Wenn du mittendrin anfängst, verstehst du nicht alles: Beginne lieber am Anfang.
Es ist eine lästige Pflicht, aber manches kann man sich leider nicht aussuchen. Und einiges lässt sich auch nicht ewig aufschieben. Ich stehe im Supermarkt und steuere unseren inzwischen halbvollen Einkaufswagen den flinken Schritten meiner Frau hinterher. Sie macht diese Pflichteinkäufe auch nicht wirklich gern, aber was muss, das muss. Während ich den Wagen festhalte und gewissenhaft dafür sorge, dass er nicht umfällt, träume ich von einem stressfreien Urlaub am Strand. Das wäre sooo schön. Keine Einkäufe, sondern höchstens mal ein wenig shoppen. Keine Gemüseabteilung, sondern Bananen und Ananas ganz einfach selbst pflücken. Kein stilles Mineralwasser, sondern rauschende Wellen unter blauem Himmel…
In meiner Fantasie bin ich am Meer. Die Sonne scheint und ist herrlich warm auf der Haut. Ich laufe den hellen Sandstrand entlang und fühle Millionen winziger Steinchen unter meinen nackten Fußsohlen kribbeln. Der leicht böige Wind trägt von weit draußen die Rufe der Seevögel heran, die Luft riecht salzig und das Wasser umspült in sanften Wellen meine Füße. Der feuchte Sand unter mir ist unberührt, als wenn vor mir noch niemals jemand hier entlanggelaufen wäre.
Es gibt natürlich keine Anzeichen von Bebauung, denn in meinem Kopf habe ich selbstverständlich eine unbewohnte Insel entworfen. Der bestimmt dreißig Meter breite Sandstrand geht weiter oben in eine flache Vegetation über und ein Stück weiter voraus liegen, wie zufällig aufgehäuft, Felsbrocken im Wasser, die der schwachen Brandung lustige kleine Spritzer entlocken. Hier möchte man gerne wohnen. Ich überlege mir, ob hinter der nächsten Düne unser Ferienhaus gut aufgehoben wäre. Aber um mir das richtig vorstellen zu können, müsste ich erst vom Meer weglaufen und dazu habe ich keine Lust.
„Ist es nicht traumhaft schön hier, Claude?“, erklingt eine volle Frauenstimme direkt hinter mir.
„Meine Güte, habe ich mich jetzt verjagt“, schrecke ich zusammen und drehe mich gleichzeitig ruckartig nach hinten um. Eine dunkelhäutige Frau mit erstaunlich glattem und pechschwarzem, langem Haar steht dort, wo ich gerade noch gelaufen bin. Sie trägt eine leichte, flatternde Hose mit sommerlichem Druckmotiv und eine dazu passende Bluse. Sie läuft, wie ich, barfuß im Sand und sie nennt mich ‚Claude‘. Somit ist klar, wer hier vor mir steht. Nur Claudia nennt mich so. Aber sie ist nicht Claudia. Sie ist auch kein junges Mädchen, wie Claudia, sondern hat sicher die 40 überschritten. Eine unaufdringlich wirkende, vornehme Eleganz zeigt sich trotz ihres bunten Sommeroutfits bei jeder einzelnen ihrer geschmeidigen Bewegungen. Ihre ganze Erscheinung wirkt unglaublich erhaben und faszinierend auf mich und obwohl ich sie noch nie in meinem Leben gesehen habe, fühle ich mich mit ihr tief verbunden.
„Hast du mich gerade aus dem Supermarkt geholt?“ frage ich sie ganz direkt und lächle sie freundlich an. Ich spiele ihr diese Freundlichkeit nicht vor. Nein, in keiner Weise. Ich fühle mich tatsächlich als ihr Freund. Ich darf so mit ihr reden, denn wir reden immer so miteinander.
„Du hast so eine schöne und bildhafte Vorstellung von diesem Ort gehabt, da musste ich einfach die Chance nutzen“, erklärt sie mit einem gewinnenden und warmherzigen Lächeln. „Es ist wirklich himmlisch hier.“
Wir gehen ein paar Schritte aufeinander zu und in ihren Augen, die mich magisch anziehen, finde ich diese unendliche Weisheit wieder, die ich bei Claudia kennengelernt und seitdem so sehr vermisst habe. Ich bin die Ruhe selbst, breite meine Arme aus und umarme sie zur Begrüßung, die sie augenblicklich erwidert. Ich spüre die pure und schier unerschöpfliche Energie, die auf mich übergeht und mein Zeitgefühl weiß nicht, wie lange wir so dastehen. Sekunden, Minuten, Stunden; welche Rolle spielt das?
„Da sagst du was“, antworte ich leicht verspätet, „Wie aus dem Bilderbuch.“
Sie nickt und löst sich langsam aus meinen Armen. „Ja, wirklich. Wenn du die Bilder aus deinem Kopf auf eine Leinwand bringen könntest, wärst du ein begnadeter Künstler. Aber leider“, schmunzelt sie, „ist es mit dem Malen und Zeichnen ja nicht gut bestellt bei dir.“
„Vielleicht liegt das ja an dem Splitter in meinem Kopf“, lege ich nach und das Lachen ihrer wohltönenden Stimme klingt einfach wunderbar. „Du bist nicht Claudia, soviel steht fest. Aber trotzdem bist du Claudia. Also, natürlich nicht Claudia, aber die schöpferische Kraft und Erfinderin des Universums bist du schon, oder…?“
Sie lächelt mich an, wobei sie eine Reihe strahlend weißer Zähne aufblitzen lässt, und tritt einen kleinen Schritt zurück. „Das ist nicht einfach für dich, ich weiß. Du solltest im Moment auch gar nicht so viel darüber nachdenken, mein Lieber. Du hast aber recht: Ich bin nicht Claudia, bin aber das, was du vermutest. Ich war Claudia und kann mich daher an jedes einzelne Wort erinnern, das wir gesprochen haben. Heute bin ich, wer ich heute bin. Wer ich morgen sein werde, weißt du heute noch nicht. Aber es ist auch überhaupt nicht wichtig, weil du mich immer erkennen wirst.“
Ich schaue sie an und versuche ihre Worte zu verarbeiten. Nach ein paar Sekunden komme ich zu dem Schluss, dass mich in Zukunft noch einige Überraschungen erwarten werden. „Das würde ich auch gerne können. Heute bin ich der, morgen bin ich jemand anderes“, erwidere ich seufzend.
„Du würdest dich wundern, zu was du alles in der Lage bist, Claude.“
Zum zweiten Mal hat sie mich nun schon verwirrt und zum zweiten Mal denke ich im Kreis, ohne eine Ausfahrt zu finden. Ich entschließe mich also auch zum zweiten Mal dafür, meine Grübelei zurückzustellen, um vom Hier und Jetzt keine Sekunde zu verpassen. „Wie nenne ich dich denn jetzt, meine braune Göttin?“ frage ich sie.
Ihre Erwiderung lautet wie erwartet: „Das ist mir gleich, wie du weißt.“
Ich erinnere mich an Claudias freches Grinsen und ihren Kommentar, direkt nachdem ich sie ‚Claudia‘ getauft hatte, denke nochmal kurz nach und nenne sie Cassandra. Anderer Körper, anderer Name. Ich könnte mir auf die Schulter klopfen. So komme ich nie in eine peinliche Situation, weil ‚Claudia‘ unpassend wirken könnte.
„Ein sehr schöner Name, wirklich. Ich hoffe natürlich, dass mich nicht das Schicksal meiner Namensgeberin aus der griechischen Mythologie ereilt und mir niemand glauben wird.“
„Keine Angst, meine Liebe, ich werde dir immer glauben. Wollen wir zu den Felsen gehen? Da könnten wir uns vielleicht hinsetzen“, frage ich nach und zeige auf die dekorativ platzierten Steine, die sich ganz wunderbar dafür eignen sollten.
„Sehr gerne. Eine gute Idee“, stimmt sie zu und hält mir ihre Hand hin. Für einen winzigen Augenblick zögere ich, greife dann aber doch zu. Das ist neu für mich. Mein Verstand weigert sich noch, es zu akzeptieren, dass Cassandra und Claudia dieselbe göttliche Kraft sind, aber mein Herz ist voller Vertrauen. Vor meinem geistigen Auge verschwimmen ihre Gesichter irgendwie miteinander, aber hier vor mir sehe ich natürlich nur Cassandra. Ich denke, das muss ich noch lernen.
„Das war ja ein Ruf mitten aus dem Leben“, bemerke ich, währen wir über die Steine klettern. „Was hast du dir heute Schönes ausgedacht, Cassandra?“ Wieder lacht ihre herrliche Stimme und ihre sagenhaften Augen bestätigen, dass dies ein ehrliches Lachen ist.
„Ich liebe unsere Treffen, Claude. Ganz ehrlich. Aber ich hatte heute tatsächlich nur Freude an deinem Kopfkino. Es war alles so traumhaft schön gedacht. Ich konnte einfach nicht anders und musste dich in deiner Fantasie besuchen. Sieh mal, hier ist doch ein wirklich netter Platz. Du hattest recht.“ Sie dreht sich einmal um ihre eigene Achse, hüpft wie ein Reh über ein paar Steine und ruft gutgelaunt: „Ich nehme den trockenen Felsen.“
In dieser Situation wirkt sie auf mich genau wie Claudia, was mein hin und her gerissener Verstand dankbar entgegennimmt.
„Ein trockener Stein unter tausend nassen? Du hast geschummelt“, beschwere ich mich.
„Quatsch nicht. Schau her, dort ist ‚zufällig‘ auch noch einer“, klärt sie mich auf.
„Du hast trotzdem geschummelt“, nörgele ich nach.
„Dann sei froh, dass du mich hast. Wo wir beide nun aber schon mal hier ungeplant Urlaub machen, kann ich dir doch sicher auch etwas mit auf den Weg geben, oder?“
„Urlaub machen“, gebe ich amüsiert zurück, „das klingt süß, so wie du das sagst. Hast du heute keine Pavillons oder Universen zu bauen?“
Sie grinst breit, immer noch ein wenig so wie Claudia, und entgegnet: „Du bist noch immer unsicher, ob der Pavillon schon da war oder nicht, stimmt’s?“
„Ein wenig“, muss ich zugeben.
„Dann lasse ich dich noch ein wenig zappeln“, beschließt sie, „aber die Universen haben Pause. Eures ist doch noch recht frisch. Oder willst du es etwa umtauschen?“
„Nein, danke“, witzele ich weiter, „Wer weiß, ob das neue dann besser wäre.“
„Ja“, sagt sie und das klingt dann doch deutlich ernster: „da sagst du etwas ganz Wahres. Das weiß man wirklich nicht.“
Ich räuspere mich kurz und nehme ihr eigentliches Thema wieder auf: „Was möchtest du mir mit auf den Weg geben?“
„Im Grunde nur die Freiheit des Fragens“, erklärt sie, nun wieder ganz die elegante Cassandra. „Bis jetzt habe ich dich immer nur mit nötigem Wissen gefüttert, aber sicher hast du doch auch mal die eine oder andere Frage auf dem Herzen. Scheue dich nicht und frage mich. Ich kann dir vieles erklären. Nicht absolut alles, aber doch eine ganze Menge.“
„Nicht absolut alles? Greift da der Jugendschutz?“ frage ich grinsend.
„Nein, nicht wirklich… obwohl… ein bisschen ist es schon so“, antwortet sie, während sie mit ihren Zehen an einem kleinen Stein herumspielt. „Ihr seid eine noch sehr junge Spezies, irgendwo zwischen Aufstieg und Untergang. Und jetzt gerade habt ihr den Hebel für eine Weiche entdeckt. Aufstieg oder Untergang. Bald wird sich zeigen, wer diesen Stellhebel zuerst erreicht. In welche Richtung wird er gedrückt?“
„Du machst mir Angst, Cassie. Und du machst mich neugierig. Wie gehe ich damit um? Was ist richtig?“ Ich schaue sie ein wenig hilflos an…
Sie dreht sich ein wenig in meine Richtung und legt ihre Hand auf mein Knie, was mich einen Moment lang irritiert. Aber nur ganz kurz, dann fesseln mich schon wieder ihr unendlich tiefer Blick und ihre sanfte Stimme: „Es ist ganz normal, dass dich die Angst ergreift, aber sie hilft dir nur einen kurzen Augenblick. Sie verleiht dir Kräfte, das ist nützlich. Sie kann dich durchaus aus einer Situation retten, aber sie ist kein guter Ratgeber. Nach der ersten Angst muss wieder der Verstand einsetzen. Denke immer nach. Bleibe immer neugierig. Sei immer interessiert.“
Nach diesen Worten steht sie auf und zieht mich mit beiden Händen ebenfalls von meinem Felsen hoch. „Du hast viel Neues aufzuarbeiten und du hast vieles aufzuschreiben. Für dich selbst und später auch für andere Menschen. Du wirst ein Gefühl dafür bekommen, wann der richtige Zeitpunkt ist, um bestimmtes Wissen weiterzugeben. Alles hat seine Zeit.“
Ich schaue in ihre Augen, in diese Augen. Ich sehe dort keinen Platz für Angst. Ich sehe darin unzerstörbare Zuversicht. „Lass uns gemeinsam dafür sorgen“, sagt sie, „dass der Hebel zur besseren Seite gedrückt wird. Jeder Mensch, den wir überzeugen können, den Hebel in die richtige Richtung zu drücken, bringt uns weiter weg vom Untergang und weiter hinein in die Zukunft. Den Aufstieg in die Zukunft wird nur eine geeinte und freie Menschheit erreichen. Ohne Zwang, ohne Unterdrückung, ohne Gewalt, ohne Angst.“ Überwältigt schließe ich meine Augen, löse mich dadurch langsam von der Unendlichkeit in den Tiefen ihres Blickes und halte mich einfach nur an ihren Händen fest.
„Bis bald, Claude“, dringt ihre weiche Stimme wie durch Watte an meine Ohren. Warum klingt das so weit weg? Ich blinzele im hellen Licht und schaue auf unsere Hände…
…auf meine Hände…
…auf den Griff des Einkaufswagens. „Kommst du, Schatz?“, fragt meine Frau ganz beiläufig und geht im Gang schon wieder einige flinke Schritte weiter.
Die Einzige wird dich leiten – La sola gvidos vin
#lasolagvidosvin – #lasolaicu
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