Wenn du mittendrin anfängst, verstehst du nicht alles: Beginne lieber am Anfang.
Manchmal hasse ich es! Nicht meine Arbeit insgesamt, aber manche Notwendigkeiten sind einfach doof. Ich brauche etwas Abstand, muss den Kopf frei bekommen und mache jetzt erst mal Pause. Punkt. Ich gehe in den Hof auf eine Bank und lasse mir die Julisonne auf den Kopf knallen.
Die Aufzugtür öffnet sich und schon durch das Glasportal sehe ich, dass andere Leute dieselbe Idee ebenfalls schon hatten. Keine freie Bank in Sicht. Egal, dann setze ich mich halt auf die Blumenmauer bei der Wiese und schlürfe dort meinen herrlich leckeren Automatenkaffee leer.
So. Gut ist. Gesicht zur Sonne, Augen zu, Hirn abschalten, Kaffee trinken. Ganz langsam fällt der Stress von mir ab. Das tut gut. Der Kopf fühlt sich leichter an, ich nehme wieder die Luft wahr, die ich einatme. Es ist wirklich warm heute und die Sonne brennt mir stärker auf den Kopf, als ich erwartet hatte.
Eigentlich brennt sie viel zu heiß, die Sonne. Da passt etwas nicht, denke ich und schaue mich um. Wusst‘ ich’s doch. Von wegen Blumenmauer. Ich sitze in einer Art Steppenlandschaft, dicht am Fuße einer Felswand und das natürlich auf der Sonnenseite. Kaum ein Schatten ist zu sehen und erst recht keiner, in den ich mich zurückziehen könnte. Ein grob erschlossener Feldweg führt, von hinter den Felsen ausgehend, dicht an mir vorbei und verliert sich in der sandigen Weite. Direkt neben mir liegt…
…ein Hut. Ein alter wettergegerbter Cowboyhut. Zu anderen Zeiten hätte mich das umgehauen, aber ich bin inzwischen einiges gewohnt. Der Hut passt übrigens sehr gut zu der Kleidung, die ich gerade trage. Man könnte glauben, dass ich einem Westernfilm entsprungen wäre und so setze ich ihn auf. Eine gute Idee, denn die Sonne brennt wirklich gnadenlos vom wolkenlosen Himmel herab. Ich habe keinen Schluck Wasser dabei, nicht einmal meinen Automatenkaffee, aber Sorge macht mir das in keiner Weise.
Wie aus dem Drehbuch höre ich ein immer lauter werdendes Pferdegetrappel, dessen Ursprung von der Felswand verdeckt wird. Jedoch muss ich nicht lange warten, bis sich mir die Quelle der Hufgeräusche offenbart. Ein riesiges Pferd prescht direkt auf mich zu und ich sehe mich schon zertrampelt im Dreck liegen. Doch der Reiter verzögert im allerletzten Moment und mitten in der Staubwolke des noch abbremsenden Vierbeiners springt ein halbnackter Riesenkerl mit einem atemberaubenden Satz vom Pferd direkt vor meine Füße, breitet die Arme aus und umarmt mich wie einen alten Freund.
„Claude, alter Freund, es ist schon eine Weile her, dass wir uns gesehen haben. Wie geht es dir?“
Während der kurzen und herzhaften Begrüßung erhasche ich einen Blick in die Augen des mächtig wirkenden Indianers und weiß sofort, wen ich vor mir habe. Die Güte und Wärme und die aus der Unendlichkeit fließende Energie erfassen mein Herz und umspülen mich mit Sicherheit und Geborgenheit. Ich freue mich aus tiefster Seele auf unser Zusammentreffen.
Mein Gott. Er ist wirklich ein Riesenkerl mit annähernd zwei Metern Körpergröße und wirkt so, als wenn er im Fitnessstudio wohnen würde. Allerdings wirkt seine gesamte Masse echt und auf langem Wege erworben und nicht bewusst definiert wie bei manchen Bodybuilding-Athleten. Sein Gesicht vervollständigt den indianischen Eindruck seines Körpers, zeigt jedoch trotz des kraftvollen Gesamtbildes eher sanfte Züge, was aber in keiner Weise unstimmig wirkt. Er lächelt mich an und betrachtet mich auf Armeslänge.
„Wow! Ein stattliches Erscheinungsbild, großer Krieger“, erwidere ich. „Ich freue mich ebenfalls sehr, dich wiederzusehen, mein großer Freund.“ Auch ich fasse ihn bei den Schultern und in unseren Blicken finde ich eine starke Verbundenheit.
„Es geht mir ausgezeichnet“, beantworte ich seine Frage. „Dass mein Leben einen ganz neuen Sinn erhalten hat, seit ich dich kenne, dessen bist du dir sicher bewusst.“
„Natürlich, Claude. Das weiß ich. Du hast ja auch schon eifrig begonnen, unsere kleinen Exkursionen in Worte zu fassen. Gar nicht so einfach, nicht wahr?“
„Nein, wirklich nicht. Klar, ich habe inzwischen begonnen, unsere Begegnungen niederzuschreiben und sogar zu veröffentlichen. Auch ein erstes Wort habe ich verfasst, nur fällt mir dieser Teil der Aufgabe deutlich schwerer. Aber bevor du loslegst: Hast du einen besonderen Wunsch für deinen Namen?“
„Außer La Sola, meinst du?“
„Genau“, erkläre ich, „Ich möchte nicht jeden deiner physischen Körper mit La Sola ansprechen. Deine Zentrale, du weißt schon, die ist La Sola. Aber dich möchte ich wie einen Freund ansprechen. Und? Hast du ‘ne Idee?“
„Krümel“, sagt er kurz, knapp und trocken. Mein Gesicht muss in diesem Moment total entgleist sein, denn er schüttet sich aus vor Lachen. „Das war ein Scherz, Mann. Nein, habe ich diesmal nicht. Du hast, wie fast immer, die Ehre, mir einen zu verpassen.“
„Toll, dass du so gut aufgelegt bist. Dich, mein großer Reiter, nenne ich Twocloud. Was sagst du dazu?“
„Ich fühle mich geehrt, mein Bruder“, grinst er „Passt auch rein zufällig zu meinem Outfit. Aber jetzt, kleiner Mann, rauf aufs Pferd. Ich werde dir heute einiges zeigen.“
„Wir beide? Auf einem Pferd?“
„Junge, dreh dich mal um.“
„Ach du große… Okay, ich frage erst gar nicht, wo dieser Zossen plötzlich herkommt. Aber eins solltest du wissen: Ich kann nicht reiten!“
„Dann will ich dir mal was Neues erzählen: Du kannst reiten! Also labere nicht dumm herum, sondern begrüße dein Pferd.“
„Sorry, aber was sagt man zu einem Pferd“, frage ich ein wenig verstört.
„Nichts, Claude. Stell dich neben ihren Kopf und sprich in ruhigem Ton irgendwas nettes“, lächelt er mir zu, „sie versteht dich nicht, aber sie spürt, dass du ein feiner Kerl bist. Und wenn du ihr ganz beiläufig noch diesen Apfel auf der flachen Hand hinhältst, wird sie dich lieben.“
„Sie?“, frage ich, während mein Pferd genussvoll am Apfel nascht, „Sie ist eine Stute?“
„Genau. Und sie heißt Li. Aber jetzt schwing dich in den Sattel. Wir haben heute noch was vor. Ach ja, noch was: Denke nicht! Kapiert?“ Ich muss ein Gesicht machen wie ein Maultier, denn in seinen fantastischen Augen blitzt es amüsiert. „Denke nicht nach!“, wiederholt er nochmals, „Stell dir vor, du wärst der coolste Cowboy im Wilden Westen. Du schwingst dich auf dein treues Pferd und landest perfekt im Sattel, okay? Komm her.“
Netterweise hält er mir den Steigbügel fest, sodass er nicht fortschwingt, aber sonst muss er nicht nachhelfen und tatsächlich sitze ich im Sattel. Ich genieße den erhöhten Ausblick von Lis Rücken und halte mich unbeholfen am Sattelhorn fest. Twocloud geht nun auch zu seinem Pferd und sagt: „Setz dich aufrecht hin und lass dich nicht hängen. Du musst eine gewisse Körperspannung haben. Sie muss deine Energie wahrnehmen.“ Er schwingt sich behände in seinen Sattel, dreht sein Pferd in meine Richtung und sieht mich an. „Schau in mein Gesicht. Nicht nach unten. Ich bin dein Ziel. Li weiß, wo du hinschaust. Sie weiß, wo du hinwillst. Sie ist ein Lebewesen. Zwischen euch fließt Energie.“
Sein Pferd beginnt rückwärts zu gehen. Wie faszinierend das aussieht. „Also: Körperspannung. Bleibe in der aufrechten Haltung. Lass das Horn los und nimm die Zügel locker in beide Hände. Okay. Atme langsam tief ein. Schau zu mir. Ich bin dein Ziel. Wünsch dich zu mir.“
Er kommt näher. Sein Gesicht kommt näher. Aber sein Pferd geht immer noch rückwärts. Ich spüre jetzt erst die Bewegungen unter mir, so sehr habe ich mich auf mein Ziel konzentriert. Li geht! Li geht auf Twocloud zu! Ich bin happy. Ich reite.
„Das sieht cool aus, mein Bruder.“ Bei diesen Worten zeigt er einmal mehr sein breites Grinsen, das ihn oder sie oder es über alle seine Manifestationen begleitet. Ich liebe dieses Grinsen; es macht ihn so… menschlich.
Ich habe gelernt: Ich kann reiten. Also gesagt, getan. Tolles Gefühl. Wir reiten. Beide. Jeder auf seinem Pferd. Und ich lerne weiter. Im Verlauf unserer länger andauernden Tour erzählt er mir einiges über Reithilfen – zuvor wusste ich nicht einmal, dass es diesen Begriff gibt – und er bringt mir bei, dass ich mit dem Hintern und winzigen Verlagerungen meines Körpers mit Li kommunizieren kann. Sie ahnt, sie erkennt meine Wünsche. Sie läuft nach rechts oder links, sie rennt wie der Teufel und hat Freude dabei. Sie ist keine Maschine mit Gas, Bremse und Lenker, sie und ich sind ein Team. Es macht Freude zu reiten und es macht Freude, zu erkennen, dass man das Pferd nicht zwingen muss, dies alles zu tun. Man muss es ihm nur mitteilen. Ich hatte nie darüber nachgedacht, reiten zu lernen und nun bekomme ich dieses Wissen sozusagen eingehaucht. Spitze.
„Hey, Claude. Wie läuft’s?“, fragt Twocloud etwas später beiläufig.
Ich glaube, dass ich mindestens so breit grinse, wie er zuvor. „Herrlich, Twocloud! Ein ganz tolles Gefühl. Ich hätte nie gedacht, dass das so schön sein kann. Vielen Dank dafür.“
„Wofür genau…?“, fragt er.
„Na, dass du mir die Fähigkeit zum Reiten gegeben hast“, antworte ich erstaunt.
„Hab‘ ich nicht“, meint er knapp.
„Wie?“, frage ich entgeistert.
„Hab‘ ich nicht“, sagt er ein zweites Mal.
„Aha!“ erwidere ich, während mein breites Grinsen ein wenig einfriert. „Wieso kann ich’s dann?“
„Weil du es gewollt hast“, sagt er nur. „Weil du daran geglaubt hast, weil du an mich und an dich geglaubt hast.“
„Kein Witz?“ Ich denke, inzwischen grinse ich nicht mehr.
„Kein Witz!“, kommt zurück.
„Glaube versetzt Berge?“, frage ich zweifelnd.
„Da ist sehr viel dran, Claude, ehrlich. Und dabei geht es gar nicht um den Glauben an mich. Du musst an dich selbst glauben. Du musst an dein Vorhaben glauben, an dein Projekt, an deine Mission. Du musst an deine Fähigkeiten glauben. Ich habe dir, wie natürlich allen Menschen, sehr viele Fähigkeiten mitgegeben. Fähigkeiten, mit denen ihr vieles erreichen könnt. Ihr müsst diese Fähigkeiten allerdings nutzen, müsst sie fördern und stärken. Du kannst an deinen Herausforderungen wachsen. Mit jedem Einsatz deiner Fähigkeiten wird es dir leichter fallen, deine Aufgaben zu erfüllen. So wie du Muskeln trainieren kannst, kannst du auch dein Selbstverständnis und dein Vertrauen in dich selbst und in deine Fähigkeiten trainieren. Aber wenn du an dir selbst zweifelst, somit auch an meinem Werk zweifelst und demzufolge an mir zweifelst, wirst du sie nicht nutzen können. Glaube an dich, Claude. Dann glaubst du auch an mich und dann glaubst du an meinen Plan.“
„Ich hätte also schon immer ein Pferd reiten können, wenn ich mich nur fest entschlossen hätte, es zu tun?“, frage ich nochmal vorsichtig nach, um sicher zu sein, dass ich seine Aussage auch richtig verstanden habe.
„Kein Anfänger versucht sich an einem wilden oder untrainierten Pferd, aber ja, du hättest es gekonnt. Du hättest, nach einer guten Einweisung, jedes Pferd, welches zum Reittier ausgebildet wurde, reiten können“, sagt er eindrücklich. Und er fügt noch eine Spur eindrücklicher hinzu: „Es ist mir wichtig, dass du an dich glaubst, dass du an deinen Platz in meinem Plan glaubst. Zweifle nie an dir, auch wenn etwas nicht auf Anhieb funktioniert. Wirklich starke Menschen sind nicht die, denen fast alles in den Schoß fällt, sondern die, die sich niemals aufgeben. Suche einen anderen Weg über den Fluss, wenn die Brücke zerbrochen ist. Gib nie auf, sondern folge deinem Weg, auch wenn es nicht der kürzeste und einfachste ist. Wenn der Weg in eine Sackgasse führt, suche einen anderen Weg, einen neuen Pfad, um zu deinem Ziel zu gelangen oder ihm zumindest so nahe wie möglich zu kommen. Der Rest ergibt sich dann. Vertraue auf deine Fähigkeiten, denn sie sind mein Geschenk an dich.“ Während dieser Sätze sind wir zum Stehen gekommen. Unsere Tiere stehen Seite an Seite und wir beide schauen uns tief in die Augen. In diesem Moment weiß ich genau, dass ich dazu in der Lage bin.
„Du hast das echt drauf, mein Freund, weißt du?“, nehme ich das Wort wieder auf. „Du bringst die Sache so knallhart auf den Punkt, dass ich mich frage: Warum war ich mir dessen nicht bewusst? Warum muss mir das jemand sagen?“ Ich denke ein paar Sekunden über meine nächsten Worte nach. „Aber du liegst schon richtig. Man muss an sich selbst glauben, damit etwas klappt. Wenn man von vornherein mit der Einstellung beginnt, dass sowieso alles sinnlos ist, bringt man sich nicht wirklich ein. Nur braucht man wahrscheinlich ab und zu einen Tritt ins Hinterteil, um wieder in die Spur zu kommen“, sage ich und lächele ihn an.
„Oh, Tritte verteile ich gerne, Claude“, erwidert er, ebenfalls lächelnd und bedeutet seinem Pferd, weiterzugehen. Ich tue es ihm gleich. „Das Problem ist“, spricht er weiter, „dass man selbst oft gar nicht bemerkt, dass man wieder einmal einen Tritt nötig hat. Sehr oft beginnt man erst gar nicht mit einem Vorhaben, weil man nicht an einen möglichen Erfolg glaubt. So viele Menschen haben schon so viele Chancen ungenutzt vergehen lassen, weil sie nicht an sich geglaubt haben. Nutze deine Chancen. Glaube an dich. An Grenzen stößt du dort, wo du sie dir gesetzt hast. Wenn du immer nur den dicken Zeh ins Wasser hältst, wirst du nie schwimmen lernen. Du hast vor der Aufgabe ‚Reiten‘ einfach kapituliert, obwohl du es noch nie probiert hast. Dabei kannst du so vieles. Auch Sachen, die du zum ersten Mal machst. Nimm jede Herausforderung an und gib dein Bestes. Nur das bringt dich weiter.“
„Ich werde an mir arbeiten, mein Bruder“, sage ich betont schwülstig mit tiefer Stimme und lege die linke Faust im Indianergruß aufs Herz. „Aber jetzt bitte im Ernst: Hattest du schon einmal den Eindruck, dass ich nicht mein Bestes gebe?“, frage ich etwas verunsichert nach.
„Oh, nein! Ganz sicher nicht. Ich kam nur wegen deiner Reitkünste darauf. Ich weiß aber auch, dass jeder irgendwann an einen solchen Punkt kommt. Auch du wirst diesen Moment erleben. Du wirst den Zweifel aufkommen spüren. Du wirst dich fragen: mache ich hier noch weiter, oder ist sowieso alles vergebliche Mühe. Dann solltest du dich an dieses Gespräch erinnern.“
Einige Minuten lang verdaue ich das gerade gehörte und er lässt mir die Zeit, die ich brauche. „Und du hast beim Reiten echt nicht nachgeholfen?“, will ich noch einmal wissen, ich Idiot.
„Nein, kein Stück. Ich habe dich nur motiviert, an dich zu glauben. Hat geklappt, nicht wahr?“, fragt er lächelnd.
„Hat wunderbar geklappt“, antworte ich und auch auf mein Gesicht zaubert sich ein, zugegebenermaßen leicht selbstverliebtes, stolzes Lächeln.
„Ich habe dir allerdings auch klar gemacht, dass selbst unterschiedlichste Lebewesen miteinander kommunizieren können und eine starke und geradezu empathische Beziehung eingehen können. Du weißt durch Mandy, was ich meine. Ein Pferd kanntest du bislang noch nicht – und trotzdem hat es funktioniert. Denke immer daran.“ Er sieht mir durch die Augen tief in die Seele und ich weiß, dass ich diesen Moment nie vergessen werde. „Ihr Menschen“, fährt er fort, „verwendet fast nur noch eure Sprache als Kommunikationsmittel. Ihr versteckt euch praktisch dahinter. Ihr könnt damit lange Reden schwingen und trotzdem gar nichts sagen. Nichts von echter Wichtigkeit. Nur hohle Phrasen, leere Hülsen. Ihr habt verlernt, euch zu verständigen. Ihr müsst, um Missverständnisse zu vermeiden, so viele Worte zu Sätzen stapeln, dass sie dann doch wieder keiner versteht. Das ist schade.“ Er schaut wieder nach vorn und schweigt. Ich tue es ihm gleich.
Ja, man kann sagen, dass ich das Schweigen genieße und im Hufgetrappel einfach nur meinen Gedanken nachhänge. Nach einer Weile kommt mir das letzte Treffen mit Cassandra wieder in den Sinn und auch etwas, was ich sie, oder ihn, noch fragen wollte: „Eine Sache beschäftigt mich noch, Twocloud“, setze ich an.
„Frag mich einfach“, kommt die knappe Aufforderung.
„Als ich bei, nein, in Kamato war, das waren viele Stunden, oder?“
„Die Jagd war am frühen Vormittag und das Dorffest letztlich am Abend. Warum fragst du?“ lautet die nüchterne Analyse.
„Wo bleibt die Zeit? Als ich wieder Zuhause war, kam Julia gerade zurück“, erwidere ich und erwarte keine Antwort, die ich nicht schon zu kennen glaube.
Ohne anzuhalten sieht er beiläufig in meine Richtung und sagt, ebenso beiläufig: „Zeit ist keine Konstante, Claude. Nicht für euch und für mich sowieso nicht. Ich brauche keinen Kompass, um im Raum zu reisen und ich brauche keine Uhr, um in der Zeit zu reisen. Beide sind kein Geheimnis für mich. Selbst, wenn wir hier jetzt noch zwei Tage herumreiten, wirst du zum Ende deiner Pause wieder an der Blumenmauer sitzen. Das weißt du auch genau, du Schlingel. Du hast es bei vielen unserer Treffen schon erlebt. Aber du wolltest es direkt von mir hören, richtig?“
„Du hast mich ertappt. Wenn ich meine Erlebnisse niederschreibe, taucht mit Sicherheit früher oder später diese Frage auf. Du hast mir damit einen Rest Unsicherheit genommen. Das beruhigt mich“, bestätige ich ihn in seiner Annahme.
„Freut mich. Und? Wie gefällt dir das Reiten?“
„Ein tolles Gefühl. Aber so langsam merk’ ich’s am Hintern. Wohin sind wir eigentlich unterwegs, großer Häuptling?“
„Ich bin mit dir unterwegs, um dir etwas über die Selbstbestimmung der Menschheit zu zeigen.“
„Was genau meinst du mit Selbstbestimmung?“, frage ich ein wenig irritiert, denn ich fühle mich gar nicht fremdbestimmt.
„Lass uns warten, bis wir im Tal sind, dann erzähle ich dir etwas dazu…“
Wir folgen dem Pfad, der stetig bergab führt, bis er an einem schmalen Bachlauf leicht die Richtung wechselt und dann parallel zum Bach verläuft. Die Vegetation ist hier unten deutlich stärker vertreten als in den höheren Lagen. In der Ferne ist sogar ein kleines Wäldchen sichtbar und, direkt daran, glaube ich eine Art Siedlung zu erkennen. Ich bin gespannt, ob er wieder eine ‚Multiperformance‘ vorführen möchte, frage ihn aber nicht danach.
Kaum im Tal angekommen, kann ich mich nicht mehr zurückhalten: „Also: Was meinst du mit Selbstbestimmung?“
„Naja, wenn etwas zu entscheiden ist, was dich oder dein Umfeld betrifft. Oder wenn etwas deine Stadt oder Region betrifft“, sagt er nur.
Ich bin verdutzt und halte dagegen: „In meinem Umfeld kann ich doch selbst bestimmen und für die Stadt gibt es doch Stellen, die so was entscheiden. Also Leute, die für solche Entscheidungen zuständig sind. Verwaltungen, Stadträte, Bürgermeister oder was weiß ich.“
„Klar, gibt es die. Es gibt immer Verwaltungsleute, die dir solche Entscheidungen abnehmen. Die machen das sogar sehr gerne und die entscheiden selbstverständlich immer absolut in deinem Sinne, damit du dich ganz toll wohlfühlst, richtig?“, amüsiert er sich und grinst mich frech und provokant von seinem Pferd aus an.
„Nein, natürlich nicht. Aber sie entscheiden im Sinne der Allgemeinheit. Die geht nun mal vor den Wunsch eines Einzelnen“, versuche ich unser System zu verteidigen.
„Bist du sicher?“, kommt der schnelle und natürlich schon wieder sarkastisch klingende Konter. „Bist du sicher, dass diese Leute im Sinne der betroffenen Allgemeinheit entscheiden? Woher kennen sie den Sinn der Allgemeinheit? Haben sie jeden Betroffenen gefragt? Bist du schon mal von einem Entscheider gefragt worden?“
„Ja sollen die vor jedem Beschluss immer eine Umfrage veranstalten?“, gebe ich die Frage zurück.
„Wie sollen die denn sonst erfahren, was die ansässige Allgemeinheit eigentlich will? Oder entscheiden diese Leute vielleicht doch nicht in deinem, sondern in ihrem eigenen Sinne? Oder im Sinne ihres persönlichen Umfelds, ihrer Freunde, ihrer Familie? Oder im Sinne der Staatskasse? Oder im Sinne ihres Vorgesetzten? Oder der Regierung?“ Wie dicke Regentropfen prasseln die Fragen auf mich ein. Sein Tonfall ist aber nicht streng, sondern eher amüsiert.
Auch nach einigen langen Sekunden ist mir noch keine befriedigende Antwort auf seinen Fragenregen eingefallen, die nicht über einen Vortrag hinausgehen würde. Aber er erwartet das auch gar nicht, sondern spricht schon weiter: „Jetzt mal ernsthaft, Claude, wenn du das Glück hast, in einem mehr oder weniger demokratischen Land zu leben, darfst du alle paar Jahre eine oberste Ebene der Hierarchie wählen. Welche Köpfe die Chefebene dann aber einsetzt, wer also letztlich über dein Wohl und Wehe entscheiden wird, kannst du doch gar nicht beeinflussen. Stimmt’s oder hab’ ich recht?“
„Ja, okay, großer Häuptling“, muss ich zugeben, „vieles machen die gewählten Parteien nach den Wahlen auf eigene Faust. Es werden Koalitionen gebildet und Ministerposten verschachert. Das hat manchmal etwas von…“, gehen mir dann die Worte aus.
„Politik, mein Freund“, ergänzt Twocloud meinen angefangenen Satz. „Ich mache hier ein Zugeständnis, du kommst mir dort entgegen, wir machen zwar nichts so ganz richtig, aber jeder bekommt ein wenig Butter aufs Brot und mit dieser Larifari-Taktik schlängeln wir uns durch unsere Amtszeit irgendwie schon durch. Hauptsache, wir haben den Finger am Drücker und den fetten Hintern im Regierungssessel, stimmt’s?“
„Hmm. Schon. Ab und zu. Okay, schon sehr oft. Vor der Wahl wird viel versprochen nach der Wahl gibt’s faule Kompromisse. Wenn überhaupt“, muss ich dann doch leider zugeben. Die vorhin entdeckte Siedlung versteckt sich gerade hinter einer Wegbiegung. Das Wäldchen scheint doch höher und dichter zu sein, als es vom Bergpfad aus schien.
„Ja, das hat sich schon oft so gezeigt“, stimmt er mir zu, „und vor der nächsten Wahl werden dann wieder lauthals Phrasen gedroschen. Die Leute vergessen den Mist der letzten paar Jahre und fallen auf die neuen Versprechen herein. Immer und immer wieder.“ Er lacht und schüttelt den Kopf. „Das Problem ist, dass dir in dem Moment, wo dir etwas nicht passt, die Hände gebunden sind. Gewählt ist gewählt. Am Ende der Legislaturperiode ist das Kind im Brunnen schon lange ertrunken.“
„Die eine oder andere Enttäuschung hat sicher jeder Wähler schon einmal erlebt. Aber was willst du machen?“ frage ich ihn, „Die Leute wieder abwählen? Dann bleiben die keine sechs Monate im Amt.“
„Dann haben sie es nicht verdient, dort zu sitzen. Wenn du einen Helfer einstellst, um es leichter zu haben, der aber dann aus Unfähigkeit alles nur noch schlimmer macht, wie reagierst du? Hmm?“
„Ich schmeiße ihn wieder raus.“
„Ach nee, da geht das plötzlich?“, grient er mich belustigt an, „kleine Leute werden gefeuert, aber große ‚Leuchten‘ haben Narrenfreiheit?“
„Jetzt hast du mich wieder erwischt, nicht wahr?“ maule ich ihn etwas angesäuert an, muss dann aber vor mir selbst eingestehen, dass er nicht ganz unrecht hat. Fairerweise gebe ich es natürlich auch zu: „Tja, und nun kommen tatsächlich die anderen Faktoren dieser Hierarchien ins Spiel: Wir Wähler haben nur die Partei gewählt und auch gewählte Einzelpersonen gehören einer Partei an. Nur die Sieger-Partei oder Koalition könnte bestimmte Personen wieder aus dem Amt entlassen, was sie aber ziemlich sicher nicht tut, denn sie pisst sich ja nicht selbst ans Bein. Und so weiter und so fort, wie du gerade geschildert hast. Und wieder einmal hast du recht: Echte Selbstbestimmung ist das nicht wirklich.“
„Sag ich doch“, entgegnet er, fügt dann aber deutlich sanfter noch hinzu: „Dieser Teufelskreis ist für euch aber nicht leicht zu durchbrechen, denn ihr seid seit vielen Jahrtausenden auf eure Welt mit Geld, Macht und Einfluss geprägt. Ihr kennt ja nichts anderes.“ Schon beinahe mitleidig schaut er mich an.
„Deutlich mehr als die Hälfte eures Verwaltungsapparates braucht es allein nur, um diesen ganzen Wasserkopf zu verwalten“, legt er nach. „Diese Leute kümmern sich auf jeden Fall nicht um euch Wähler und eure Anliegen, sondern nur um sich selbst und den kleineren Teil des Apparates, die eigentlichen politischen Akteure. Stell dir vor, dass du entscheiden dürftest: auf wie viele Ministerien könntest du sofort und auf der Stelle verzichten? Und auf wie viele weitere, wenn du keinen Gedanken an Geld und Neid und Missgunst verschwenden müsstest? Und auf wie viele erst, wenn die Welt sich ohne Konflikte und Streitigkeiten einig wäre?“
„Das ist Wunschdenken“, rutscht mir raus, „Die Menschen sind dazu nicht bereit.“
„Weil sie nicht wollen, oder weil man ihnen gar nicht die Möglichkeit dazu anbietet?“, schießt er zurück. „Wozu brauchst du persönlich einen Finanzminister? Oder einen Wirtschafts- oder Verteidigungsminister? Denk doch einmal darüber nach, einfach so und nur für dich allein, welche Fachbereiche du eigentlich benötigen würdest. Bau dir doch einfach mal deine persönliche Wunschregierung zusammen.“ Ich schaue ihn nur wortlos an, aber er ist noch nicht fertig. „Warum überhaupt ‚Regierung‘? Wollt ihr regiert werden oder wollt ihr, dass eure Wünsche von kompetenten Koordinatoren geplant und umgesetzt werden? Das Wort ‚Minister‘ bedeutet ‚Diener‘, mein Freund. Die sollen euch dienen und nicht andersrum.“
Diesmal bleibt er still, schaut auf den Weg vor uns und tätschelt den Hals seines Pferdes.
„Okay“, sage ich, „wenn ich wirklich alles Negative unserer Zivilisation weglasse, wobei ich das rein hypothetisch sehe, müsste ich nur noch Dienste oder Dienststellen einsetzen, die sich mit der Optimierung bestimmter Sachen beschäftigen…“ Ich stocke, weil mir viel zu viele Gedanken durch den Kopf schießen. „Das geht nicht so hoppla hopp, Twocloud…, ich meine, wenn ich mir die Zukunft mit einer geeinten Menschheit ohne Grenzen vorstelle…, dann muss schon die Zuständigkeit dieser Dienste überdacht werden. Ohne Staatsgrenzen, ohne Länder…“, überlege ich laut vor mich hin, „da brauchen wir ein Raster, ein Netz. Quadrate oder Waben. Oder eine bestimmte Anzahl von Einwohnern…, oder eine Kombination von beidem…“ An dieser Stelle breche ich ab, denn es ist einfach zu kompliziert, sich mal eben ein neues Verwaltungskonzept aus dem Ärmel zu schütteln.
„Du liegst ziemlich gut mit deinen ersten Ideen, Claude“, regt sich Twocloud wieder. „Natürlich kannst du einen ganzen Planeten nicht zentral verwalten. Du brauchst Bereiche. Und du hast auch recht, wenn du die Bevölkerungsdichte mit betrachtest. Die Bereiche können nicht alle gleich groß sein.“
„Ja, genau“, gebe ich zurück, „in einem Wüstengebiet oder dem offenen Meer lebt kaum jemand, in Großstädten leben umso mehr Menschen.“ Inzwischen ist Li fast zum Stehen gekommen, weil ich über meine Gedankenspiele meine Körperspannung komplett vernachlässigt habe. Ich korrigiere mich und schließe wieder zu Twocloud auf. So ganz in Fleisch und Blut ist mir das Reiten wohl doch noch nicht übergegangen.
„Da bist du ja wieder“, lächelt er mir zu, „Machst du Fortschritte?“ Ich schaue ihn an, genau genommen an ihm vorbei, und stelle erstaunt fest, dass sich das Bild des Geländes dort vorne komplett gewandelt hat. Wir haben den Wald umrundet und von hier aus sehe ich eine richtige Siedlung vor uns. Nicht, wie ich aus der Entfernung annahm, ein Eingeborenendorf, sondern Gebäude aus hochmodernen Materialien. Sie sind aber dermaßen geschickt in die hügelige Landschaft integriert, dass ich nur Teile von ihnen erkennen kann. Vielleicht reichen die Bauten bis unter die Hügel oder sogar noch weiter hinab in die Erde.
Bis vorhin hatte ich uns irgendwo in Arizona oder einem ähnlichen Gebiet vermutet, aber eine derartige Architektur habe ich noch nie zuvor gesehen. Grüne Kuppeln stehen verstreut im Gelände, von denen einige durchsichtig sind und ebenso bemerke ich pilzförmige Gebilde unter dessen schattenspendenden Hüten sich gepflegte Rasenflächen finden. Bei näherem Hinsehen erkenne ich einen Weg zwischen einer der Kuppeln und mindestens zwei der nächstliegenden Pilze. Wenn ich die Augen in der Sonne etwas zusammenkneife, glaube ich sogar, Bewegungen zwischen Kuppelbau und Pilzbau wahrnehmen zu können. Die Gebäude sind offenbar doch viel größer als ich angenommen hatte. In diese Erkenntnis hinein dämmert mir, dass Twocloud mich gerade etwas gefragt hatte. „Nein, ich bin nicht wirklich weitergekommen. Es ist sehr komplex, dieses Thema. Aber sag mal: Was ist das dort?“
„Das ist eine Siedlung der hiesigen Menschen. Anders als bei euch, nicht wahr?“, entgegnet er.
„Allerdings. Ganz anders. Diese Gebäude sehen aus, als wenn sie aus industriellen Baustoffen gefertigt wären, aber ich sehe keinerlei Infrastruktur. Wo sind die Wohnungen, die Straßen und alles“, frage ich ihn.
„Alles unterirdisch“, antwortet er, „fast alle Wohneinrichtungen in dieser heißen Gegend befinden sich dort. Das ist aber nicht überall auf dieser Welt so. Überirdisch sind hierzulande nur die Anbaugebiete für pflanzliche Lebensmittel angelegt, die hier heimisch sind“, erklärt er mir dazu. „Sie liegen aber außerhalb und können schnell mit Rohrbahnen erreicht werden.“
„Also fahren die Menschen mit der Bahn zur Feldarbeit und abends zurück“, schließe ich daraus.
„Die eigentliche Arbeit ist weitestgehend automatisiert, aber mehrmals täglich schaut jemand nach dem Rechten“, erklärt er weiter, „Sie wollen sich nicht ausschließlich auf die Maschinen verlassen.“
„Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser?“
„Sicher ist sicher. Wenn eine Bewässerung streikt und die Sensoren zufällig auch…, sie sind stolz auf ihre Landwirtschaft und auf ihre Technik. Aber auch sie kennen Fälle, die eigentlich nie hätten passieren dürfen.“
„Ich kann auch ein Lied davon singen“, muss ich Schmunzeln, „Manchmal geschehen die unmöglichsten Sachen, alle zur gleichen Zeit.“
„Wir werden uns jetzt unter die Leute mischen“, sagt Twocloud und steigt vom Pferd. Ich schwinge mich ebenfalls aus dem Sattel und spüre ein Kribbeln im Bauch. ‚Unter die Leute mischen‘, überlege ich leicht nervös, welchen Trick wendet er heute nun wieder an? Doch er schlendert einfach los, dreht sich kurz um, fragt: „Kommst du?“ und läuft direkt weiter.
„Ähhh, warte mal, Häuptling! Latschen wir jetzt einfach zu denen rüber und sagen: ‚Hallo, wir kommen von einem weit entfernten Planeten und wollen euch ein bisschen zugucken‘ oder wie jetzt?“
Er lacht laut, aber niemand schaut in unsere Richtung. ‚Die nehmen uns gar nicht wahr‘, stelle ich fest und folge ihm, ein wenig beruhigter, auf dem Fuße. Ich kann schon einige Details erkennen. Die Wesen sehen uns Menschen sehr ähnlich, sind aber durchwegs kleiner und etwas stämmiger. Ihre Haut wirkt leicht metallisch, etwa wie Bronze. Sie alle tragen keine offensichtliche Kleidung – oder sollte diese Bronzeschicht vielleicht nicht natürlichen Ursprungs sein? Ich sehe keine Behaarung an ihnen…
„Was machen wir hier, Twocloud? Und, verdammt, wie machen wir das eigentlich?“, frage ich ihn, mit einem leicht nervösen Klang in meiner Stimme.
„Wir schauen einfach nur zu, mein Freund. Hier in dieser Kuppel gibt’s was zu sehen. Lass uns reingehen“, gibt er gutgelaunt zurück und drückt mich gegen die automatische Tür, auf die wir zugelaufen sind. Die Tür öffnet sich aber leider nicht und ich frage mich noch, was das werden soll, als ich auch schon durch die Scheibe hindurch flutsche. Durch die geschlossene Scheibe der Schiebetür! Was zur Hölle…
„Ähm, lustig. Sag schon: Wie?“, spreche ich ihn mit leicht verkniffener Miene an. „Wir befinden und auf einer anderen Ebene als diese Zivilisation, Claude“, kommt lapidar zurück.
„Ist ja pfiffig“, entgegne ich, „und warum fallen wir dann nicht durch den Fußboden?“
„Schlaues Bürschchen, der Claude“, meint er anerkennend, „Einige Elemente überdecken mehrere Ebenen. Das wiederum hängt mit der Zeit zusammen“, grinst er mich an.
„Okay. Nach gewissen Feinheiten wie den Photonen, die unsere Netzhaut treffen, frage ich besser gar nicht, oder?“, grinse ich zurück.
„Besser nicht“, kommt die knappe Antwort. „Schau doch lieber, was die Leutchen dort drüben sich hübsches anschauen“, fordert er mich stattdessen auf.
„Moment noch. Können wir über dieses Raumzeitding bei Gelegenheit mal reden?“, werfe ich schnell noch ein, während er mich schon in die Richtung der Menschen, oder besser, Wesen schiebt.
„Das wird kompliziert, mein Freund. Aber ich lasse mir was einfallen“, antwortet er in nachdenklichem Tonfall.
Ich gehe ein bisschen näher an den mittleren Teil des zentralen Raumes innerhalb der Kuppel heran. Dort erkenne ich ganz offensichtlich ein Miniatur-Modell dieser Wohnanlage. Es sieht detailgetreu so aus, wie die Anlage beim Näherkommen tatsächlich auf mich gewirkt hat. Um dieses Modell haben sich etliche Leute versammelt, bilden Grüppchen, deuten von Zeit zu Zeit auf das Modell und reden miteinander darüber. Bei einigen von ihnen sehe ich direkt vor ihrem Gesicht eine schimmernde Fläche, über die sie zu kommunizieren scheinen.
Die Situation ist total verrückt; ein Cowboy und ein Indianer spielen in einem Science-Fiction-Film als unsichtbare Beobachter eine Nebenrolle. So etwas lässt sich wohl kaum noch steigern. Ich sammle mich ein paar Sekunden und reiße mich selbst aus dieser Vorstellung heraus. „Was machen die da, Twocloud?“
„Sie schauen sich verschiedene Versionen einer geplanten Änderung ihrer Siedlung an und entscheiden dann, ob eine, und wenn ja, welche davon umgesetzt wird“, erklärt er mir und strahlt über das ganze Gesicht.
„Also eine Baukommission. Eine tolle Technologie haben die hier jedenfalls. Nach welchen Kriterien beurteilen sie die Vorschläge?“, frage ich weiter nach und wundere mich ein wenig über seine hervorragende Laune.
„Baukommission?“, schaut er mich entgeistert an, „Nein, Claude. Diese Leute wohnen hier. Sie alle wurden schon vor längerer Zeit informiert, dass von einigen Anwohnern Vorschläge für eine Verbesserung des Wohnumfeldes eingegangen sind. Dann stimmten alle ab, ob sie die Vorschläge unterstützen oder nicht.
„Also: Die Bürger machen Vorschläge, über die sie selbst abstimmen? Wie jetzt?“
Er lacht mich freundlich an und sagt: „Ein Bewohner, oder vielleicht auch mehrere, haben eine Idee. Sie stellen diese Idee ihrem ‚Prozent‘ vor. Der überdenkt, ob er über diese Idee mit seinen 100 Leuten allein entscheiden kann, oder ob er sie auch seinem ‚Prozent‘ vorstellen sollte. Wenn die richtige Gruppengröße ermittelt wurde, erstellt der leitende ‚Prozent‘ eine Abstimmung und leitet sie an alle Menschen der Gruppe durch. Die denken dann darüber nach, oder sie treffen sich an Informationsplätzen wie diesem hier. Wenn sie einen Entschluss gefasst haben, geben sie ihn an ihren ‚Prozent‘ weiter, der ihn weiter an seinen ‚Prozent‘ gibt, bis alles beim leitenden ‚Prozent‘ ankommt. Dann wird das Ergebnis der Abstimmung verkündet und es kann gehandelt werden. Soweit alles klar?“
Ich überlege noch ein paar Sekunden, um mich selbst davon zu überzeugen, ob ich das Gesagte tatsächlich verstanden habe. „Die Menschen reichen ihre Vorschläge an eine Art Oberhaupt und der trifft die erste Entscheidung. Dann gibt’s aber doch auch hier einen Chef, einen Entscheider, oder nicht?“, entgegne ich und schaue ihn fragend an.
Er lächelt mich verstehend an und korrigiert mich: „Ja und Nein. Die Menschen reichen ihre Vorschläge ein. Das ist richtig, aber der sogenannte ‚Prozent‘ ist einer aus ihrer 100 Menschen umfassenden Gruppe. Und zwar irgendeiner. Einer, der von der Software zufällig ausgewählt wird.“ Sein Lächeln wird eine Spur intensiver, als er meine staunende Miene wahrnimmt. „Der ausgewählte ‚Prozent‘ entscheidet auch nicht, ob der Vorschlag angenommen wird, sondern nur, ob er innerhalb dieser Gruppe entschieden werden kann. Kommt er zu dem Schluss, dass der Vorgang weitreichender ist, gibt er ihn an die nächste Übergruppe von 100 x 100 Menschen weiter. Dort passiert dasselbe. Bis ein Punkt erreicht ist, an dem die Gruppe zu groß ist. Dann werden alle Untergruppen über den Vorschlag informiert und stimmen intern ab, ob sie sich betroffen fühlen. Alle Nein-Gruppen sind danach raus. Alle Ja-Gruppen bleiben im Prozess und dann kommt es, unter anderem, zu solchen Meetings wie diesem hier und heute. Sind alle Fragen geklärt, wird abgestimmt.“ Aus dem Lächeln wird langsam ein leicht provokantes Grinsen. „Ist dir jetzt klarer geworden, wo der Unterschied zu eurem System liegt?“
„Ach, hör doch auf“, setze ich an, „es muss doch ein wahnsinniger Verwaltungsaufwand dahinterstecken. Das muss doch geregelt werden“, führe ich fort und zeige ein zweifelndes Kopfschütteln.
„Nein, brauchst du nicht“, ruft er begeistert, „Überleg’ doch einfach: Die erste Entscheidung fällen 100 Menschen, korrekt?“, fragt er.
„Ja, ist soweit klar, aber das sind doch nur eine Handvoll Leute“, verteidige ich meine Zweifel.
„Im nächsten Schritt sind es 100 x 100 Menschen. Da hast du schon 10.000 Leute im Boot“, redet er unvermindert euphorisch weiter. „Okay, immer noch keine Großstadt. Aber spinn’ das ruhig weiter: Mit nur fünf Stufen, also 5 beteiligten Entscheidern, kannst du 10 Milliarden Menschen nach ihrer Meinung fragen. Das deckt euren ganzen Planeten mit all seinen Bewohnern ab.“ Er sieht mich an und wartet auf eine Reaktion, die aber nicht kommt.
Ich sage nämlich zunächst gar nichts mehr und zähle still eine Null nach der anderen ab. Ich bemerke auch kaum, dass er mich langsam zurück zur Tür führt und wir wieder ins Freie treten. Immer zwei Nullen mehr bei jeder Stufe…
1. Prozent 100
2. Prozent 10.000
3. Prozent 1.000.000
4. Prozent 100.000.000
5. Prozent 10.000.000.000
Und dass die Erde irgendwas zwischen sieben und acht Milliarden Menschen beherbergen soll, war mir auch bekannt, weil ich mir bei einer anderen Gelegenheit bereits Gedanken zur angeblichen Überbevölkerung gemacht hatte.
Verdammt! Er, sie, es, schafft es immer wieder, mir mit simpelsten Mitteln zu zeigen, dass es auch anders geht. Anders als bei uns Menschen. „Warum, zum Teufel, kommen die auf so eine Idee?“, brause ich auf, was mich selbst überrascht, „Warum haben die keine Machtgelüste? Warum brauchen die keinen Herrscher, keine Regierung, die ihnen sagt, was sie zu tun haben? Sind die intelligenter als wir?“
Inzwischen sind wir schon so weit von der Siedlung entfernt, dass die beruhigenden Geräusche der Natur die eher unruhigen Töne der Zivilisation überdeckt haben. Der Wind rauscht leise durch das kleine Wäldchen.
„Nein, Claude, sind die nicht“, klärt er mich auf, während wir nebeneinander über eine Wiese schlendern. „Das hat auch gar nichts mit dem zu tun, was ihr als Intelligenz bezeichnet. Aber da bewertet ihr ja auch nur das, was ihr euch unter Intelligenz vorstellt“, sagt er halb in Gedanken. „Als wenn man wahre Intelligenz in Schablonen pressen könnte.“ Er hält mich am Arm fest und wir drehen uns zueinander. „Wenn einer von euch, dank seiner geistigen Fähigkeiten, andere meisterhaft manipulieren kann, um so das Beste für sich herauszuholen, ist er dann intelligent? Oder einfach nur ein rücksichtsloses und egozentrisches Arschloch?“
„Das weiß ich doch nicht“, antworte ich wahrheitsgemäß, mit einem leicht deprimierten Unterton in der Stimmfarbe. „Ich habe auch nicht die geringste Ahnung, wie sogenannte Intelligenztests funktionieren.“
„Das spielt doch jetzt auch keine Rolle“, sagt Twocloud etwas gedämpfter, bevor er sich rücklings ins hohe, duftende Gras fallen lässt. „Eines aber ist wahr, mein Freund: Nach dem Erwachen der Intelligenz ist bei den Menschen etwas aus dem Lot geraten. Nur wenige sind auf meinem Pfad geblieben.“
Chang hatte mir vor einiger Zeit in der Arztpraxis fast dasselbe gesagt, erinnere ich mich. Ich setze mich Twocloud gegenüber ins Gras und schaue ihm eine Weile in die Augen, die den Himmel abzusuchen scheinen. Diese unsagbar tiefgründigen und allwissenden Augen, in denen ich alles finde, was ich jemals gesucht habe und noch viel mehr, was ich wahrscheinlich nie verstehen werde.
„Ihr hattet schlaue Köpfe in eurer jüngeren Vergangenheit“, ergreift er wieder das Wort und stützt sich auf die Ellenbogen, „Da hatte ein Baron von Montesquieu die Idee der Gewaltenteilung. Um einen möglichst gerechten Ausgleich zu schaffen, sollte eine Regierung in drei unabhängige und sich gegenseitig kontrollierende Organe aufgeteilt werden. Die Exekutive, die Legislative und die Judikative.“
„Ja, aber genau so haben wir das doch bei uns sehr oft. Wieso läuft es dann nicht rund?“, frage ich ihn frei heraus.
„Weil es meist eine Lüge ist, Claude. Weil eure Gewalten durch starke politische Parteien verwoben sind wie ein Spinnennetz. Weil eure Gewalten gar nicht wirklich geteilt sind, sondern die Posten nach Parteizugehörigkeit vergeben werden. Weil politische Seilschaften zwischen den Gewalten geknüpft wurden. Und wenn ein Beteiligter nicht ‚auf Linie‘ ist, muss er um seine Reputation fürchten.“
„Ich würde dir sehr gern widersprechen, Twocloud, aber ich kann es nicht. Denn ich hatte schon mehr als einmal genau dieses Gefühl“, murmele ich vor mich hin, zupfe einen Grashalm und versuche, einen Ton darauf zu blasen. Dass es nicht gelingt, bessert meine Laune nicht wirklich.
„Welches Gefühl?“, höre ich.
„Nun, das Gefühl, dass die Regierung selbst Gesetze bricht und nicht dafür belangt wird. Dass die Regierung die Regeln für ihr Spiel selbst schreibt. Und noch einiges mehr“, lautet meine düstere Antwort. Twocloud schaut mich nur kurz an und lässt den Kopf wieder ins Gras sinken – und auch der Grashalm schweigt noch immer.
„Mmmhmm, stimmt“, sagt Twocloud plötzlich.
„Wie, stimmt?“, frage ich.
„Was du gerade gesagt hast. Was du befürchtest. Dein Gefühl, verstehst du? Das stimmt.“ Er richtet sich auf und setzt sich gerade hin. Dann legt er seine Handflächen auf die Brust und spricht weiter: „Dein Gefühl trügt dich nicht. Und dies, obwohl du in einem ziemlich freien Land lebst. Du wirst trotz deiner relativen Freiheit gegängelt und verarscht.“ Er lässt die Arme wieder sinken. „Was sollen erst die armen Leute sagen, die in Diktaturen oder Monarchien leben? Oder die, die unter einem Warlord oder als Sklaven leben?“
„Wow, jetzt kommt’s aber dicke. Wie soll ich all denen helfen? Die legen mich schneller um, als ich Amen sagen kann“, schießt es aus mir heraus, aber er lacht nur laut und hört gar nicht mehr auf damit und auch das verbessert meine Laune nicht wirklich.
„Sorry, mein Freund, so traurig das Thema auch ist, ich sah dich gerade mit einem Gebetbuch in der Hand mitten in der Pampa stehen, umringt von Typen mit Maschinenpistolen“, kriege ich zu hören und sehe Ströme von Lachtränen in seinen Augen. Ich schaue ihn mehrere Sekunden lang nur dämlich an, aber…, irgendwie springt es über. Und so sitzen da zwei Westerndarsteller im Gras, auf irgendeiner Welt im Universum, unweit einer Siedlung außerirdischer Lebewesen, die sie nicht sehen oder hören können und lachen sich kaputt. Hört der eine auf, um Luft zu schnappen, steckt ihn der andere wieder an.
Und einen solchen, unglaublichen Mist schreibe ich hier auf und habe schon wieder Tränen in den Augen. Einerseits, weil ich mich in diesem Moment wieder wie auf der Wiese liegend fühle und andererseits, weil ich genau weiß, dass es nur eine Erinnerung ist und ich allein vor meiner Tastatur sitze.
Irgendwann beruhigen wir uns dann doch und liegen ruhig im Gras. „An diesen Tag werden wir noch lange denken“, sagt Twocloud und richtet sich auf. „Du musst nicht allen helfen. Du musst nicht alle retten. Du musst ihnen nur sagen, wie sie sich selbst helfen können.“ Auch ich setze mich hin und lausche seinen leisen Worten. „Sie entscheiden, ob sie deinen Worten folgen. Ich zeige den Menschen, dass es andere Wege gibt, auf denen sie gehen können. Dass sie es tun, steht nicht in meinem Gesetz. Sage ihnen das.“ Er zieht die Beine an und bildet einen Schneidersitz. „Es muss keine Armen und keine Reichen geben. Es muss keine Herrscher und keine Beherrschten geben. Der gegenseitige Respekt und die Liebe und die Achtung des Lebens sind das Wichtigste. Uns beiden muss klar sein, dass wir die Menschen nicht in Tagen, in Wochen, oder in Monaten erreichen werden. Aber die Saat müssen wir ausbringen.“ Die Unendlichkeit in seinen Augen zieht mich, nicht zum ersten Mal, in ihren Bann und immer noch leise, beinahe flüsternd, spricht er weiter. „Dann, Claude, müssen wir hoffen. Hoffen, dass die Keimlinge nicht vor der Ernte verbrennen. Lass uns Menschen erreichen. Jeder einzelne zählt“ Die Sogwirkung seiner Augen schmerzt schon fast und ich schließe meine brennenden Augen, um mich auf seine leise Stimme zu konzentrieren. „Wenn einer von ihnen zwei weitere erreicht, löst sich bald eine Lawine der Vernunft. Denk an die alte Sage des Königs, seines Schachbrettes und den sich verdoppelten Reiskörnern.“
Das Brennen in meinen Augen lässt langsam nach und Twocloud schweigt nun. Ich kenne diese Erzählung über das Schachbrett und nehme mir vor, sie nochmal zu lesen. Vorsichtig öffne ich die Augen und bin enttäuscht. Ich bin allein. Das Gras zu meinen Füßen gehört zu der Blumenmauer im Hofgarten der Firma, für die ich arbeite. Ich entschließe mich spontan, heute früher Feierabend zu machen. Es war ein langer Tag und ich habe viel gelernt.
Die Einzige wird dich leiten – La sola gvidos vin
#lasolagvidosvin – #lasolaicu
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- 5b Geld macht nicht glücklich
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