13b Julia trifft eine Freundin

Wenn du mittendrin anfängst, verstehst du nicht alles: Beginne lieber am Anfang.

Auch die Rückfahrt verläuft flüssig und ohne irgendwelche Staus oder Umwege. Wir sind ohnehin früher als geplant auf der Straße, weil wir die Fahrt ja schon weit vor dem vermuteten Zielort im Nirgendwo abbrechen konnten. Glück für uns beide und auch für Julia, die Zuhause nicht so lange wie gedacht mit ihrer Ungeduld alleine bleiben muss.

Becci, meine Miniphysis, hat fast die ganze Strecke geschlafen. Das zügeln der Energien und möglicherweise auch die Wandlung selbst, kosten sie ganz offensichtlich einige Mühe und viel Kraft. Ich habe von der Energie dieser für mich unermesslichen Kraft bislang ja immer nur profitiert. Sie wurde mir einfach geschenkt. Aber diese Gewalten zu beherrschen und zu lenken, könnte für die noch ungeübte Becci ähnlich schwierig sein, wie der Ritt auf einem Wildpferd.

Der bauliche Zustand der Wegstrecke, die wir gerade befahren, verleiht meinem Auto ebenfalls den Charakter eines Wildpferds, was sich auch prompt auf den Schlaf meiner Mitfahrerin auswirkt. „Sind wir schon da…?“, nuschelt Rebecca und ich kann nicht umhin, loszulachen. Auch Becci wird bewusst, dass sie soeben die Standardfrage aller Kinder in allen Autos auf allen Straßen dieser Welt gestellt hat und ihr Gesicht nimmt einen lustigen Ausdruck zwischen schläfrig zerknautscht und verlegen amüsiert an. „Hätte ich jetzt noch ‚Papi‘ gesagt, würde ich mich für den Rest der Fahrt im Kofferraum verstecken.“

„Das würde ich meiner Tochter bei diesem Rumpelacker, der eine Straße sein soll, nicht erlauben. Du hättest überall blaue Flecken“, antworte ich lächelnd und sie lächelt zurück.

„Das war heftig vorhin, oder?“, sagt sie und schaut mich fragend an.

„Auf jeden Fall bist du eine echt heiße Braut“, entgegne ich lachend.

„Ein braves Mädchen sollte jetzt eine frostige Antwort geben, aber die tiefen Temperaturen muss ich erst noch üben“, gibt sie zurück und räkelt sich in eine aufrechte Position zurecht. „Da ist so viel Energie, soviel unbändig Kraft, so unendlich viele Möglichkeiten, mit all dem zu spielen, was ich früher für unveränderlich und gottgegeben gehalten habe. Aber ich vermag es jetzt auch von der anderen Seite zu sehen. Ich kann geben und ich kann nehmen. Brrrr, Gänsehaut.“

„Huuu! Sag bitte nicht spielen“, mische ich mich spontan ein, „Das klingt für mich ziemlich beängstigend.“

Rebecca schlägt die Hände vor den Mund. „Scheiße, entschuldige bitte! So meinte ich das nicht. Es ist auch für mich einfach irre, das ich mit spielerischer Leichtigkeit derartige Gewalten lenken kann. Was mir da am Aussichtspunkt passiert ist, war wirklich sehr emotional. Leider auch etwas grobmotorisch, das gebe ich zu, aber es hätte nichts passieren können. Ich könnte dir nie schaden, nicht mal aus Versehen.“

„Das weiß ich doch, Becci. Wir erleben beide zum ersten Mal die Wandlung eines Menschen zur Physis. Du bist zugegebenermaßen etwas dichter dran. Ist nun mal so. Aber du machst das super. Ich würde wahrscheinlich durchdrehen. Und nun rück’ dein Krönchen zurecht und setz dich gerade hin. Wir sind nämlich angekommen.“

Das Auto rollt vor den Hauseingang, die Haustür öffnet sich, noch bevor die Räder stillstehen und Julia kommt uns entgegen. Ich korrigiere: sie geht Rebecca entgegen, die gerade ihre Autotür öffnet. Die beiden Frauen stehen sich gegenüber und keine weiß so recht, was sie nun tun soll. Gotteswesen hin oder her, die reifere Julia geht den letzten Schritt zuerst und nimmt die jüngere Becci herzlich in die Arme. In Julias Augen glitzert es verdächtig und als ich die beiden umrunde, nachdem ich das Auto abgestellt hatte, sehe ich das selbe Glitzern auch bei Rebecca.

Ich lasse die beiden einfach glitzern und gehe schon mal ins Haus. Dort angekommen werfe ich mich in mein Couchzivil und gehe zur Küche. Logisch: denn da steht die Kaffeemaschine. Die Mädels sind offensichtlich inzwischen im Wohnzimmer angekommen, was nicht zu überhören ist. „Cappu…?“, rufe ich laut in ihre Richtung.

Zehn Sekunden Ruhe, dann die Antwort: „Zwei Stück für uns bitte.“

Die Handgriffe sind Routine und mit einem kleinen Tablett, Zucker und Rührlöffeln bringe ich meine Arbeitsergebnisse in den Wohnraum und stelle sie auf den Tisch. Dann flegele ich mich in meine Sofaecke und lausche dem Gespräch zwischen meiner metaphysisch äußerst begabten Julia und der jungen Rebecca, die ich im Park aufgelesen habe und die nun bereit ist, eine Physis des Schöpfers zu werden. Eine physikalische Manifestation La Solas, die nach vollendeter Wandlung jedoch nur noch von wenigen begnadeten Menschen wahrgenommen werden kann.

Ich kann La Solas Physen sehen und mit ihnen kommunizieren. Ich sehe sie, kann sie berühren, ihnen die Hand schütteln und sie umarmen. Wie von Mensch zu Mensch. Ich bin eine Ausnahme. Julia kann die Physen inzwischen wahrnehmen, sie erahnen und manchmal auch schemenhaft erkennen. Doch La Sola hat ganz andere Wege genutzt, um mit Julia zu sprechen, sie sogar eingeladen, eine Zeitlang in einer ihrer Physen zu verweilen.

Der Mensch Rebecca ist indirekt durch mich mit La Sola in Berührung gekommen. Es war eine einschneidende und lebensverändernde Begegnung. Becci wird sich in Kürze auf eigenen Wunsch in eine Physis verwandeln. Bevor dies geschieht, so hat sie versprochen, wird sie Julias größten Traum erfüllen und sich mit ihr treffen. Noch ist sie ein Mensch und für jeden sichtbar und doch wohnen in ihr bereits der Geist und das Wissen und die Kraft eines Gottes. Rebecca ist beides. Ich habe es hautnah erlebt und es war eine unfassbare Erfahrung. Doch ganz bald wird sie aus der Welt der Menschen in höhere Ebenen aufsteigen.

Nun ist sie hier. Sie löst ihr Versprechen ein. Aber es ist nicht so, dass sie hierzu ein Opfer bringt. Sie hat sich, genau wie Julia, auf dieses Treffen gefreut. So wie ich auch.

Seit ich den Raum betreten hatte, war kein Wort gefallen. „Hast du keine Zweifel, diesen Schritt zu gehen, Becci“, durchbricht Julia in diesem Moment die Atmosphäre des Schweigens.

„Du hast meine Geschichte gehört, Julia. Hättest du einen Zweifel, wenn du meine menschliche Existenz einmal in Gedanken durchgehst? Ich meine, es gab mich im Grunde genommen gar nicht mehr. Ich war ein ausgezehrter Körper, der einen verkrüppelten Geist beherbergte und dessen Seele sich in eine dunkle Ecke zurückgezogen hatte. Nein, es gab keine Zweifel. Das ist es, was ich von ganzem Herzen will.“

„Wenn ihr euch beeilt, schafft ihr vorher vielleicht noch, euren Cappuccino zu genießen“, mische ich mich dreist ein, „Meiner ist köstlich. Von Meisterhand gefertigt.“

Julia grinst frech in meine Richtung. „Ich finde es auch ganz toll, dass du dreimal nacheinander den richtigen Knopf getroffen hast, Schatzi.“

Dann steht sie auf, setzt sich neben Rebecca und drückt sie fest an sich. „Ich fühle mit dir. Alles wird gut. Davon bin ich überzeugt.“ Julia rückt wieder ein wenig von Becci ab und nimmt ihre Hände. „Wenn du das irgendwie hinkriegst“, sagt sie in flehendem Tonfall, „bleib‘ bitte für mich sichtbar, ja? Biddebiddebidde! Dann hab‘ ich auch endlich eine allerallerbeste Freundin. Versprochen?“

„Dann hoff‘ ich einfach mal, dass ich das im ersten Lehrjahr schon auf die Kette kriege. Versprochen“, lautet Beccies heiliger Schwur unter Freundinnen.

Beide unterhalten sich stundenlang über Gott und die Welt, wobei diese Redewendung selten so punktgenau triff, wie beim laufenden Gespräch. Es ist nicht so, dass Julia nicht schon das meiste davon durch mich erfahren hätte, aber es ist auf jeden Fall so, dass die gleichen Schilderungen aus erster Hand eine ganze Menge neuer Zwischentöne beinhalten. Selbst für mich.

Heute, aus Rebeccas Mund, wird La Sola sehr viel deutlicher als bei meinen vergangenen Treffen mit ihr, wie mir im Verlauf des Gesprächs immer klarer wird.

„Nein, ich will keine zentralististische Regierung der ganzen Erde. Es ist nicht gut für eure Entwicklung. Und ich meine nicht den technischen Fortschritt, sondern eure spirituelle Reife“, erläutert Becci gerade.

„Aber wäre nicht für viele Probleme der Menschen eine globale Anstrengung zur Lösung der beste Weg? Alle an einem Strang?“, möchte Julia wissen. Sie ist halt ein Teamplayer.

Becci nickt verstehend. „Ja und nein, Julia. ‚Alle an einem Strang‘ ist schon richtig, doch eine zentralististische ‚Monsterverwaltung‘ funktioniert einfach nicht. Das hat sich tausendfach bestätigt. Die verwalten letztlich nur sich selbst. Sie sind so mit sich beschäftigt, dass für die eigentlichen Aufgaben kaum mehr Kapazität vorhanden ist.“

Meine Beste und ich schauen gespannt unsere Besucherin an, weil wir beide den Eindruck haben, dass da noch was kommt.

Und wir haben recht, denn Rebecca holt Luft: „In der Natur bilden sich Gruppen. Gruppen sind überschaubar und regeln sich selbst. Ihr könnt sie Rudel oder Schwärme oder Rotten oder Herde oder Stöcke nennen. Bei Tieren gibt es ein instinktives Gruppenverhalten, bei Menschen sollte es ein intelligentes Gruppenverhalten geben.“

„Sollte?“, stelle ich eine Zwischenfrage.

Becci grinst frech: „Diese Unterhaltung hatten wir in der Wüste, nicht wahr? Unter anderem.“

Ich weiß es noch wie heute: „Für mich sind alle Menschen gleich wertvoll, auch und gerade, weil sie unterschiedlich sind“, sagte Isaak in der Wüste zu mir. Und er sagte noch einen weiteren Satz, der lange Zeit später von Majikku sogar wiederholt wurde: „Ihr müsst das erkennbare Potenzial eurer Vielfalt nutzen, ohne den einen oder anderen Menschen höher oder tiefer zu stellen.“

Rebecca lässt jedoch keine Pause für eine Interaktion und spricht direkt weiter: „Ihr braucht kleine Einheiten, die sich selbst verwalten und ein Kommunikationsnetz zwischen diesen Einheiten. Die Einheiten müssen sich zusammenschalten lassen. Für bestimmte Projekte oder Aufgaben sollten Sondereinheiten gebildet werden. Eure Schlagkraft als Rudeltiere liegt nicht in der Existenz von Verwaltern, die zwischen ihren Kaffeepausen nur Aktionen und Menschen verwalten, die sie nicht einmal kennen, sondern bei Akteuren, die intelligent genug sind, die Verwaltung ihrer Aktivitäten innerhalb ihrer Gruppe selbst zu erledigen und gegebenenfalls darüber Protokoll zu führen. Bei jeder Entscheidung muss jedes Individuum mitstimmen können, welches von dem Ergebnis dieser Entscheidung betroffen sein wird. Ja, Nein, Enthaltung. So könnt ihr jedes Problem lösen. Von der Farbe einer Brücke über den Bau eines Staudamms bis zur Beseitigung des Hungers auf der Erde. Nur so geht es, niemals durch eine Zentralverwaltung.“

Julia hebt den Finger, Becci und ich grinsen sie an, Julia kontert mit einem trockenen: „Frau Lehrerin, ich weiß was.“

„Die kleine Julia darf etwas sagen“, spricht die Lehrerin.

Doch die kleine Julia grinst nicht zurück. Sie ist ganz ernst, als sie aufsteht, zuerst mich anschaut, ihren Blick dann auf Rebecca richtet und schließlich mit ruhiger Stimme zu sprechen beginnt: „Ich war Majikku. Das weißt du. Denn auch du warst Majikku. Gleichzeitig. Ich erinnere mich gut daran. Wir sagten durch Majikku, dass die Menschen ihre Unterschiedlichkeit bewahren müssen. Sich nicht vereinheitlichen lassen dürfen. Dass alle Menschen gleichwertig sein sollen, aber nicht gleichartig. Wir meinten damit, dass nie die selben Regeln für die ganze Welt gelten dürfen. Dass Kulturen, Sprachen, Denkweisen erhalten bleiben müssen. Weil die Menschen unterschiedlich sein müssen. Der Verlust gewisser Unterschiede ist schädlich für das Gesamte. Eine einzige gleichmäßige homogene Masse mit einem gleichförmigen Bewusstsein wird nie kreativ, mutig und neugierig genug sein, sich zu entfalten. Sie wird einfach in sich zusammenfallen – auch wenn sie noch so mächtig ist.“

Auch Becci steht jetzt auf und wendet sich Julia zu. „Du hast recht, meine Freundin“, sagt sie und umarmt Julia. In deren Gesicht kann ich erkennen, dass sie zu ersten Mal La Solas Energie spürt. Ich sehe es in ihren Augen. Bestimmt eine volle Minute stehen die beiden so da, bevor sie sich wieder hinsetzen.

„Eins möchte ich noch erläutern, bevor wir den ernsten Themen den Rücken kehren“, ergreift Rebecca nochmals das Wort. „Wir brauchen weltweit die Regeln zur Gruppenbildung und zu den Abstimmungen. Die Regeln innerhalb der Gruppen und zwischen den Gruppen können und sollen die Gruppen selbst erstellen. Je nach Kultur, Region und Zeitgeist. Es wird gute Regelwerke geben und auch miese Regelwerke geben. Doch die Menschen haben die Freiheit, die Gruppen zu wechseln. Wenn jemand sich nicht zugehörig fühlt, sollte er woanders hingehen. Wenn viele aus der Gruppe abwandern wollen, sollten die Regelwerke verändert werden. Jedes Individuum hat eine Stimme. Niemand hat mehr als eine Stimme.“

Deutliche Worte. La Sola will die Unterschiede. Die Vielfalt. Temperament, Emotionen, Gewohnheiten, Ansichten, Methoden, Denkweisen, Handlungsweisen, Strategien. Weil Einheitsbrei sich geistig nicht weiterentwickelt. Weil Einheitsbrei zu träge ist, um in die Eigenverantwortung zu gehen. Weil Einheitsbrei deshalb leicht zu regieren ist.

Später am Abend, als wir nach dem Essen gemütlich beisammen sitzen, stellt Julia Becci eine Frage, die mir zu denken gibt: „Dieser Wunsch nach Vielfalt, der ist kein Zufall, oder? Ich habe bei unserer energetischen Verbindung etwas gesehen. Darf ich darüber reden?“

Rebecca schaut auf ihr Weinglas und ein Reflex der Raumbeleuchtung zaubert einen roten Schein auf ihr Gesicht. „Na klar. Ich habe vor euch keine Geheimnisse.“

„Du warst einmal sehr einsam. Deshalb hast du dir Gesellschaft geschaffen. Aber diese Wesen waren dir zu ähnlich. Sie waren nicht unterschiedlich genug. Es gab keinen konstruktiven Austausch. Deshalb weißt du, dass eine Gesellschaft ohne Unterschiede nicht funktioniert.“

Die junge Frau, die bald eine Manifestation Gottes sein wird, lächelt. „Ja, das ist richtig. Es ist eine meiner Erfahrungen. In euren Zeiteinheiten gesprochen, ist es unendlich lange her. Auch ich musste lernen Fehlschläge hinzunehmen. Aber das ist der Stoff für ein weiteres Treffen, meine Lieben. Dann werde ich euch beide treffen.“

„Ehrenwort unter allerallerbesten Freundinnen?“

„Ehrenwort unter allerallerbesten Freundinnen!“

Am nächsten Morgen ist das Gästezimmer aufgeräumt und leer. Rebecca scheint früh gegangen zu sein. Schade, wir hatten uns auf ein gemeinsames Frühstück gefreut.

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