht gegeneinander. Sie bezahlen sich auch nicht gegenseitig für erbrachte Leistungen.“ Sie sieht mich eindringlich an. „Noch nie in ihrer Geschichte taten sie das.“

„Das klingt unglaublich für mich, weil es überhaupt nicht unseren Gewohnheiten entspricht“, gebe ich unumwunden zu. „Selbst wenn ich in unserer Historie ganz weit zurückgehe, wurde eine Leistung nie ohne Gegenleistung oder eine Ersatzleistung, wie zum Beispiel Gold, Geld oder irgendetwas von Wert erbracht. Außer in Familien oder unter Freunden.“

„So ist das manchmal“, sagt sie mit einem nachsichtigen sanften Lächeln, „Andere Welten, andere Sitten.“

„Den Spruch kenne ich etwas anders.“

„Nur dass beim Geld alle eure Länder gleich ticken“, legt sie witzelnd nach.

„Aber eins habe ich heute gelernt: Deine Regeln gelten für alle Erden im Universum. Da macht keine Welt eine Ausnahme. Kamato ist ein Jäger und er kennt die Regeln, die er einzuhalten hat. Er lebt diese Regeln und steht voll hinter ihnen. Er weiß, welche Tiere er jagen darf und welche nicht. Seine Leute wissen, welche Tiere sie essen dürfen und welche nicht. Hat das etwas mit ‚Rein‘ und ‚Unrein‘ zu tun, wie mancherorts hier auf der Erde? Hast du für alle Welten zwischen Rein und Unrein unterschieden?“

„Ach was, nein. Natürlich habe ich den Bewohnern aller Welten Ratschläge und Empfehlungen zukommen lassen. Aber die hatten nichts mit Rein oder Unrein zu tun, so wie du diese Begriffe verstehst. Es gibt kein schlechtes Leben, Claude. Nichts Lebendiges ist unrein, aber manches ist einfach nicht für den menschlichen Verzehr geeignet. Einiges solltet ihr nicht einmal berühren. Ich rede hier nicht einmal von Mikroorganismen, aber es gibt tatsächlich Stoffe, die sind für Menschen giftig, für manche Tiere aber nicht. Andersherum ist es genauso. Dieses Unreine…, übrigens hasse ich dieses Wort, dass nicht von mir stammt, klar?“ Ich nicke ihr kurz zu. „Okay. Dieses Unreine bezog sich neben generell Giftigem oder Ungenießbarem auch ein bisschen auf das Fleisch bestimmter Tiere, das bei Wärme schnell verdirbt…“

„Also doch die Kühlschrank-These?“, Falle ich ihr, wieder einmal, ins Wort.

„Kühlschrank-These? Ach, ich verstehe. Du meinst, ich habe den Verzehr von Schweinefleisch untersagt, weil es ohne Kühlschrank zu schnell verdirbt?“, fragt sie nach und in ihren Augen flackert es amüsiert auf.

„Nun ja. Das wird von vielen Leuten vermutet“, antworte ich ein wenig vorsichtiger. Schließlich kenne ich diesen Blick schon…

„Da sind die Superaffen aber ziemlich überheblich“, sagt sie und der Spott in ihrer Stimme ist unüberhörbar. „Zum Schutze der Menschen verurteile ich das Schwein hiermit zur Unreinheit?“

„Wäre doch möglich. Du hast uns schon vor vielem beschützt, oder?“, verteidige ich meine Mitmenschen reflexartig.

„Dann wird dich das, was ich dir jetzt sage, sehr überraschen.“ Sie schlägt ihre Beine übereinander und lehnt sich zurück. „Hör mir einfach zu: Jungbullen brauchen 18 Monate bis zum Schlachtalter und ihre Schwestern geben über Jahre gute Milch. Die Ochsen, die nicht zur Schlachtbank gehen, werden vor Pflug und Wagen gespannt und haben dort einen großen Nutzen. Damals mussten sie auf die Weide, um zu grasen. Sie wurden von Kuhhirten immer an die besten Plätze geführt und bewacht. Oder Stroh und Heu musste aufwändig für sie beschafft werden. Sie führten ein recht nettes Leben, wenn auch manche von ihnen nur ein kurzes. Habe ich soweit recht?“

„Ich bin jetzt nicht der Rinderfachmann, aber es klingt schlüssig“, gebe ich ihr recht.

„Ähnlich war es bei Schafen und Ziegen. Wiese. Melken. Wiese. Wachsen. Schlachten. Stimmt’s?“

„Japp! Abgesehen von Pflug und Wagen stimmt’s soweit.“

„Bevor wir jetzt zu den Schweinen kommen, sind die Menschen dran“, sagt sie überraschenderweise und wechselt den Überschlag ihrer Beine.

„Die stehen aber hoffentlich nicht auf der Speisekarte, oder“, frage ich.

„Nein, keine Bange. Aber sie sind der wahre Grund für das damalige Schweineverbot“ Mahnend erhebt sich ihr Zeigefinger. „Menschen sind bequem, um nicht zu sagen faul, und Tiere waren für sie minderwertige Lebewesen. Um die Rinder, Schafe und Ziegen mussten sie sich kümmern, sonst hätten sie nichts von ihnen abstauben können. Ohne Fleiß, kein Preis.“

„Ich kapiere noch nicht, worauf du hinauswillst.“

„Das wirst du gleich. Schweine sind eher anspruchslos. Um zu ‚funktionieren‘ brauchen sie nicht viel. Sie fressen beinahe alles. Man hat demnach wenig Mühe bei der Ernährung. Abfall füttern und gut. Sie brauchen auch keine Weidefläche. Ein enger Verschlag und fertig. Nach nur sechs Monaten haben sie 120kg drauf. Rübe ab und… Mahlzeit. Schweine kannst du nicht vor deinen Karren spannen. Schweine geben keine verwertbare Milch. Sie schmeckt nicht gut und man kann keinen Käse daraus machen. Die armen Viecher wären unter erbärmlichen Bedingungen einzig und allein zum Auffressen gehalten worden. Hat das etwas mit Respekt zu tun? Mit Dankbarkeit? In diesem Fall, Claude, wollte ich nicht die Menschen schützen.“

Ich schaue sie an, sie schaut mit ziemlich ausdruckslosem Gesicht zurück. Nicht ernst oder gar böse, aber ich sehe auch keine Freundlichkeit darin. Man kann meine Gedanken beinahe hören. Klick, klick, klick. „Das war schon eine raffinierte Taktik“, muss ich zugestehen.

Sie stellt ihre Füße wieder nebeneinander auf dem Rasen ab. Mandy schaut nach, ob ihr Schwanz in Gefahr ist, legt sich aber beruhigt wieder aufs Ohr. Cassie streckt die Arme aus, zuckt mit den Schultern und fragt mich: „Wie willst du das den Leuten von damals erklären? Leuten mit einem… recht engen Weltbild? Gar nicht! Einige von denen gestanden ja nicht einmal Frauen eine Seele zu. Da brauchst du einfache Regeln, die im Kopf bleiben.“ Sie lässt die Arme wieder sinken und macht eine wegwerfende Bewegung. „Verstanden haben sie es definitiv nicht, nur stumpf eine Regel befolgt.“ Sie nimmt nun auch einen Schluck Wasser, um die vom Reden trockene Kehle zu schmieren.

Ich warte wortlos ab und schließlich fährt sie fort: „Ich erwarte inzwischen weitaus mehr von den Menschen, als einfach nur Regeln zu befolgen. Ich erwarte, dass ihr den Sinn von Regeln hinterfragt und euch mit dem Sinn identifiziert. Ich brauche keinen Kadavergehorsam“ und ihr Blick ist sehr ernst in dieser Sekunde. „Ihr braucht eine moderne und gerechte Gesellschaft, die in Selbstbestimmung von allen Menschen gestützt und gemeinsam verantwortet wird. Wer stattdessen die alten Regeln, die in den alten Büchern stehen, und die für die damalige Zeit sicher sinnvoll waren, heute noch immer wortgetreu befolgt und praktiziert, ohne sie zu hinterfragen, hat sich ein sinnloses Ritual geschaffen. Zumal all diese Schriften Menschenwerk sind.“

„Du hast mir die Augen geöffnet, Cassandra. Heute mehr noch als zu anderen Gelegenheiten. Ich kann mich nicht erinnern, dass in den Speisevorschriften jemals das Wohl der Speisen vermutet wurde.“

Da lacht sie wieder. Und das gefällt mir. Sie meint: „Ähnliches hatte ich ja schon einige Male in unseren Unterhaltungen angedeutet. Die Leute verstanden nur das, was sie verstehen wollten, was sie verstehen konnten. Wenn etwas zu weit vom Zeitgeist entfernt war, glaubten sie, sich verhört zu haben oder es falsch verstanden zu haben. Dann wurde es solange zurechtgebogen, bis es ihrem Weltbild entsprach. Dann wurde es in der Folge genauso falsch oder unvollständig weitergegeben und schließlich aufgeschrieben. Ganz ohne böse Absicht.“

„Ich kann mich erinnern“, fällt mir dazu ein, „dass es fast vierhundert Jahre brauchte, bis der Vatikan mit Galileo Galilei 1992 Frieden schließen konnte, der unverschämter Weise behauptet hatte, dass die Erde um die Sonne kreist.“

„Ja, wie konnte der auch nur“, macht sie sich lustig, „Es entstehen fast immer Konflikte, wenn die fundamentale Auslegung einer heiligen Schrift auf wissenschaftliche Erkenntnisse stößt. So ist das, mit den alten Büchern.“

„Da sagst du was. Warum lese ich diese Dinger eigentlich? Halt – sag nichts“, füge ich schnell noch hinzu, als sie Luft holen will, „Ich mache es aus einem bestimmten Grund: In meiner Jugend wurden mir viele religiöse Regeln mit auf den Weg gegeben. Ein paar davon waren für mich so selbstverständlich, dass ich mich fragte, warum man das als Regel aufschreiben muss. Andere ergaben für mich einen Sinn, den man durchaus verstehen konnte. Noch andere erschienen mir unsinnig und falsch. Später dann, lernte ich noch andere Religionen kennen. Auch sie hatten Regeln. Gute Regeln, brauchbare Regeln, unverständliche Regeln, falsche Regeln. Auf Fragen dazu hörte ich immer: Weil Gott es so will. Die Frage, warum Gott es so will, konnte niemand beantworten. Jetzt kann ich dich fragen. Die Fragen finde ich meistens auf der Straße. Aber bevor ich dich frage, lese ich selbst nach. Dann sehe ich, was in den alten Büchern steht und denke darüber nach, wie die Menschen es verstanden haben. Das hilft mir bei meinem Buch, die Regeln so zu formulieren, dass man sie versteht, dass man ihren Sinn erfasst, dass man sie aus Überzeugung unterstützen kann.“

Cassandra lächelt und nickt. „Das war so ziemlich das längste, was du mir jemals gesagt hast und du hast recht damit. Die Menschen müssen verstehen, was ich möchte. Sonst werden sie nur wieder ihre persönliche Wahrheit in den Texten finden. Wenn einige es nicht sowieso wieder machen. Deine Texte zeigen ein neues Bild von mir. Manchen Menschen werden sie den Weg zu mir bereiten, die ihn sonst nie gesehen hätten. Anderen Menschen werden sie ein Dorn im Auge sein, weil sie ihnen die Macht nehmen werden, die zu besitzen sie seit Jahrhunderten gewohnt sind.“

Wie sehr das doch stimmt, denke ich. Und etwas anderes wird mir genau jetzt klar. Ich treffe spontan eine Entscheidung und sage zu ihr: „Du bist La Sola.“

„Ich bin La Sola? Wie jetzt?“

Ich schaue sie an, schaue ihr in die Augen. Dieselben Augen, durch die ich vor kurzer Zeit auf eine andere Welt gereist bin. Aber diesmal passiert nichts dergleichen, obwohl ich unbeirrbar ihrem Blick standhalte. „Du bist, was in allen alten Schriften, in vielen verschiedenen Sprachen, immer dasselbe bedeutet: Die Einzige, der Einzige, das Einzige. In Esperanto heißt das La Sola.“

„Aber Esperanto ist eine konstruierte Sprache und wird nur von wenigen Menschen gesprochen, nicht wahr?“

Ich nicke und beantworte die Frage: „Darauf kommt es mir nicht an, Cassie. Es ist eine internationale Sprache, die in keinem Land der Erde als Amtssprache verwendet wird. Sie ist frei.“

„Ich bin La Sola…“, wiederholt Cassandra nochmal. „Danke, Claude. Es gefällt mir, La Sola zu sein“, lacht sie mich an, „Aber du darfst mich weiter Cassie nennen.“

„Vielen Dank für die Ehre, erhabene Göttin“, schleime ich, worauf sie Grinsen muss. „Das werde ich auch tun, schon der Übersicht halber“, grinse ich zurück.

„Hey, Claude“, sagt Cassandra fröhlich und deutet zur Straße, „Ich glaube, Julia kommt zurück.“

„Oh, stimmt. Das ist sie“, bestätige ich ihre Annahme. Mandy steht auch schon am Törchen und wedelt erwartungsvoll.

„Dann werde ich euch drei jetzt allein lassen, mein Freund, und mir ein Namensschild basteln: Cassandra La Sola – Chief Universe Officer. Ich wünsche euch jedenfalls einen wunderschönen Nachmittag, Claude.“

Sie nimmt mich noch einmal in den Arm und wird… durchsichtig… das ist ja…

„Ich bin wieder zurück, ihr Helden“, kommt da vom Tor und mit: „Hallo, meine Süße…“, bekommt Mandy ihre Streicheleinheit. „Hat leider etwas länger gedauert, sorry“, sagt meine Frau beim Näherkommen. „Ich brauche gleich erst mal einen Kaffee. Sag mal, hat da gerade etwas geleuchtet, direkt vor dir…?“

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