09b Sie ist mein Anker

Wenn du mittendrin anfängst, verstehst du nicht alles: Beginne lieber am Anfang.

Es war sehr schön, Claudia wiederzusehen. Ich habe tatsächlich ein ganz besonderes Verhältnis zu ihr. Sie war die erste Manifestation La Solas, die mir erschienen ist. Das prägt. Nicht, dass ich zu Cassandra, Isaak, Chang und Twocloud weniger Vertrauen hätte. Das ist es nicht. Sie alle sind La Sola. Sie alle tragen dieselbe unermessliche Energie in sich. Bei ihnen allen spiegelt sich die unergründliche Weite des Universums in den Tiefen ihrer Augen. Sie alle sind auf eine wunderbare Weise mit mir verbunden. Und ich mit ihnen. Für immer, für alle Zeit. Soweit ich überhaupt verstehe, was Zeit ist.

In ihrer Nähe fühle ich mich Außergewöhnlich. Auch ich bin dann voller Energie. Als wenn sie mir einen Teil von sich überlassen würden. Ihn mir schenken würden. Ich fühle mich jedes Mal wie ein anderer Mensch, wenn ich mit einem von ihnen zusammen bin. Etwas springt auf mich über. Nein, es springt nicht. Es dringt in mich ein. Nein, das hört sich auch falsch an. Ich sauge es auf. Ach, ich weiß es nicht. Aber es fühlt sich fantastisch an. Einfach unbeschreiblich. Sie alle sind so…, wie nenne ich das…, so präsent, so machtvoll. Sie füllen den Raum, die Landschaft, die Wüste, die Prärie, die Wälder…, einfach alles füllen sie aus. So auch mich. Diese Energie bleibt für eine lange Zeit.

Meine Batterien sind gefüllt, die Tage fallen mir leichter. Nach der Arbeit bin ich bei meiner Familie. Wenn Julia schlafen geht, sitze ich oft noch am Computer, um zu recherchieren oder zu schreiben. Manche Nächte sitze ich dort bis zum nächsten Morgen, oder schlafe zwei, drei Stunden und decke danach gut gelaunt den Frühstückstisch für meine Beste und mich. Mein Leben ist besonders geworden, seit diesem ersten Treffen mit Claudia. Sie war der Start in dieses besondere Leben. Mein Engel. Meine Göttin. Meine allerallerbeste Freundin, die heute so erwachsen aussah. „Ich habe keinen Namen, Claude“, sagte sie damals zu mir. Und ich habe sie Claudia getauft. Ich ahnungsloser Trottel habe Gott den Namen Claudia verpasst. Und sie hat nur breit gegrinst.

Warum sah sie heute so erwachsen aus? War sie einfach nur aufgebrezelt? Auf seriös und reif zurechtgemacht? Frauen können das. Ein paar optische Tricks, etwas Schminke und schon sehen sie fünf Jahre jünger oder älter aus. Wie es gerade gebraucht wird. Ich weiß es nicht und im Grunde ist es auch vollkommen egal. Sie kann schließlich durch den Raum und durch die Zeit wandeln. Vielleicht hat mich heute einfach eine ältere Version von ihr besucht? Schließlich kenne ich sie ja auch als Kind. Damals war sie sogar zweifach anwesend. Aber wenn sie mich aus allen ihren Lebensaltern heraus besuchen kann und dazu auch noch durch die Zeit wandeln kann, dann stirbt sie für mich ja doch nie.

Das ist für einen Menschen wirklich nicht leicht zu verstehen, da hat sie schon recht. Sie kann mich als Kind, wie auch als Frau und wahrscheinlich sogar als Greisin aufsuchen. Solange ihre Zeit nicht gekommen ist, kann sie diese Reise jederzeit beginnen. Sie kann mich als kleinen Jungen, als Mann und als Tattergreis besuchen. Sie könnte vor hundert Jahren bereits gestorben sein und aus der Vergangenheit kommen, um mich zu besuchen. Andererseits könnte sie noch gar nicht geboren sein und einfach aus der Zukunft zu mir kommen. Wo bist du jetzt gerade, Claudia? Wann bist du jetzt gerade, Claudia? Ist es nicht verrückt, sich solche Fragen zu stellen? Erst recht, wenn die Antwort „ich bin immer hier“ lautet. Das hat mit der gewohnten Abfolge von Geburt, Leben und Tod nichts zu tun. Jedenfalls nicht für die Denkweise eines Menschen. Aber auch Claudia ist ein Mensch. Sie ist warm und weich, ihr Herz schlägt mal ruhig und mal heftig, sie kann lachen und sie kann weinen. Nur hat sie einen göttlichen Geist in ihrem menschlichen Körper und das ist der Unterschied. Ihr Geist ist ihre Kraft. Ihre Macht über den Raum und über die Zeit. Sie denkt sich dahin, wo sie hin möchte. Ort, Datum, Unterschrift. Es klingt so einfach. Aber ich verstehe es in seinen Konsequenzen trotzdem nicht.

„Ich bin immer hier, wenn auch auf eine andere Weise“, sagte sie. Und sie zeigte mir, dass ein Käfer, den ich auf ein Blatt gemalt hatte, laufen, denken und handeln kann. Ein kleiner Käfer, der kein Oben und kein Unten kennt. Wie armselig. Sicher? Nur eine Dimension, eine Ebene, trennt diesen Käfer von uns ‚hochentwickelten‘ Menschen. Nur eine einzige. Wie viele Ebenen trennen uns von La Sola? Oder von außerirdischen Wesen, die irgendwo dazwischen stehen? Eine weitere? Zehn? Hundert? Wer ist hier armselig? Glauben die Käfer auch, die Krone der Schöpfung zu sein?

Wir Menschen halten große Stücke auf uns. Wir halten uns für etwas ganz Besonderes. Viele von uns halten andere Lebewesen im Universum für pure Spinnerei. Schließlich schuf Gott uns nach seinem Bilde. Das denkt ihr also, ihr Schlauköpfe? Welche Farbe hat seine Haut? Rot? Schwarz? Gelb? Weiß? Braun? Blau? Oder vielleicht sogar grün? Könnt ihr es ein wenig genauer beschreiben? Wie sieht sein Bild denn nun genau aus? Dieses Bild habt ihr doch im Kopf.

Ihr wollt, dass Gott so aussieht wie wir. Eine schwächliche Zwei-Meter-Figur, die einem Großteil der anderen Lebewesen, die allein schon auf diesem Planeten leben, kaum etwas entgegenzusetzen hat. Die kaum mehr als ihr eigenes Gewicht tragen kann. Die kaum höher als ihre eigene Größe springen kann. Die nicht einmal fliegen oder unter Wasser atmen kann. Ach so, wir sind den Tieren geistig überlegen. Sind wir das? Oder sind wir das nur nach unserer eigenen Definition des Geistes? Mein Hund kann Gott sehen. Du auch? Wie dem auch sei: Selbst wenn ihr alle euren ach so überlegenen Geist zusammenwerft, seid ihr noch so weit von Gott entfernt, dass der Unterschied zu einem Gorillababy kaum ins Gewicht fällt. Wir Menschen sind wahrscheinlich alles Mögliche, aber sicher nicht das Abbild des Schöpfers. Sein Geist passt ja nicht einmal in eine optimierte menschliche Gestalt wie Claudia hinein. Das könnt ihr euch also abschminken.

Aber La Sola sagt: „Ich kann alles sein, was du sehen willst.“ Und deshalb kann ich niemandem vorschreiben, wie er Gott zu sehen hat. Wie dürfte ich das, wenn selbst La Sola keinen besonderen Wert darauf legt. Genauso wenig auf den Namen, mit dem du deinen Gott rufst. Denn wir wissen auch: „Jeder Mensch darf mich nennen, wie er will. Wenn er mich meint, so erkenne ich es.“ Also seht Gott, seht La Sola, diese göttliche Kraft, die das Universum erschaffen hat, einfach so, wie ihr wollt. Betet zu wem ihr wollt. Zu Engeln, zu Lichtwesen, zu einem Gott oder zu mehreren Göttern. Nennt euren Gott wie ihr wollt. Schaut dazu in Richtung Süden, oder in den Himmel, oder in einen hohlen Baumstumpf. Faltet eure Hände, breitet die Arme aus oder senkt euren Kopf zu Boden. Solange ihr es ehrlich meint, wird das Gebet euch Kraft und Stärke geben. Ihr seid nicht allein. Ihr werdet fühlen, dass die Energie euch berührt. Ihr werdet die Art von Ruhe finden, in der die Kraft wohnt, die ihr sucht. Die Kraft, die euch die ersehnte Hilfe bringt.

So spannend und fremdartig dieses Raumzeitding auch ist, man braucht es nicht zu verstehen, um Kraft im Gebet zu finden. Unsere Vorfahren haben auch gebetet und niemals erwartet, ihren Gott zu verstehen oder gar, ihm ebenbürtig zu sein. Auch ich bin nicht so vermessen. Und meine Gebete entsprechen auch nicht den üblichen Vorstellungen. Ich nehme keine bestimmte Haltung an und fühle mich auch nicht an bestimmte Tageszeiten gebunden. Wenn mir danach ist, rede ich mit meinem Gott. Mir ist bewusst, dass mein Gott kein Mann, keine Frau und kein anderweitiges Geschlecht hat. Für mich ist es tatsächlich die Kraft, die das Universum erschaffen hat; und zwar die einzige Kraft, der dies möglich war. Sie besteht aus purem Geist, obwohl sie in jeder beliebigen Gestalt vor mir stehen kann, um mich zu besuchen, oder um mich zu sich zu holen. Wenn ich aber von mir aus den Wunsch habe, ein paar Worte an sie zu richten, dann, und das gebe ich ehrlich zu, spreche ich zu Claudia. Sie ist mein Anker. Wenn ich spontan an La Sola denke, sehe ich immer Claudias Gesicht vor meinem geistigen Auge.

Dann rede ich einfach drauflos, genauso wie ich mir ihr rede, wenn wir beisammen sind. Ich schildere ihr mein Problem, meine Angst, meine Frage, oder was auch immer. Natürlich erwarte ich keine Antwort. Deshalb gebe ich mir selbst mögliche Lösungen, Erklärungen oder Antworten zurück. Ich diskutiere praktisch mit mir selbst. Natürlich nur, wenn niemand zuhört, damit ich mich nicht ‚zum Affen mache‘. Dann stelle ich mir Claudias Reaktion auf meine Vorschläge vor. Sehr oft gelange ich dann an einen Punkt, an dem ich mein Problem als gelöst betrachte, meine Angst von mir fällt oder meine Frage beantwortet ist. Vor wenigen Jahren noch, fragte ich mich dann, wer die Lösung denn nun gefunden hat. Ich selbst? Oder hat Claudia nachgeholfen? Inzwischen mache ich das nicht mehr. Denn in einem dieser Momente fiel mir ein Satz Twoclouds ein, den er nach dem Reitunterricht zu mir gesagt hatte: „Vertraue auf deine Fähigkeiten, denn sie sind mein Geschenk an dich.“ Seit diesem Zeitpunkt zweifle ich nicht mehr an der gefundenen Lösung. Ich vertraue.

Das solltest du auch tun. Was soll schon passieren? Im schlimmsten Fall hast du gelernt, wie es nicht funktioniert. Dann unternimm einen erneuten Versuch. Wenn du auf die Fresse fällst, steh’ wieder auf, richte deine Frisur und mache weiter. Das ist allemal besser, als nichts zu tun und auf Hilfe von einem weißen Ritter zu warten, der vielleicht nie vorbeikommen wird.

Das werde ich jetzt gleich auch vor der Brust haben. Julia kommt nämlich gleich nach Hause. Dann werde ich ihr beibringen müssen, dass sie Claudia schon wieder verpasst hat. Hier bei uns in der Wohnung. Wo im Arbeitszimmer noch immer die geleerten Flaschen auf dem kleinen Tisch stehen. Aber ich werde es ihr erzählen, denn diese Ehrlichkeit hat sie verdient. Auch, wenn es ihr vielleicht kurz wehtut. Aber sie ist stark und geduldig.

Mein allergrößtes Problem ist aber, ihr etwas erklären zu müssen, was ich selbst nur in seiner gröbsten Form kapiert habe. Nämlich, wie weit der Weg noch ist. Der Weg vom Käfer zum Menschen, der Weg vom Menschen zur nächsten Stufe, der Weg von Stufe zu Stufe. Aber das, was ich verstanden habe, kann ich an Julia weitergeben. So, wie ich es an euch weitergegeben habe. Im Kapitel über die Ebenen des Universums und in diesem Text.

Ich habe verstanden, dass es sich lohnt, loszugehen. Den egal, wie weit der Weg auch sein wird, er beginnt wie jeder andere Weg: mit dem ersten Schritt.

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