05a Über eine Welt ohne Geld

Wenn du mittendrin anfängst, verstehst du nicht alles: Beginne lieber am Anfang.

Ich sitze im Wartezimmer meines Arztes und lese in irgendeiner Zeitschrift herum, obwohl mich nicht wirklich interessiert, was ich da überhaupt lese. Eigentlich bewegen sich meine Augen nur Zeile für Zeile den Text entlang, während der Sinn dieses Textes nach einem äußerst kurzen Aufenthalt in meinem Kopf hinten bereits wieder hinaus gleitet. Dann blättere ich um und der Vorgang beginnt von neuem. Viel zu sehr beschäftigt mich in letzter Zeit meine Aufgabe als ‚Schriftführer des Schöpfers‘, wenn ich das mal so nennen darf. Vielleicht ist das sogar der Grund für die Abgeschlagenheit, die mir über den Tag die nötige Kraft und in der Nacht den erholsamen Schlaf raubt. Unter anderem deshalb sitze ich heute hier.

Ich hatte es mir nicht ausgesucht, aber ich habe schließlich freiwillig mitgemacht. Ich erhielt Wissen, welches ich mir im Traum nicht hätte vorstellen können. So viel Wissen, so viele Erklärungen, so tiefe Einblicke. Aber wie genau ich damit umgehen soll, ist mir selbst überhaupt noch nicht klar. Wie bringe ich mein Wissen, meinen Glauben, unter die Menschen? Bei jedem Gespräch mit ‚ihm‘ oder ‚ihr‘ kommen neue Ideen auf den Tisch, die, wenn sie von ‚ihm‘ oder ‚Ihr‘ vorgetragen werden, total simpel und einfach klingen. Aber leider nur in diesen Momenten, denn immer, wenn ich diese in sich vollkommen stimmigen Ideen oder Erzählungen mit unserer real existierenden Gesellschaft vergleiche, frage ich mich, wie ich die Menschen auf so radikal neue Wege führen soll.

Ich mache mir viele Notizen, damit ich keine dieser Ideen und Inspirationen vergesse, aber ich schaffe es bis jetzt nicht, alles sinnvoll in meine Aufzeichnungen einzubauen. Schon deshalb nicht, weil ich genau weiß, dass meine Freunde und Bekannten das nie verstehen würden. Aber sie sind nun mal meine einzigen Messfühler der ‚real existierenden Gesellschaft‘ für die Akzeptanz anderer Lebensweisen, denn meine geschriebenen Texte kennt ja noch niemand.

Mich nervt auch, dass ich noch keinen gemeinsamen Namen für alle Manifestationen der ‚schöpferischen Kraft‘ gefunden habe und deshalb immer so herumdrucksen muss. Wie ich es jetzt schon wieder mache.

Halb in Gedanken registriere ich, dass das Wartezimmer sich bereits geleert hat und ich als letzter auf meinem Stuhl sitze. Dabei war ich doch gar nicht der letzte, überlege ich und frage mich, ob meinen Aufruf verpasst habe. Das spielt aber nun auch keine Rolle mehr, denn die Helferin ruft gerade um die Ecke, dass ich in Behandlungsraum 2 gehen soll. Also, alles gut.

Hoffentlich braucht der Doktor nicht so lange, bis er in meinen Raum kommt, denke ich noch, als sich die Tür schon öffnet, aber leider nicht der richtige Mediziner auftaucht. Auch das noch, denke ich, ein Vertretungsarzt. Ein asiatisch wirkendes Gesicht lächelt mich freundlich an. Logisch. Asiaten lächeln fast immer, oder ist das ein Klischee?

„Was kann ich denn für dich tun, Claude?“ fragt er mich höflich und schlagartig hat er meine volle Aufmerksamkeit. „Ich sehe, dass dich etwas sehr beschäftigt, richtig?“

„Mein Gott, jetzt hast du mich aber erwischt. Du kommst wie gerufen“, sage ich nur. „Das habe ich schon öfter gehört“, antwortet er lachend. „Komm her, mein Freund.“

Ich schnelle von meinem Sitz hoch und ohne ein weiteres Wort umarmen wir uns herzlich. Ich spüre die unendliche Energie, die von ihm ausgeht und halte ihn einfach nur fest. Lange und intensiv halte ich ihn fest und bemerke dabei, dass sich mein eigener Energiespeicher mit jeder verstreichenden Sekunde füllt und immer weiter füllt. Im Gegensatz zu den langen letzten Wochen könnte ich nun Bäume ausreißen und auf der Stelle zu Brennholz verarbeiten.

„Du forderst dir zu viel ab, mein Freund“, flüstert er mir ins Ohr. „Du musst nichts übers Knie brechen. Wenn du deinen Körper ruinierst, haben wir beide nichts davon. Alles zu seiner Zeit, weißt du noch? Und bevor du fragst, Claude“, flüstert er weiter, „heute habe ich tatsächlich auch einmal einen Namenswunsch.“

„Du hast…“ stottere ich verdattert, als ich die Umarmung löse, „…einen Wunsch…? Aber sicher. Erzähl.“

„Nenn mich Chang“, bittet er und schaut mir in die Augen. Ich habe sie so sehr vermisst, diese Augen mit dem Tunnel in die Unendlichkeit.

„Einfach… Chang?“, frage ich und gehe wieder hinüber zu meinem Stuhl, bevor ich in dieser endlosen Tiefe versinke.

„Ja, genau. Das heißt ‚Elefant‘ in einigen Sprachen“, grinst er mich an. „Nun sag schon: Was brennt dir so heftig auf den Nägeln?“ Er setzt sich mir gegenüber auf Onkel Doktors Platz. Zum ersten Mal schaue ich ihn mir genauer an. Vor mir sitzt ein schlanker und wirklich sportlich aussehender junger Mann von vielleicht 35 Jahren. Sein volles, schwarzes Haar ist kurz geschnitten und zeigt einen interessanten seidigen Glanz. Seine Züge wirken typisch asiatisch mit leicht vorstehenden Wangenknochen und schönen Zähnen, die fortwährend durch sein freundliches und ehrliches Lächeln blitzen.

„Ja, weißt du“, beginne ich, „ich habe nochmal über eine deiner Bemerkungen am Lagerfeuer nachgedacht. Du hattest ja ganz beiläufig erwähnt, dass wir unser elendiges Geld abschaffen sollten. Doch ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie eine ganze Gesellschaft so ganz ohne Geld funktionieren soll.“

„Das kannst du nicht?“ Er lehnt sich weit zurück und schüttelt den Kopf. „Glaub ich nicht. Du willst nur nicht. Pass auf: Hast du schon einmal jemandem etwas geschenkt?“, fragt er mich, macht eine weitfassende Geste mit beiden Armen und fügt an: „Einfach so, ohne einen besonderen Anlass?“

„Ich… Na klar, sicher“, fällt mir tatsächlich eine solche Situation ein, „letzte Woche noch. Oder vorletzte…? Ach, egal. Mein Nachbar bastelte an seinem Auto herum und konnte nicht mehr richtig sehen, weil es schon dämmrig war. Ich gab ihm meine neue Taschenlampe und dann ging’s. Er fand die Lampe so toll und hell und praktisch; da hab‘ ich sie ihm einfach geschenkt.“

„Und…?“, fragt er nach.

„Ja, er hat sich echt gefreut und sich ein paarmal bedankt.“

„Und wie hast du dich gefühlt?“, fragt er weiter und beginnt zu lächeln.

„Ich?“

„Ja, du.“, aus dem Lächeln wird ein Grinsen.

„Ich…, es hat mich gefreut, dass die Lampe ihm gefallen hat“, gebe ich zu. „Ich hatte echt gute Laune. Ja, stimmt. Jetzt, wo du fragst – ich hatte irgendwie den ganzen Abend noch gute Laune.“

„Es hat dich also glücklich gemacht, dass du jemanden glücklich gemacht hast“, fasst er kurz und schlüssig zusammen.

„Du hast recht. Ist das so?“ hake ich nach, „Macht ‚Freude machen‘ glücklich?“

„Absolut und auf jeden Fall“, bestätigt er meine Vermutung. „Wenn du mal genauer darüber nachdenkst, ist dir das in deinem Leben schon öfter passiert. Immer, wenn du jemanden froh machst, bist du selbst auch froh. Es ist jedes Mal ein schönes Gefühl“, erklärt er weiter und aus seinem Grinsen ist schon längst wieder ein warmherziges Lächeln geworden. „Gegenfrage: Was glaubst du? Hättest du auch den ganzen Abend so gute Laune gehabt, wenn du deinem Nachbarn für die Lampe Geld abgenommen hättest?“

Ich muss im Grunde nicht lang nachdenken. „Wahrscheinlich nicht“, beantworte ich seine Frage. „Ich hätte mich vielleicht kurz über die unerwartete Einnahme gefreut, aber mehr wohl nicht.“

„Na, siehst du? Jetzt hast du es selbst erkannt“, sagt Doktor Chang freudig und dreht eine Pirouette mit seinem Schreibtischstuhl. „Geld macht nicht glücklich. Hat es nie und wird es auch nie. Lob, Anerkennung und sichtbare Freude dagegen machen glücklich.“

„Das stimmt natürlich“, muss ich zugeben, „und es hört sich auch schön und einfach an, aber sowas ist doch nur ein spontanes Erlebnis. Freude machen ist schön, okay, nur läuft es im wirklichen Leben doch ein wenig anders. In dem muss ich nämlich arbeiten gehen, um das Geld zu verdienen, mit dem ich mein Essen kaufen und meine Wohnung bezahlen muss. Weißt du, mein Vermieter und der Bäcker sind leider nicht glücklich, wenn sie mich satt, zufrieden und glücklich sehen, aber keine Kohle kriegen“, füge ich noch hinzu.

„Ja, mein Freund“, antwortet er, während seine letzte Pirouette genau in meiner Richtung ihr Ende findet. „Genau das ist euer Problem. Dieses Gelddenken schränkt euch wirklich gewaltig ein.“ Sein Gesichtsausdruck wird ernster, während er weiterspricht: „Ihr habt euch damit in ein System begeben, in dem nur wenige reich sind und diese wenigen Reichen alle anderen für sich arbeiten lassen. Dazu kommt noch, dass die meisten von euch das überhaupt nicht bemerken. So wie du, zum Beispiel.“ Er steht aus seinem Stuhl auf und geht zur Behandlungsliege hinüber. „Das ist sehr schade, denn so könnt ihr das riesige Potential in euch nicht vollkommen nutzen.“

„Und wie, bitte schön, sollte ein System aussehen, das anders funktioniert?“ frage ich zurück. „Geld gegen Leistung, so funktioniert das nun mal. Jeder weiß, dass es so funktioniert und niemand erwartet irgendetwas anderes.“

„Ja, weil ihr in diesem verfluchten System festgefahren seid. Seit Jahrtausenden. Es war noch nie anders und deshalb muss es so richtig sein, denkt ihr. Jeder denkt so und deshalb denkst du auch so. Und weil du so denkst, denken andere Menschen auch wieder so. Ihr macht euch das Leben damit aber selbst schwer.“ Er legt sich ganz entspannt auf die Liege und verschränkt die Arme hinter seinem Kopf. „Versuche dir doch einmal vorzustellen, dass du für dein Essen und deine Wohnung nichts bezahlen müsstest.“

„Hui, das wäre toll!“ erwidere ich überzogen gekünstelt und schiebe meinen Stuhl zur Liege rüber, um näher bei ihm zu sein. „Dann müsste ich ja gar nicht mehr arbeiten gehen! Das wäre ein herrlicher Super-Langzeit-Urlaub! Aber…“, hier kann ich mir ein breites Grinsen nicht mehr verkneifen, „könnte es vielleicht sein, dass dann niemand mehr arbeiten gehen würde?“

„Nicht so schnell, mein Freund. Du tauchst überhaupt nicht wirklich in die Situation ein, aber sofort steht für dich fest, dass es nicht klappen wird. Merkst du nicht, dass du den zweiten Schritt schon vor dem ersten machst? Wenn du das zweite Bein schon anhebst, bevor das erste wieder auf dem Boden ist, fällst du auf den Arsch! Bleiben wir doch bitte erst mal nur bei dir und deinem Super-Langzeit-Urlaub. Was würdest du in deinem Urlaub tun?“ Ohne seine entspannte Haltung auch nur eine Sekunde aufzugeben, wartet er auf meine Antwort.

„Auf der Couch liegen, Filme schauen, Bücher lesen…“

„Okay, und dann?“

„Super-Langzeit-Urlaub? Eine Weltreise! Ich würde eine Weltreise machen. Orte besuchen, an denen ich noch nie war. Kann ich mir ja jetzt leisten, denn Essen und Miete sind ja bezahlt“, antworte ich und bin gespannt, wo sein Frage- und Antwortspiel hinführt.

„Das ist eine tolle Idee. Reisen bildet. Es kann nie schaden, sein Wissen zu erweitern. Übrigens kosten Reisen auch kein Geld mehr“, erwidert er und klingt fast gelangweilt, als er die nächste Frage stellt: „Was machst du dann? Couch, Filme, Bücher?“

„Nein“ sage ich, „Ich will natürlich nicht mein Leben lang auf der Couch liegen. Nach der Weltreise suche mir in Ruhe eine sinnvolle Beschäftigung. Ich habe ja genug Zeit. Meine Verpflegung und meine Wohnung sind bezahlt, also habe ich keinen Stress. Ich kann eine gehobene Ausbildung oder Weiterbildung machen und mir dann einen deutlich besser bezahlten Job als meinen jetzigen suchen.“

„Super!“, sagt Chang und öffnet sogar seine Augen dabei. „Auch das halte ich für ein ganz hervorragendes Vorhaben. Eine gute Ausbildung ist sehr wichtig. Man sollte seinen Wunschberuf immer mit einem fundierten Wissen angehen.“ Dann setzt er sich auf und lehnt sich mit dem Rücken an die Wand. „Allerdings hast du unser kleines Spiel noch immer nicht so ganz kapiert. Deine Mahlzeiten, deine Wohnung und dein Urlaub sind nicht von jemand anderem bezahlt worden, sie kosten einfach nichts mehr. Nichts kostet mehr etwas. Es gibt kein Geld mehr. Du brauchst dir also auch keinen gut bezahlen Job suchen.“ Als er meinen etwas verdutzten Gesichtsausdruck wahrnimmt, lächelt er auf seine besondere asiatische Art. „Du solltest dir lieber einen Beruf suchen, der dir Freude macht. Es gibt in unserem Spiel keine gut bezahlten Berufe mehr, sondern nur noch unbezahlte. Ohne Geld keine Bezahlung. Verstehst du?“

„Ja, aber du kannst doch nicht…“, will ich einwerfen, werde aber direkt von ihm unterbrochen.

„Warte. Du hast doch gerade selbst festgestellt, dass du dein Leben nicht auf der Couch beenden möchtest. Richtig? Dass du eine Ausbildung machen möchtest. Richtig? Das ist doch auch vollkommen normal. Ein gesunder Mensch kann auf Dauer nicht einfach untätig herumhängen. Dann verblödet er. Na gut, von wenigen Ausnahmen einmal abgesehen“, ergänzt er mit nachdenklicher Miene. „Die waren aber schon immer verblödet. Also: Obwohl du die Regeln nicht komplett verstanden hast, denkst du genau in die richtige Richtung. Lasse dich ausbilden. Lerne etwas. Überleg’ mal: All deine Lehrer werden nur Menschen sein, die es als ihre Berufung auffassen, andere Menschen zu unterrichten und auszubilden.“ Begeistert von seinen eigenen Worten steht er von der Liege auf und geht im Zimmer umher. „Es ist nicht einfach nur ihr Job. Sie haben wirklich Freude daran, anderen Menschen ihr Wissen weiterzugeben. Sie sind glücklich, wenn andere an ihrem Wissen teilhaben und dadurch besser werden. Du kannst nach der Ausbildung einer Tätigkeit nachgehen, die du gerne machst, die dich erfüllt die dich glücklich macht.“ Er stellt sich hinter mich und umfasst meine Schultern. „Du machst dann etwas Sinnvolles und hilfst anderen Menschen oder sogar der ganzen Gemeinschaft dabei, ebenfalls ein glückliches und zufriedenes Leben zu führen. Und das alles ohne einen Cent.“

Ich atme tief ein und ebenso tief wieder aus: „Pfff…, eine nette Vorstellung, aber…, kann das so funktionieren…?“

„Das kann es, Claude. Ich habe es gesehen.“

„Aber es gibt doch auch echte Scheißjobs. Entschuldige den Ausdruck, aber ich meine Tätigkeiten, die nun wirklich keiner gerne macht.“

„Du glaubst gar nicht, wie viele Menschen mit ganz besonderen Vorlieben es gibt“, erwidert er und setzt sich mir gegenüber wieder auf die Liege. Seine Beine baumeln vor und zurück und in seinen Augen sehe ich Feuer und Begeisterung. Wie schon so oft sprechen diese Augen deutlicher als so mancher lange Satz. „Jetzt mal ehrlich, Claude: Viele Berufe sind doch nur deshalb nicht beliebt, weil sie unterirdisch schlecht bezahlt werden. Man arbeitet viel zu viel und viel zu hart und trotzdem reicht die Entlohnung nicht einmal zum Leben aus.“ Er schaut mich fragend an und ich kann eigentlich nur zur Bestätigung nicken. „Siehst du. Wenn es aber kein Geld mehr gibt, gibt es auch keinen Unterschied mehr bei der Bewertung der Berufe. Nur durch mehr oder weniger Geld kann man beliebigen Berufen einen bestimmten Wert zuweisen. Dafür sorgen schon gewisse Leute. Nämlich die, die in eurer Gesellschaft großen Einfluss haben. Leute, die selbst gut verdienen und deshalb von anderen für wichtig gehalten werden. Sie bestimmen, was wichtig ist. Nach ihren Regeln. Du bestimmst das definitiv nicht. Aber was ist dir ein Manager wert, wenn du einen schwindelfreien Fensterputzer benötigst? Hilft dir ein Anwalt bei deinem verstopften Abfluss? Wie stellt sich ein Finanzexperte beim Beschneiden deines Apfelbaumes an?“

„Mmmmh“, mache ich nur.

„Erzähle mir also nicht, dass diese unterbezahlten Berufe niemand machen will. Die Menschen kommen nur mit dem bisschen Kohle nicht klar. Wenn es bei der Berufswahl nicht mehr um den materiellen Verdienst gehen würde, wäre die Welt eine andere. Und wenn es dir mit deinem Einspruch wirklich um unerträgliche Scheißjobs geht: Da seid ihr Menschen doch wohl mit einer ausreichenden Portion Intelligenz ausgestattet, um daran etwas zu ändern. Ihr habt clevere Wissenschaftler, Entwickler und Konstrukteure. Ihr habt Leute, die gerne Maschinen und Roboter bauen und sich total freuen, wenn dann alles so funktioniert, wie sie es sich vorgestellt haben. Unter euch sind kreative Köpfe, denen kein technisches Problem zu groß sein kann, um es irgendwie zu lösen. Wenn es also wirklich einen absolut stumpfsinnigen Job geben sollte, den absolut kein Mensch gerne macht, dann lasst ihn doch von einer Maschine erledigen.“

Er schaut mich an und ich schaue ihn an. Ich weiß, dass er recht hat und er weiß, dass er recht hat. Ich weiß, dass er eine Reaktion erwartet, muss aber meine Gedanken noch etwas sinken lassen. „Das klingt alles so einfach, wenn du es sagst. Als wenn nichts dagegen sprechen könnte. Aber wenn es denn so einfach wäre, wieso ist dann noch nie jemand darauf gekommen? Das Leben wäre doch viel schöner, viel lebendiger. Ein Beruf wäre endlich wieder eine Berufung und nicht einfach nur ein lästiger Job, um seine Brötchen zu verdienen.“

„Ach, mein lieber Freund“, sagt er und lässt die Beine still herabhängen. Seine unvergleichlichen Augen drücken nun Kummer aus, während er weiterspricht: „Schon viele sind von alleine darauf gekommen und mit vielen anderen habe ich gesprochen, so wie jetzt mit dir.“ Er macht eine kleine Pause und denkt nach, wie er mir eine Erklärung geben kann. „Weißt du? Es wäre alles ganz einfach, wenn ihr Menschen in der Lage wärt, Hand in Hand und auf Augenhöhe miteinander zu leben. Wenn ihr alle, oder zumindest fast alle, an einem Strang ziehen würdet, könntet ihr einen gewaltigen Schritt in eurer Entwicklung machen. Aber leider gibt es eine unglückliche und ungleichmäßige Zweiteilung bei euch.“

Er hält mir seine linke Hand vor die Nase und streckt zwei Finger in die Luft und tippt mit dem Zeigefinger der rechten Hand auf den ersten ausgestreckten Finger.

„Zum einen sind immer noch zu viele unter euch, die nur an ihren persönlichen Vorteil denken, die Machtgelüste haben oder unter Geltungssucht leiden. Es sind während der letzten Jahrhunderte schon etwas weniger geworden, aber es gibt leider immer noch zu viele von ihnen und sie sind gieriger als je zuvor.“

Nun tippt er auf den zweiten ausgestreckten Finger.

„Zum anderen gibt es sehr viele Mitläufer unter euch. Daran ist niemand direkt schuld, weil es mit eurer evolutionären Entwicklung zusammenhängt. Ihr seid aus Raubtierlinien hervorgegangen, ihr seid Jäger und Rudeltiere. Die orientieren sich gerne an einem Rudelführer. Im Tierreich nimmt sich der Boss den größten Brocken der Beute, sorgt aber auch dafür, dass alle etwas erhalten.“

Erneut nimmt er meine beiden Hände in seine und drückt sie leicht. „Mit dem Erwachen der Intelligenz ist bei euch allerdings etwas gewaltig aus der Spur gerutscht. Wenn ihr über die Jahrtausende hinweg bei der sozialen Kompetenz eine vergleichbare Entwicklung wie bei der technischen erworben hättet, wäre das alles kein Thema. Aber da ist einfach zu wenig passiert.“

„Deshalb der Egoismus, die Selbstsucht, Geltungssucht, Größenwahn, Neid, Gier, Machtgelüste, diese ganze Palette?“, frage ich, inzwischen ebenfalls mit Kummer in meinem Gesicht, zurück.

„In all diesen Begriffen steckt jeweils nur ein Teil der Wahrheit. Eine umfassende Bezeichnung gibt es in keiner Sprache der Erde. Es gibt einige sehr manipulative ‚Exemplare‘ innerhalb eurer Spezies, die mit den von dir genannten Attributen sehr gut bestückt sind. Tja, und diese bestimmten Leute schaffen es mit großen Worten immer wieder, eine große Menschenschar hinter sich zu bringen, die ihnen dann folgen. Das gelingt diesen Führern auch sehr oft, indem sie irgendwelche Versprechungen machen. Sie versprechen den Menschen zum Beispiel, dass es ihnen bessergeht, wenn sie sich ihnen anschließen. Sie nutzen hierzu den gerade erwähnten Umstand aus, dass es unter den Menschen nur wenige Führer, aber sehr viele Mitläufer gibt.“

„Dieser Hang der Menschen zu einem Rudelführer, richtig?“, stelle ich meine Zwischenfrage.

„Ja, genau, der alte Rudelinstinkt. Natürlich setzen diese cleveren und manipulativen Führer dann auch alles daran, dass sich dieser Zustand nicht ändert. Die Mitläufer werden gerne klein und dumm gehalten, damit sie möglichst wenig Widerworte geben. Und natürlich gibt es, wer hätte das gedacht, nicht nur einen solchen Führer, sondern gleich mehrere. Und sie alle haben ihre private Mitläuferschaft hinter sich stehen. Und jeder dieser großen Bosse hat bestimmte Vorstellungen. Weil die Machtgelüste der einzelnen Führer sich aber sehr oft in die Quere kommen, kommt es ebenso oft zum Streit zwischen ihnen. Und was machen diese starken Bosse dann? In die Arena gehen und ihren Streit austragen?“

Wieder hüpft er von der Liege und geht im Raum umher. Allerdings deutlich ruheloser als vorhin. Dabei erinnert er mich an Isaak in der Wüste. Dann beantwortet er seine im Raum stehende Frage selbst: „Nein! Die Führer trommeln ihre Leute zusammen und berufen sich nun darauf, dass sie für ihre Anhänger immer nur das Beste wollten, dass es aber einen bösen anderen Führer gibt, der ihnen alles wieder wegnehmen will. Das finden die Leute selbstverständlich ziemlich blöde und wenn der Anführer jetzt immer schön stichelt und Stimmung macht, hat er bald eine grölende Menschenmenge zur Verfügung, die am liebsten sofort auf den fremden Führer und dessen bösartige Anhänger losgehen würde, um sie alle zu erschlagen. Der andere Führer macht natürlich genau dasselbe mit seinen Anhängern und schon hast du einen tollen Krieg vom Zaun gebrochen.“ Ich schaue immer noch in seine Augen und nach diesem sehr langen Monolog suche ich Wut darin. Es ist aber nach wie vor nur Kummer dort zu erkennen.

Er holt noch einmal tief Luft und beendet dann seine Ausführungen mit einem Resümee: „Menschen, die sich noch nie gesehen haben und nichts voneinander wissen, hauen sich gegenseitig den Schädel ein. Weil ein Führer, der sich während des Kampfes in einem Bunker versteckt hält, das so bestimmt hat. Das bekommst du nur in den Griff, wenn es keinen Neid mehr gibt und auch keine manipulierenden Führer oder wie es heute heißt: Regierungen. Denn alle diese Leithammel wollen immer nur das eine: Macht und Einfluss. Und in eurer Geldwelt kommt auch noch Reichtum dazu, mit dem sie noch mehr Macht und Einfluss erlangen. Denn Geld ist immer nur ein Mittel zur Macht. Dieses Muster müsst ihr hinter euch lassen. Ihr müsst die Rudelführer abschaffen.“

„Wie soll das gehen? Rudelführer hin oder her, jemand muss doch zu bestimmen haben.“

„Ach ja?“, fragt er mich, „Es muss also jemand über euch zu bestimmen haben? Warum könnt ihr nicht selbst über euer Leben bestimmen?“

„Weil auch Entscheidungen getroffen werden müssen, die mehr als einen einzelnen Menschen betreffen“, sage ich in einem Tonfall, der ihn offenbar erkennen lässt, dass ich an seinem Wissen über unsere Gesellschaftsstrukturen zweifle. Wenn ich damit eines erreicht habe, dann nur, dass der Kummer in seinen Augen einem amüsierten Leuchten weicht. Einerseits freut mich seine aufgehellte Miene ungemein, andererseits nervt es mich kolossal, weil ich das Gefühl habe, dass er mich nicht ernst nimmt.

„Dann stimmt doch einfach nur unter den betroffenen Menschen ab“, lautet Changs lapidare Antwort. „Dann entscheiden wenigstens nur die Leute, die von der jeweiligen Entscheidung betroffen sind.“

„Du hast bestimmt wieder eine ganz geniale und einfache Lösung parat, auf die noch keiner gekommen ist, oder?“

„Klar. Aber das sage ich dir beim nächsten Mal. Heute wird’s Zeit für dich.“ Mit diesen Worten greift er die Lehne meines Stuhls, schiebt ihn, mit mir darauf, an seinen angestammten Platz und dreht ihn in Richtung Schreibtisch. Bevor ich auch nur dazu komme, ein Wort des Abschieds loszuwerden, öffnet sich die Tür: „Hallo Herr Massner, was kann ich denn für Sie tun?“

Ein kleiner Blick in die Runde überzeugt mich davon, dass Chang verschwunden ist. Ich muss allerdings tatsächlich ein paar Sekunden darüber nachdenken, warum ich überhaupt hergekommen bin.

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