Wenn du mittendrin anfängst, verstehst du nicht alles: Beginne lieber am Anfang.
Ich muss runter zu Julia. Jetzt und sofort. Also renne ich die Stufen hinunter und versuche, mir dabei nicht die Füße zu brechen. Unten angekommen klappere ich alle Räume ab, finde sie aber nicht. Mandy fehlt auch. Gassi! Sie ist mit dem Hund unterwegs. Oder: Garten! Die beiden könnten im Garten sein. Hintertür auf und raus. Nichts. Mist! Ich kann nicht alle Spazierwege im Park absuchen. Ich muss warten.
Ich werde einfach die Zeit anders nutzen. Chang hat tatsächlich die Adresse des Anwesens, das an dem See liegt, in meine Navi-App gespeichert. Egal, wie er das gemacht hat, ich danke ihm sehr dafür. Damit beschäftige ich mich jetzt. Ist ja heutzutage nicht mehr schwer mit der Navigation. Ungefähr 12 Stunden Fahrt liegen vor uns. Mit Pausen. Ein seltsamer Zufall ist, dass mir vor knapp zwei Wochen ein guter Freund von seinem neuen gebrauchten Wohnmobil erzählt hat. Er hatte mir auch direkt angeboten, mir das schmucke Teil zu leihen, falls ich es möchte. Da wusste ich noch nicht, wie bald ich es brauchen würde. Doch ich weiß ja, wer es da schon wusste. Zufall? Sicher, ist klar.
Ich greife zum Telefon und rufe ihn an. Meine Hoffnung, dass er Zuhause ist, wird nicht enttäuscht. Er geht sofort ran. „Bitte?“, kommt seine Stimme aus dem Hörer.
„Hallo Michele, hier ist Tommy. Ich sag’s dir direkt vor den Kopf, weil ich die Spontanität eh nicht begründen kann: Ich brauche für ‘ne knappe Woche dein Wohnmobil und eine Blitzeinweisung. Was sagst du?“
„Hallo Thomas, sage ich. Kein Problem. Im Moment brauche ich den Camper nicht und ich bin sogar froh, dass du arme Socke ihn nun auf Herz und Nieren testen wirst. Dann muss ich das nämlich nicht selbst tun. Kommst du vorbei oder soll ich ihn bringen?“
Ich überlege kurz und bitte ihn, das Wohnmobil hierherzufahren, damit ich ihn dann mit dem Ding zurückfahren und mit meinen Fragen löchern kann. Läuft.
Im Garten bellt es. Wo Amanda ist, kann auch Julia nicht weit sein. Ich gehe zur Hintertür und öffne sie. Von außen rasen vier Pfoten auf mich zu, bremsen hart ab und wuscheln um meine Beine herum, um sich Streicheleinheiten abzuholen.
Zuerst begrüße ich das Frauchen, dann das Hündchen, um dann wiederum das Frauchen mit meinen Neuigkeiten zu überfallen: „Jeden Moment kommt Mike mit seinem Camper, den er mir für eine Woche leihen wird. Er wird mich in die Bedienung einweihen und anschließend mache ich eine Probefahrt zu ihm nach Hause, um ihn da wieder abzusetzen. Du kannst alle Termine absagen und Koffer packen, denn wir fahren zu dem See, an dem ich Claudia und Cassandra getroffen habe. Heute habe ich mit Chang dort leckere Früchte gefuttert und er hat mir die Adresse gegeben. Jetzt kannst du Fragen stellen.“
Ihr Mund steht auf, aber es kommt nichts raus. Hinter ihrer Stirn arbeitet es. Dann folgt die erste Reaktion: „Du möchtest heute noch losfahren?“
„Wir können nachts fahren. Ich kriege das hin. Dann sind wir morgen früh schon dort“, antworte ich knapp.
„Okay“, sagt sie mit ernstem Gesicht. „Wenn Michele hier ankommt, machen wir Kaffee und Gebäck. Dabei können wir quatschen. Danach haut ihr beide ab und ich lege hier los, soweit ich kann.“ Dann beginnt sie übergangslos zu grinsen. „Das wird ein Abenteuer.“
Gesagt, getan. Nachdem wir Mike beim Kaffee erzählt hatten, dass man uns überraschend für ein paar Tage in eine kleine Villa in Südfrankreich eingeladen hat, war sein Wissensdurst gestillt und er erklärte mir alle Details seines stolzen Campers. Das tut er allerdings auch jetzt noch und wir stehen inzwischen schon ewig an einer Tankstelle herum und checken alle Einzelheiten des Fahrzeugs dermaßen gründlich, dass ich im Falle einer Panne keinen gelben Pannendienst mehr bräuchte. Es sind einfach zu viele Informationen um alles verstehen zu können und ich erwische mich dabei, nur noch automatisch zu nicken.
Schließlich befindet auch Michele die Einweisung als erfolgreich absolviert und ich chauffiere ihn nach Hause. Ich komme überraschend gut mit dem sieben Meter langen Ding zurecht. Nach der Hinterachse kommt zwar noch relativ viel Auto, aber ich bin in jungen Jahren oft mit kleinen LKW unterwegs gewesen und daher nicht ganz ungeübt. Alles wird gut. Mein Freund wünscht uns zum bestimmt achten Mal eine gute Reise und ich danke ihm von ganzem Herzen für den Gefallen, den er uns mit der Leihgabe tut.
Kurze Zeit später fahre ich Zuhause vor und sehe die offene Garage voller Koffer und Tüten. Meine Beste wuselt um das Gepäck herum und verschwindet gerade durch die Verbindungstür ins Innere des Hauses. Ich rangiere das Wohnmobil passend mit der Ladeklappe vor die Garage, um es beim verstauen bequemer zu haben. Dann suche ich Julia.
Gemeinsam laden wir alles vermutlich benötigte in das Wohnmobil und machen noch eine kleine Kaffeepause mit abschließendem Rundgang durchs Haus. Hierbei sammeln wir gleich noch Mandy ein, der wir im Camper einen kuscheligen Platz eingerichtet haben. Dann geht’s endlich los.
Ich bin fit und fühle mich kein bisschen müde. Das hängt sicher auch mit der Energiedusche von Chang zusammen, die er am Vormittag noch verpasst hatte. Ist doch toll, wenn man gute Freunde hat. Der eine lädt dich auf und ein anderer überlässt dir eine fahrende Wohnung. Meine Beste sitzt rechts von mir, tippelt am Smartphone herum und erzählt mir, dass diese Villa am See tatsächlich oft von Unternehmen für Seminare und andere Events gemietet wird. Laut Terminplaner ist sie für die nächsten Tage allerdings ausgebucht. Ich frage mich kurz, warum mir heute früh keine Besucher aufgefallen waren, aber genauso schnell verwerfe ich den Gedanken wieder; waren Chang und ich denn wirklich heute früh in der Villa oder stand der Kalender in diesem Gebäude vielleicht auf dem 17. August 2047…?
Ich durchkurve den Stadtverkehr, was mir erstaunlicherweise recht gut gelingt und nach ewig vielem ‚Stopp and Go‘ an grundsätzlich rot leuchtenden Ampeln sehen wir irgendwann die Auffahrt zur Autobahn. Das Wohnmobil beschleunigt flott genug, um bequem einzufädeln und im Verkehr mitzuschwimmen. Der Komfort im Cockpit entspricht einem Pkw, sodass auch eine Geschwindigkeitsregelung zu finden ist. Allerdings sind noch zu viele Autos um uns herum, die unentwegt die Spuren wechseln und dann ihr Tempo anpassen müssen. Das wird sich später ändern, wenn wir das Ballungszentrum verlassen haben.
Julia hat noch nicht ein Wort darüber verloren, was sie selbst dort vorzufinden hofft. Eine Physis? Vielleicht Rebecca? Wäre Becci überhaupt noch immer für sie sichtbar? Das würde ich mir so sehr wünschen. Ich denke, die beiden haben eine derart feste Bindung zueinander aufgebaut, dass es sehr wohl möglich wäre. „Ich finde es sehr schön, dass wir beide zusammen diesen See besuchen können, Schatz“, spreche ich meine Frau an. „Ganz echt und normal meine ich, nicht als Vogel im Traum oder auf La Solas Flügeln.“
Julia legt das Handy aufs Armaturenbrett und sieht zu mir rüber. „Ich will, dass Becci dort ist, Schatzi. Ist das undankbar? Oder sogar egoistisch? Ich habe ehrlich versucht, diesen Wunsch zu unterdrücken. Schon deshalb, weil es dir wichtig ist, mit mir dort zu sein. Aber ich bekomme ihn nicht aus dem Kopf.“ Sie zieht eine zerknirschte ‚Schnute‘ und wirkt ein kleines bisschen unglücklich.
„Das wird auch nicht klappen“, entgegne ich. „Niemals. Das ist das gleiche, als wenn ich von dir verlangen würde, jetzt NICHT an den Eiffelturm zu denken, verstehst du?“
„Du Blödmann! Dann denke ich doch erst recht an den Eiffelturm“, ruft sie lachend und klatscht sich die flache Hand an die Stirn.
„Genauso wenig wirst du Rebecca vergessen können, wenn du es dir vornimmst. Und ich nehme dir das auch überhaupt nicht krumm.“
Sie lächelt mich an, richtet dann ihren Blick nach vorne und lehnt sich erleichtert in den bequemen Beifahrersitz. „Gleichzeitig habe ich Angst vor dieser Begegnung.“
Ich weiß genau, was sie damit sagen will und warte einfach ab, bis sie von sich aus weiterspricht.
„Was ist, wenn ich sie nicht sehen kann?“
„Dann wirst du sie spüren können. Irgendwie. Falls sie dort ist. Ihr habt eine Verbindung, ihr zwei. So ähnlich wie ich mit Claudia. Sie habe ich auch gespürt, als sie im Arbeitszimmer auftauchte.“
„Hmmm“, macht Julia – und es liegt so viel Hoffnung in diesem blassen Laut.
„Chang hat mich fliegen lassen!“, trompete ich lauthals, um sie aus ihren Gedanken zu reißen. Es scheint auch zu klappen, denn ihr Gesicht hellt sich merklich auf.
„So wie diese Magier auf der Bühne ihre Jungfrauen? Die sie dann mit Hula Hoop Reifen umkreisen?“, fragt sie nach.
„Nein, nicht so ganz“, entgegne ich und grinse breit. „Eher so wie einen Superhelden aus einem Comic-Heft. So richtig Achterbahn. Rauf, runter, rechts, links. Mit Steilkurve und Looping und Einschlag in die Erde.“
„Und deine Bandscheiben?“, kommt trocken zurück.
Mein Grinsen verblasst ein wenig. Meine Bandscheiben. Man wird ja nicht jünger. Aber da sagt sie was. Tatsächlich bin ich geflogen wie ein Geisteskranker, doch es gab keine Fliehkraft. Ganz zu Beginn unseres wilden Fluges, als Chang mich noch an der Hand mit sich riss, da hatte ich diesen Eindruck. Wie ein Fallschirmspringer fühlte ich mich. Aber ich bin nicht nach hinten gequetscht worden. Jedes Molekül meines Körpers hat sich gleichzeitig in Bewegung gesetzt. Zusammen mit Chang. Da war nur der Fahrtwind. War es so? Habe ich den Wind wirklich gespürt? Oder habe ich nur geglaubt, ihn spüren zu müssen? Wenn ich die Luftatome gespürt hätte, was wäre dann unter Erde mit mir geschehen?
„Mit den Bandscheiben ist alles in Ordnung, Schatz“, beantworte ich Julias Frage, „Chang hat alle Beschleunigungskräfte von mir ferngehalten. Einfach abgeschaltet. Es war wie im Traum. Du denkst einfach daran, wo du hin willst und schon geht’s los.“
„Krass“, sagt sie nur. Dann strafft sich ihre Haltung. „Ich habe übrigens gerade beschlossen, Rebecca auf alle Fälle bei der Villa zu treffen. Ich will es so und ich weiß, dass sie es auch will. Deshalb wird es auch geschehen. Basta. Beschlossen und verkündet.“
Ich lächle meine Beste an und entgegne: „Dann wird alles gut.“
Ich, für meinen Teil, weiß gar nicht, wen ich an der Villa treffen möchte. Aber ich wünsche Julia von ganzem Herzen, dass ihr die Manifestation ihres Wunsches gelingen wird. Und auch ich würde mich sehr freuen, Becci wiederzusehen. Mit ihr verbindet auch mich ein besonderes Band. Ich habe sie als Mensch kennengelernt und bin mit ihr ihren Weg zur Physis gegangen. Wenn es eine meiner Seelenaufgaben war, ihr diesen Weg zu eröffnen, dann hat sich meine Existenz in dieser Welt schon gelohnt. Wir alle sind ein Teil des Ganzen. Wir alle sind miteinander verbunden.
Ganz egal, was Julia und mich erwartet, ich glaube fest daran, dass es richtig ist, zum See zu fahren. Warum hat Chang mir gerade heute die Ortsangabe aufs Navi gespielt? La Sola und ich hatten uns schon mehrfach an diesem Ort getroffen – und ausgerechnet jetzt erhalte ich die Koordinaten?
Eines habe ich vom besten Freund der Menschen im Laufe der Jahre bereits gelernt: Es gibt keine Zufälle. Jedem Gedanken folgt eine Handlung. Auch das Nichtstun ist eine Handlung. Jeder Handlung folgt eine Konsequenz. Auch, wenn du diese Konsequenz nicht einmal wahrnimmst. Wie die Bewegung der Luft durch den Flügelschlag eines Schmetterlings. Alles baut aufeinander auf. Alles folgt einem Plan. Dem Plan La Solas.
Die Einzige wird dich leiten – La sola gvidos vin
#lasolagvidosvin – #lasolaicu
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