10a Über die Kinder La Solas

Wenn du mittendrin anfängst, verstehst du nicht alles: Beginne lieber am Anfang.

Es war ein wirklich schöner Tag heute. Ein wenig kühl vielleicht, aber eine eher trockene Kälte, in der man sich durchaus wohlfühlen konnte. Nicht so unangenehm, wie die vergangenen feuchtkalten Tage. Meine Julia und ich wollten diesen Tag mit einem lange überfälligen Restaurantbesuch ausklingen lassen. Also hatten wir uns für ein chinesisches, oder besser, asiatisches Buffet entschieden. Das Lokal ist sehr hübsch eingerichtet – und das natürlich im asiatischen Stil. Nun ja, zumindest so, wie man sich in Europa ein asiatisches Restaurant nun mal vorstellt. Es herrscht insgesamt ein warmer Farbton, der durch rote Bodenbeläge mit chinesischen Schriftzeichen und Blumenmalereien an den Wänden sowie warmweiße Beleuchtung aus kristallenen Leuchtern erzeugt und von gläsernen Trennwänden mit aufgemalten Tiermotiven und vielen Grünpflanzen in Hydrokultur unterstützt wird. Ein wirklich schönes Ambiente. Selbst die Mitarbeiter tragen eine hierzu passende traditionelle Kleidung. Eine junge Chinesin, zumindest vermute ich das, begleitet uns zu unserem Tisch und nimmt schon einmal die Bestellung der Getränke auf.

Der vielfältig aromatische Duft der Speisen und Gewürze liegt in der Luft und leise klingen asiatische Instrumentalmelodien durch die Räume. Ich schnuppere den exotischen Gerüchen genussvoll nach. Weil Julia sich in den Waschräumen noch schnell frisch machen wollte, sitze ich allein am Tisch und nutze die Zeit, um diese Eindrücke in mich aufzunehmen. So ein bisschen fühlt man sich wie im Urlaub am anderen Ende der Welt. Am Nebentisch wird laut gelacht und gefeiert. Eine ältere Dame am Kopf des großen Tisches scheint Geburtstag zu haben, denn die Gesellschaft prostet ihr gerade zu und lässt sie dreimal hochleben. Glücklicherweise hält die gläserne bunte Trennwand die meisten Geräusche zurück, denke ich noch, als eine Bedienung mit leicht gesenktem Blick auf unseren Tisch zugelaufen kommt.

Nicht so schlimm, denn wir beide hatten uns bereits in der Menükarte umgesehen. Uns war heute nicht nach ‚freier Auswahl‘ und so hatten wir uns für ein bestimmtes Gedeck für Zwei inklusive Vor- und Nachspeise entschieden. Also ziehe ich die Karte ein wenig an mich heran, um im Zweifelsfall noch einen raschen Blick auf die Nummer vor dem Gericht werfen zu können. Auch diese Chinesin, oder was auch immer, trägt ein traditionelles Gewand. Auf einem rot leuchtenden Grundton ist der Stoff reichlich mit Blüten, Blumen und Früchten versehen und in ihrem schwarzen Haar steckt eine wunderbar dazu passende rote Blüte.

„Willkommen im Asia-Tempel“, spricht sie mich an, „mein Name ist Majikku. Darf ich mich zu dir setzen, Claude?“

Viele Sachen passieren in diesem Moment und einige davon werde ich wohl erst später voll und ganz auf die Reihe kriegen. Erstens bin ich total überrascht und brauche ein paar Sekunden, bis ich realisiere, wer da vor mir steht. Zweitens verstummen die Geräusche von den anderen Tischen um mich herum. Weil ich befürchte, dass gerade alle Augen auf uns gerichtet sind, schaue ich mich verlegen um. Aber niemand blickt zu uns herüber. Die Leute sitzen nach wie vor an ihren Tischen und sind reglos. Und zwar wirklich reglos. Nichts rührt sich mehr. Die Szene wirkt wie ein Standbild aus einem Film auf mich. Drittens läuft die asiatische Musik vollkommen unbeeindruckt von dieser Situation einfach weiter. Viertens steht mir, wie ich plötzlich feststelle, der Mund auf und fünftens steht die Bedienung immer noch nett lächelnd vor mir und macht gar keinen eingefrorenen Eindruck. „Ich…? Sitzen…? Fremder…?“, sagt sie ganz langsam und unterstützt dies mit deutlichen Gesten, um diesem Idioten vor ihr klarzumachen, dass sie noch da ist.

Schlagartig kehre ich in die Wirklichkeit zurück, obwohl diese Wirklichkeit im Augenblick sehr unwirklich auf mich wirkt. „Madschi… wie..?“, sage ich, was zur Begrüßung sicherlich ziemlich unpassend ist.

Sie lacht auf und schaut mich zum ersten Mal richtig an. Wäre sie so auf unseren Tisch zugekommen, wäre ihre List gescheitert. Die Augen von La Sola blicken mir tief in die Seele und wer weiß, bis wohin noch. „Majikku heiße ich, wenn das nicht zu schwierig für dich ist“, sagt sie.

Natürlich darf sie sich setzen, aber doch nicht ohne eine anständige Begrüßung, denke ich und eile um den Tisch herum auf sie zu. Ihre Kleidung fühlt sich angenehm kühl an, denke ich, als wir uns umarmen, aber ihre Wangen und Hände verströmen die erwartete Wärme und selbstverständlich ist da auch diese sagenhafte Energie, die mich sofort durchflutet und stärkt wie im Schnelllademodus. Soviel unbändige Kraft aus einem so kleinen und zierlichen Körper. Eine kleine Weile stehen wir so und ich erinnere mich an unsere letzte gemeinsame Zeit.

„Du verrücktes Huhn“, flüstere ich ihr ins Ohr, „Kimono, ja?“

Sie kichert mit einer recht hellen, aber sehr angenehmen Stimme.

„Die meisten Europäer können einen Kimono sowieso nicht von einem Yukata oder einem chinesischen Hanfu unterscheiden“, antwortet sie amüsiert. „Einen echten mehrlagigen Kimono kannst du allein kaum anziehen.“

„Und was trägst du da jetzt genau?“, frage ich, neugierig wie immer, nach.

Sie drückt mich ein wenig von sich ab und ich schaue in ihr lächelndes Gesicht. „Das ist so ein Zwischending aus einer chinesischen Näherei. Es sieht ziemlich echt aus, kann aber recht einfach an- und abgelegt werden. Praktisch für den Job als Kellnerin.“

„Du bist trotzdem bescheuert. Aber schon mal gut, dass du hier nicht in einem Sack aufgetaucht bist“, sage ich. „Wollen wir uns setzen?“

„Oh, die haben hier hinter dem Haus einen ganz tollen Garten. Lass uns lieber etwas laufen“, erwidert sie.

„Ist es dir nicht zu kühl draußen? In deinem Kimono, meine ich.“

„Kein Problem. Ich habe etwas nachgeholfen“, sagt sie nur und zieht mich in Richtung einer Glastür, die nach hinten führt.

Keine zehn Meter links von mir sehe ich Julia, die wohl gerade zum Tisch zurückkehrt. Auch sie steht wie angewurzelt dort, was mir irgendwie total leidtut, aber Majikku zieht mich schon weiter in Richtung Tür.

Ich traue meinen Augen kaum, denn ich sehe durch die Glastür einen wunderschönen Garten, auf den die Sonne scheint und ich sehe Bäume, die in voller Blüte stehen.

„Deine Fähigkeiten sind, einmal mehr, sehr beeindruckend, meine Liebe“, muss ich gestehen.

„Ich weiß. Aber es gefällt mir halt besser, als über frostharten Boden zu gehen“, bekennt sie ganz ehrlich und ohne eine Spur von Überheblichkeit.

„Hast du einen bestimmten Grund für deine Anwesenheit, Majikku?“, möchte ich von ihr wissen.

Sie lacht laut, aber es kann uns ja niemand hören. „Nein. Ehrlich nicht. Ob du’s glaubst oder nicht: Ich wollte dir echt nur den Kimono unter die Nase reiben. Nicht böse sein, ja?“

Wieder einmal bleibt mir die Spucke weg. Das mächtigste Wesen im gesamten Universum bittet mich, einen gerade der Steinzeit entwichenen Primaten, ihm einen Scherz nicht übel zu nehmen. Das ist… einfach… ich weiß nicht. Ich muss meine Freudentränen durch meinen engen Hals zurück drücken.

„Ich könnte dir niemals böse sein, kleine Majikku“, kriege ich kratzig über meine Lippen.

„Du bist mir wirklich wichtig, Claude“, sagt sie ganz sanft, weil sie meine Emotionen spürt. Sie nimmt meine Hand und schlendert, mit mir im Schlepptau, durch den Frühlingsgarten.

Nach zwei bis drei Räusperern geht es mir wieder besser und ich schließe auf.

„Aber wenn du schon hier bist: Wir hatten doch schon einmal über die Selbstbestimmung gesprochen, nicht wahr?“ erkundige ich mich.

„Sicher“, erwidert sie. „Schon mehrmals. Warum?“

„Du kannst mir mal einen göttlichen Tipp geben: Wie werde ich meine Regierung los?“, frage ich direkt drauf los.

Sie lacht auf. „Wähl doch einfach eine andere. Ihr habt doch eine Demokratie, oder nicht?“

„Kleiner Witzbold. Was ändert sich dadurch?“, grummele ich nur.

„Hmmm…“, macht sie vielsagend und zieht mich zur Seite, wo eine, grün angemalte, kleine Bank steht.

„Korrekt. Nix. Und die meisten Leute sind Lemminge oder haben bereits aufgegeben“, antworte ich, während wir uns darauf niederlassen.

„Das Ansehen der Großen beruht auf der Ehrfurcht der Kleinen, sprach einmal einer eurer schlauen Köpfe“, rezitiert sie. „Aber, sag mal, wie wäre es mit einer ganz neuen Partei?“

„Eine Partei gründen?“, verziehe ich meine Mundwinkel, „Ich hab’ ja sonst nichts am Kopf, oder? Job, Familie, Hausarbeit und ganz nebenbei noch La Solas Wort verkünden.“

„Huch, du Armer“, erschrickt meine kleine Asiatin gespielt, „Wenn ich Zeit habe, bedauere ich dich ganz, ganz viel“, nickt dabei ein paarmal mit dem Kopf und streichelt mir über meine Haare.

„Danke für dein Mitgefühl, du erbarmungsloses Wesen“, knirsche ich, „Ist das vielleicht japanische Höflichkeit?“

„Oh, Schande über mich. Bitte vergib mir.“ Sie springt wieder auf und wirft sich vor mir auf die Knie. „Vergib mir mein unwürdiges Verhalten, ehrenwerter Claude-Sensei. Bitte strafe mich nicht. Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist.“

„Wimmere nicht, Weib“ sage ich mit strenger Stimme, um sie dann aber sofort hochzuziehen. „Du machst dich nur schmutzig.“ Ob das die Retourkutsche für meinen Kniefall vor Claudia war, will ich gar nicht wissen, aber ihr Auftritt war echt bühnenreif. „Sensei?“, frage ich stattdessen nach, „Sind das nicht diese Judolehrer?

„Lehrer stimmt“, gibt sie mir recht und setzt sich wieder, „Das gilt aber auch für andere ehrenwerte Mitmenschen. Zum Beispiel Ärzte, Professoren, Anwälte oder – tataa – Politiker.“

„Wow! Was davon bin ich?“

„Na, der Aufklärer der Menschheit natürlich“, antwortet sie lachend. „Ist das nicht wichtig genug?“

Ich mache ein nachdenkliches Gesicht und kraule mein Kinn. „Doch, finde ich auch. Was heißt eigentlich allerallerbeste Freundin?“

Sie grinst über beide Ohren. „Chan hinter dem Vornamen ist eine ganz liebe Anrede für allerbeste Freunde, den Lebenspartner, oder auch Kinder.“

„Majikku-Chan… Das klingt schön. Was bedeutet Majikku eigentlich?“

„Das könnte man mit ‚Magie‘ oder ‚die Magische‘ übersetzen“, klärt sie mich verschmitzt lächelnd auf.

„Ach, wie passend. Pfiffig, die Kleine“, schmunzele ich vor mich hin.

„Na komm“, entrüstet sie sich amüsiert, „ich habe dich erst zweimal gebeten, mir meinen Namen selbst aussuchen zu dürfen, stimmt’s?“

„Nein, nein, alles gut. Du hast mich vor einiger Zeit gelobt, weil ich mir so schöne Namen für deine Physen einfallen lasse. Dieses Kompliment gebe ich gerne zurück. Chang, der Elefant und Majikku, die Magische. Beides ist sehr einfallsreich. Und beides sind Asiaten, wie mir gerade auffällt.“

„Danke schön“, sagt sie, „Aus zuverlässiger Quelle weiß ich, dass dir asiatische Namen nicht so leicht aus dem Hirn fließen“ und lächelt brav. „Bei Indianern kann man sich ja noch ins Englische retten, sonst wäre ‚Twocloud‘ auch eher ein ‚Maȟpíya-Núŋpa‘ geworden. Klingt super, oder?“

„Ich gestehe: Indianisch würde ich auch nicht hinkriegen“, gebe ich zu und halte die Handflächen in ihre Richtung, was erneut ein lautes Lachen bei ihr auslöst.

„Aber nun sag doch bitte, was du mit einer neuen Partei meinst“, versuche ich sie wieder auf meine eigentliche Frage zu stupsen.

„Naja, du meckerst doch herum, dass jede Partei sich zunächst wählen lässt und dann macht, was sie will. Und dass ihr Wähler dann keinen Einfluss mehr nehmen könnt, richtig?“

„Richtig“, bestätige ich, „Das soll schon das eine oder andere Mal passiert sein.“

„Ja, wir sprachen darüber“, sagt sie und dreht die Augen nach oben, als wenn sie in ihren Erinnerungen kramen müsste. Dabei hat sie, oder besser er, nämlich Twocloud, oder einfach La Sola, mich erst zu dieser Einsicht gebracht. Sie schlägt etwas interessantes vor: „Wenn ihr, um überhaupt einen Anfang zu machen, eine Partei gründet, welche eine direkte Mitbestimmung in ihren Statuten verankert hat, gäbe es doch bestimmt viele Leute, die sie wählen würden, oder nicht?“

„Ich denke schon“, stimme ich zu, „Wenn das Parteiprogramm ansonsten vernünftig ist.“

„Ja, aber das Programm bestimmen die Parteimitglieder doch selbst, Claude.“ Sie sieht mich an, als erwarte sie eine ganz bestimmte Reaktion von mir, die ich ihr aber schuldig bleibe.

„M-i-t-b-e-s-t-i-m-m-u-n-g-!“, sagt sie nun, wobei sie das Wort extrem in die Länge zieht.

„Ach sooo, verstehe.“ Bei mir fällt langsam der Groschen. „Du gründest nur ein Parteigerüst und lässt das Programm von den Mitgliedern gestalten. Das hat allerdings noch keiner gemacht. Soweit ich weiß, jedenfalls. Schlaue Idee“, muss ich anerkennen.

„Na, ich gründe sie bestimmt nicht“, wiegelt sie sofort mit wedelnden Händen ab. „Das muss schon einer von euch tun. Und dann muss man sehen, ob die Menschen dazu bereit sind und ob sie es hinkriegen.“ Sie steht auf und läuft auf und ab. „Und wenn eine einzige Partei es nicht schafft, die ganze politische Bandbreite unterzubringen, kann man ja auch noch weitere nach dem gleichen Prinzip aufbauen.“ Jetzt ist sie in ihrem Element. „Für jede Ausrichtung eine in sich demokratische Partei. Das müsste es geben. Die alten hierarchischen Parteien mit ihren internen Seilschaften und ihren geförderten Günstlingen werden sich schwertun, dagegen anzustehen.“

„Aber es dauert doch bestimmt ewig, eine wirklich schlagkräftige und konkurrenzfähige Partei aufzubauen“, werfe ich dazwischen, „zumal Neulinge garantiert den einen oder anderen Fehler bei der Gründung machen werden.“

„Magst du noch ein wenig laufen, Claude? Ich kann gerade nicht ruhig sitzen“, fragt sie mich.

„Sicher können wir herumspazieren“, stimme ich zu, „dass dich das so antreibt, finde ich erstaunlich.“

„Hmmm? Ach so. Ja, das bin ich, also Majikku als Mensch. Solche Überlegungen fesseln mich irgendwie. Aber ich, also als La Sola, mache das auch ganz bewusst, weil ich so am besten den Kontakt zu einer Spezies halten kann. Ich will nicht im Elfenbeinturm sitzen. Ich will euch verstehen können. Verstehst du? Ach, wie blöd klingt das denn?“, schimpft sie sich selbst und ihre unvergleichlichen Augen flackern gefährlich.

„Komm doch mal her, du wildes Mädchen“, sage ich und breite die Arme aus. Sie will noch etwas sagen, verkneift es sich dann aber und kommt in meine Arme. Ich spüre ihr Herz kräftig schlagen und eine energetische Woge schlägt mir entgegen. „Wow! Du bist ja eine echte Kämpferin, Majikku.“

„Ja, ich weiß. War schon immer so.“

„Find ich super. Ehrlich. Auch deine Einstellung zu deinen Physen. Ähh, klingt auch doof, oder?“

„Ja, etwas“, bestätigt sie lachend. „So sind wir Menschen halt.“

„Wo waren wir stehen geblieben“, frage ich und drehe sie schwungvoll wieder aus meinen Armen heraus. „Ja. Die Pannen, die Fehler, was kann anfangs alles schiefgehen? Wie viele Versuche werden scheitern? Wie gehen wir damit um?“

„Großes entsteht nur im Kleinen, sagte einmal ein anderer eurer schlauen Köpfe“, bekomme ich zu hören.

„Stimmt. Wer nie anfängt, wird nie fertig“, kommentiere ich Majikkus Anmerkung. Doch dann hellt sich meine Laune spürbar auf. „Aber wenn es klappt, bestimmen auf jeden Fall schon mal viel mehr Menschen demokratisch über die Geschicke der Bevölkerung, als das im Moment der Fall ist – und vor allem keine verseilten Politiker, die sich in die entsprechenden Positionen manövriert haben oder dort platziert wurden“, wage ich einen kleinen gedanklichen Schritt in die Zukunft, nur einen Punkt habe ich für mich noch nicht geklärt: „Aber nicht jeder möchte einer Partei als Mitglied beitreten. Die wollen nur wählen und sind zufrieden damit. Was ist mit denen?“, schaue ich fragend in Majikkus Richtung.

„Zunächst mal“, nimmt sie den Faden eifrig auf, „Mitbestimmung heißt ja nicht nur, beim Parteiprogramm mitzugestalten. Auch bei den Beschlüssen können die Mitglieder mitstimmen.“ Sie hat plötzlich einen roten Sonnenschirm in der Hand und spannt ihn auf. Ich frage erst gar nicht woher sie ihn hat und nehme dieses perfekte Bild in mich auf. Eine hübsche Asiatin in traditioneller Kleidung flaniert in einem sommerlichen Garten mit blühenden Mandelbäumen umher – und das im Winter. Es ist einfach nur schön.

„Und bevor ein Beschluss endgültig umgesetzt wird…“

„Entschuldige bitte. Ich war gerade nicht bei der Sache“, werfe ich schnell ein. „Was sagtest du?“

„Ähm, wir waren bei den Leuten, die in keine Partei eintreten möchten, okay?“

„Ja, klar. Bin wieder bei der Sache“, bekräftige ich nochmal.

„Braver Junge.“ Das kommt so trocken über Majikkus Lippen, dass ich unweigerlich grinsen muss, aber ich unterbreche sie natürlich nicht in ihrem Redefluss. „Also, bevor ein Beschluss dann tatsächlich umgesetzt wird, kann die Verwaltung zusätzlich noch eine Befragung der Menschen durchführen. Und dann hätte wirklich jeder eine Möglichkeit zur Mitwirkung, nicht wahr?“

„Im Sinne eines Volksentscheids, oder wie auch immer man das dann nennen mag, du hast recht“, stelle ich fest. Noch eine weitere Möglichkeit kommt mir in den Sinn: „Und wenn die Bevölkerung selbst einen Vorschlag für etwas Neues oder eine Änderung hat, kann jeder einen Antrag einreichen. Das alles macht wirklich Sinn, weißt du? Okay, es quietscht noch ein bisschen, aber damit kann man arbeiten“

Sie lächelt mich, über ihre Schulter blickend, an und dreht an ihrem Schirm. „Es macht Spaß, kreativ und konstruktiv zu sein. Mit dir ganz besonders“, gibt sie zu.

„Sind das nicht unwichtige Details für dich?“ frage ich sie ganz ernsthaft. „Du hast Universen geschaffen und alles, was drin ist. Wieso kümmert es dich, wie wir durchs Leben gehen?“

Sie schließt ihren Schirm und er verschwindet, einfach so, zwischen ihren Händen. Dann kommt sie zu mir, legt ihren rechten Arm um meine Taille und fordert mich mit sanftem Druck zum Gehen auf. Ich umfasse leicht ihre Schulter und wir schlendern durch den Garten zurück auf das Haus zu.

„Was wäre das Universum ohne Leben, Claude? Leben ist eine ganz besondere Form der manifestierten Energie. In jedem Universum sorge ich dafür, dass Leben entstehen kann. Die Regeln stehen fest, der Ablauf in keiner Weise. Ich habe dein Universum aus meiner Energie entstehen lassen. Das alles hier kommt aus mir. Ihr kommt aus mir. Ihr seid meine Kinder. Alle Lebewesen in allen Universen sind meine Kinder. Und ihr Kinder seid der Grund dafür, dass ich Universen entstehen lasse. Ich wachse an euch.“

Sie drückt mich noch etwas fester an ihre Seite. „Ich habe gesät, Claude, viel gesät. Auf vielen, sehr vielen Feldern ist die Saat aufgegangen. Auch hier auf der Erde ist es geschehen. Für mich seid ihr noch Babys. Aber ihr besteht aus meiner Energie, meiner Materie, meinem Atem. Ihr könntet euch entwickeln. Ihr könntet aufsteigen. Aufsteigen, um an meiner Seite zu sein.“

Sie bleibt stehen und dreht sich zu mir. Ich tue es ihr gleich und schaue in ihr ernstes Gesicht. Das ist La Sola. Ich sehe sie genau. Dort drinnen, in den Tiefen ihrer Augen. Die Unendlichkeit, die ich immer dort gesehen habe und auch in dieser Sekunde sehe, das ist La Sola. Majikku strahlt in diesem Moment das Wissen eines ganzen Kosmos aus und immer in diesen besonderen Momenten bin ich zutiefst ergriffen und höre einfach nur zu.

„Das könntet ihr. Doch dazu müsst ihr lernen. Als Spezies müsst ihr lernen. Ihr müsst lernen, eure Differenzen zu überwinden. Ihr müsst Eins werden. Aber auf keinen Fall durch Knechtschaft oder Unterdrückung. Doch auch das sagte ich dir schon einmal und ich wiederhole es gerne: Ihr müsst das Potenzial eurer Vielfalt nutzen, ohne den einen oder anderen Menschen höher oder tiefer zu stellen. Auch, wenn 1 Prozent von euch das lieber anders sehen würden. Ihr anderen seid 99 Prozent. Bewahrt eure Unterschiedlichkeit. Bewahrt eure Wertvorstellungen. Lasst euch nicht Vereinheitlichen. Gleichwertig sollt ihr sein, das ist richtig, aber nicht gleichartig. Ja, Unterschiede erzeugen Spannungen, aber das ist gut so. Denn eine Feder ohne Spannung besitzt keine Kraft. Lernt, diese Kraft positiv zu nutzen. Respektiert all eure Unterschiede. Respektiert euch gegenseitig. Lasst aber zusammenfließen, was zusammenfließen will. Das können Gegensätze, genau wie Gleichheiten sein. Zwingt jedoch nichts zueinander, was nicht zusammenfließen will. Dann ist es noch nicht an der Zeit. Früher oder später wird alles von allein fließen. Unterdrückt euch niemals. Achtet euch, auch wenn ihr anderer Einstellung seid. Nur eine freie Menschheit, bestehend aus freien Menschen mit freien Gedanken hat eine Chance, die Zukunft zu erleben.“

Ich schlucke. Sie zaubert ein warmes Lächeln auf ihre Züge, stellt sich auf die Fußspitzen und küsst mich auf die Stirn. „Ich warte schon sehr lange darauf, dass jüngere Kinder es schaffen, aufzusteigen. Aber ich habe Zeit. Unendlich viel Zeit.“

„Ich befürchte, liebe Majikku, dass wir noch eine Menge Arbeit vor uns haben“, antworte ich.

Sie öffnet die Tür zum Restaurant, nimmt meine Hand und wir gehen hinein. Ich habe gerade die Schwelle übertreten, als ich hinter mir einen winterlich kalten Windhauch spüre, doch da fällt die Glastür bereits ins Schloss. Ich drehe mich nicht um, weil ich nicht sehen will, wie es dort aussieht. Ich behalte den Garten lieber so in Erinnerung, wie wir ihn vorhin durchschritten haben. Amüsiert stelle ich fest, dass die Musik immer noch fröhlich vor sich hin dudelt.

Majikku begleitet mich zum Tisch und ich setze mich wieder auf meinen Platz. Sie setzt sich neben mich und sagt, nach wie vor liebevoll lächelnd: „Großes entsteht nur im Kleinen, Claude.“

Auch ich kann mir ein Lächeln nicht verkneifen und wiederhole ebenfalls meine Worte von vorhin: „Wer nie beginnt, wird nie fertig.“

„Dann lass uns Seilschaften zerschneiden, Claude.“

„Das werden wir, Majikku-Chan.“

„Und jetzt lasst es euch jetzt schmecken. Ich liebe dich, Claude-Chan. Bis bald.“

„Aber komm bitte nie in einem Sack, ja?“, rufe ich ihrer verblassenden Gestalt schnell nach und höre sie tatsächlich noch kichern.

Das Klappern des Geschirrs und die dumpfen Stimmen der anderen Gäste erinnern mich daran, dass ich nicht mehr im Schutz einer Zeitblase bin.

„Cassandra?“, höre ich Julias Stimme hinter meinem Rücken und schrecke kaum merkbar zusammen. Ich stehe auf und umarme meine Frau. „Nein, nicht ganz“, antworte ich leise, „das war Majikku. Ich habe sie gerade kennengelernt.“

„Und sie trug etwas Rotes?“

„Eine Art Kimono. Deine Sicht wird deutlicher.“

„Kimono, wie süß. Und…, womit habe ich dieses stürmische Willkommen verdient? Ich war doch keine zwei Minuten fort.“

„Oh, wenn du wüsstest, wie relativ die Zeit in Wirklichkeit ist. Du hast es verdient, weil ich sehr glücklich bin, jemanden an meiner Seite zu haben, den jeder sehen und hören kann“, sage ich nur und küsse sie vor versammelter Mannschaft mitten auf ihren weichen Mund – und es ist mir scheißegal, dass die Leute uns dabei entgeistert zusehen.

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