11b Götterdämmerung

Wenn du mittendrin anfängst, verstehst du nicht alles: Beginne lieber am Anfang.

Wie ich da so vor mich hin schreibe, höre ich das Geräusch der sich öffnenden Autotür. Schon wieder. Diesmal schaue ich jedoch zur Sicherheit zur Seite und sehe meine Julia einsteigen. Das ist beruhigend. Nicht, dass mir wieder so ein blinder Passagier ins Auto hüpft. Wobei der letzte Passagier allerdings ein überaus geschätzter Gast war.

„Sorry“, sagt sie, während sie noch ihre Kleidung zurecht zupft, damit nichts in der Tür eingeklemmt werden kann. „Ich musste noch auf eine telefonische Bestätigung warten, die länger als gedacht brauchte.“

Dann angelt sie sich den Sicherheitsgurt und kämpft abermals mit ihrem Mantel um beides irgendwie miteinander in Einklang zu bringen.

„Yasmin war bei mir“, sagte ich kurz und knapp.

„Welche Yasmin?“, kommt ebenso knapp zurück.

„Na, du weißt schon: Die Schwester von Claudia und Cassandra“, flöte ich so beiläufig wie möglich in den Raum.

Ich höre dieses typisch sirrende Geräusch, was man immer dann hört, wenn ein Sicherheitsgurt sich im Leerlauf zurück in sein Gehäuse schlängelt. Klack. Aufgewickelt.

„La Sola war hier im Auto? Yasmin? Oh.“

Es folgt eine kurze Pause.

„Hey! Drei zu drei!“, ruft sie verzückt aus.

„Wie bitte?“, frage ich.

„Die Mädels haben aufgeholt. Yasmin, Claudia und Cassandra gegen Twocloud, Isaak und Chang. Warte nur ab, mein Freund“, erklärt sie und fuchtelt mit dem Zeigefinger vor meinem Gesicht herum. „Schatzi? Lass uns bitte zum ‚Café Bohne‘ gehen, ja? Bis Zuhause brauchen wir mindestens eine dreiviertel Stunde. Solange kann ich nicht warten. Ehrlich nicht.“

Innerlich grinse ich im Kreis, weil sie genauso wie erwartet reagiert hat, äußerlich lasse ich mir nichts anmerken und spiele die ‚coole Sau‘. Dann öffne ich großmütig meine Tür und gehe ums Auto herum. Dort öffne ich die Beifahrertür und mit einer galanten Armbewegung fordere ich meine Beste wortlos zum Ausstieg auf.

Das Café mit dem sympathischen Namen ‚Bohne‘ ist nur zwei Ecken vom Parkplatz entfernt und in weniger als fünf Minuten sind wir auch schon angekommen. Man bekommt hier leckere Gebäcke sowie belegte Brötchen und die namengebenden Bohnen werden in einer hauseigenen Rösterei mit einem gasbetriebenen Trommelröster zu herrlich duftendem Kaffee verarbeitet. Ein netter Fenstertisch ist schnell ausgemacht und ein junger Kellner nimmt freundlich unsere Bestellung auf. Julia schaut mir erwartungsvoll tief in die Augen und ich erzähle ihr von der vermeintlichen Verwechselung und der spontanen Reise an den wohlbekannten See im strahlenden Sonnenschein und von der Bank an dessen Ufer. Ich vergesse natürlich auch nicht unsere tänzerische Begrüßung und die Witzelei mit der göttlichen Biobanane zu erwähnen.

Meine Beste gibt mir ein Zeichen und ich unterbreche die Erzählung, bis der in meinem Rücken auftauchende Kellner unsere Bestellung abgeliefert hat und sich mit einem netten ‚guten Appetit‘ wieder von dannen macht. Café au Lait und so etwas ähnliches wie Teigbällchen, die Julia ausgesucht hat. Aber die Dinger schmecken echt gut. Irgendwie nach Olive. Nach einem Schluck Kaffee fahre ich mit der Erzählung fort.

Ich schildere Julia, wie Yasmin mich mit zusätzlicher Energie versorgt hat und komme schließlich zu meiner Frage bezüglich der falschen Götter, die wir Menschen nicht anbeten sollen.

„Ich verstehe genau, was sie damit sagen will“, entgegnet sie spontan, „Das liegt doch auf der Hand. La Sola ist La Sola. Der Schöpfer ist sich sicherlich darüber im Klaren, wie weit er geistig von seinen eigenen Kreaturen entfernt ist. Was sollte es ihm ausmachen, mit welchem Geräusch wir ihn bezeichnen?“

„Was meinst du mit Geräusch; Schatz?“, frage ich.

„Na, wir geben ein Geräusch wieder, welches wir Wort nennen und es in diesem Fall als Namen deklarieren. Wir sind Brocken aus geplanter Materie und geben einem übermächtigen Geistwesen einen Namen aus Schall, während dieses Wesen in unserem Kopf ist und genau weiß, was wir meinen und wie wir zu ihm stehen“, folgt ihre entschiedene Antwort, bevor sie sich eines dieser Olivenbällchen nimmt und mit den Zähnen halbiert.

Ich nehme dieses Bild in mich auf und greife zur Kaffeetasse. Dieser Café au Lait ist wirklich sehr gut. Und die Bällchen. Ich mache mir jedoch nicht die Mühe, es zu zerbeißen, sondern nehme es komplett in den Mund.

„Das alles ist völlig verständlich“, nimmt sie ihren Faden wieder auf, „Es sind nicht die Namen der Götter oder die unterschiedliche Auffassung darüber, wie die Menschen sich ihren Gott vorstellen. La Sola ist der Schöpfer, sagen wir beide. Der Nordamerikanische Ureinwohner hat seinem Schöpfer von mir aus den Namen Manitu gegeben. Ist doch wurscht. Wir meinen alle dasselbe. Dieser Ureinwohner kannte die Bibel doch gar nicht. Oder irgendein anderes dieser steinalten Bücher. Die Handlungen und Vorgänge, die in diesen Büchern beschrieben sind, fanden doch ganz weit weg von seinem Lebensraum statt. Und das trifft praktisch auf alle Menschen zu, die nicht in der Wüste leben, wo ausgerechnet die größten der alten Bücher geschrieben wurden. Gottesbilder MÜSSEN unterschiedlich sein. Zumindest mussten sie das zu einer Zeit sein, in der man nicht in zwölf Stunden um die halbe Welt fliegen konnte. Wenn ich im tropischen Regenwald wohne, bete ich doch keinen Regengott an. Der hat in meinem Verständnis überhaupt keinen Platz.“

„Wow. Treffer – Schiff versenkt“, gebe ich von mir.

Julia schlürft etwas von dem köstlichen Milchschaum aus der Tasse. „Oder sieh dir den Buddhismus an. Die haben gar keinen Gott in unserem Sinne. Und trotzdem ist ihr Ziel die Entwicklung des eigenen Geistes. Sie versprechen, kein Lebewesen zu töten oder zu verletzen, nichtgegebenes nicht zu nehmen und nicht zu lügen oder unheilsam zu reden. Kommt dir das irgendwie bekannt vor? Du sollst nicht töten, du sollst nicht stehlen, du sollst nicht falsches Zeugnis ablegen und so weiter?“

„Ich habe so etwas irgendwo schon mal gelesen“, antworte ich verstehend lächelnd. Der freundliche Kellner fragt im vorbeihuschen nach, ob wir noch etwas wünschen und ich verneine das. Dann wende ich mich wieder den Olivenbällchen und meiner Besten zu. „Du wirst langsam zur Expertin in Sachen Religion, oder?“

„Ach was“, winkt sie lässig ab, „Dafür reicht ein Leben nicht aus. Ich lese nur hier oder da etwas nach. Und manches finde ich wirklich unverständlich: In jeder Religion gibt es derartige Hinweise oder Regeln. So auch die Ewige Ordnung der Hindus. Eine der wichtigsten Regeln verbietet es, einem Menschen oder Tier Leid zuzufügen. Warum leben die Menschen denn nicht nach diesen Regeln?“

Sie schüttelt den Kopf, als wenn sie es wirklich nicht verstehen könnte, doch ich weiß genau, dass es nicht so ist. Sie will es nur nicht wahrhaben.

„Bis gerade hast du über andere Götter gesprochen, Schatz, aber jetzt kommen wir in den Bereich der falschen Götter. La Sola hat kein Problem mit anderen Göttern, sondern mit falschen Göttern. Macht, Reichtum, blinder Gehorsam gegenüber sogenannten Führern, tatenlose Unterwürfigkeit gegenüber selbsternannten Herrschern und noch ein paar andere Kleinigkeiten.“

Julia nickt langsam. Dann schaut sie mich nachdenklich und intensiv an und sagt: „Was ist mit den Büchern, in denen steht, dass die Gläubigen die Ungläubigen ergreifen und töten sollen, wo immer sie sie finden?“

„Du weißt doch, meine Liebe, dass diese Bücher alle von Menschen geschrieben wurden“, rücke ich ihren im Raum stehenden Vorwurf in die meiner Auffassung nach passende Ecke. „In dem von dir angesprochenen Buch steht übrigens an anderer Stelle: ‚Kein Zwang im Glauben!‘. Und dann steht da noch: ‚Wer die falschen Götter verwirft und an Gott glaubt, der hat den festesten Halt erfasst, der nicht reißen wird. Und Gott ist hörend und wissend.‘ Doch all diese Verse wurden erst verfasst, nachdem der eigentliche Empfänger der Worte nicht mehr auf der Erde weilte.“

„Du hast zweifellos recht mit deiner Annahme, dass an diesen Formulierungen die damaligen Schreiberlinge nicht ganz unbeteiligt waren. Und wenn dann noch ganz neue Menschen die von den ganz alten Menschen geschriebenen Aussagen neu interpretieren, finden sich immer genau die Inhalte, die gefunden werden wollen. Das gilt natürlich für alle alten Bücher. Schwamm drüber.“

Mir ist nicht entgangen, dass Julia gerade bei meinen Worten über ‚falsche Götter‘ aufmerksam wurde. Und so greift sie, nach einem weiteren Schlürfer aus der Tasse, genau diese Stelle des Verses auch wieder auf: „Falsche Götter. Alle reden von falschen Göttern und kaum jemand sieht diesen Begriff so, wie du es mir gerade eben noch verdeutlicht hast. Und ich selbst bin ebenfalls darauf reingefallen. Ohne genauer drüber nachzudenken habe ich zuerst über ‚andere‘ Götter geredet. Dass ‚falsche‘ Götter gar nichts mit dem realen Gott oder Schöpfer zu tun haben, kam mir nicht in den Sinn. Falsche Götter sind ganz primitive irdische Verlockungen. Sich selbst erheben über den anderen, also Machtgier. Um noch mehr Einfluss auf die Geschicke der anderen zu erlangen, folgt die Gier nach Reichtum, nach Vermögen und insbesondere nach Geld. Mit Geld kann das ehrlose und machtgeile Subjekt weitere ehrlose und machtgeile Subjekte als Helfershelfer bezahlen, damit die dann aufrechte Menschen, die sich nicht unterwerfen wollen, bedrohen oder umbringen. Das ist es, was La Sola oder Gott damit ausdrücken will. Wir müssen diese falschen Götter verwerfen. Wir müssen als Menschheit wachsen oder auch reifen, bis wir eines Platzes im Paradies und an seiner Seite überhaupt würdig sind. Wir Menschen müssen einen Weg finden, uns dieser schädlichen Subjekte zu entledigen.“

„Da ergänzt sich etwas, Schatz“, werfe ich ein, denn gerade ist mir ein Zusammenhang klargeworden. „Cassie sagte am Strand zu mir ‚Den Aufstieg in die Zukunft wird nur eine geeinte und freie Menschheit erreichen. Ohne Zwang, ohne Unterdrückung, ohne Gewalt, ohne Angst‘. Verstehst du? Diese ‚Subjekte‘, wie du sie gerade liebevoll genannt hast, verhindern genau diese Einheit. Hier muss ich an Chang denken, der sagte: ‚Es gibt einige sehr manipulative Exemplare innerhalb eurer Spezies. Diese Leute schaffen es mit großen Worten immer wieder, eine Menschenschar hinter sich zu bringen. Das gelingt diesen Führern, weil sie Versprechungen machen‘. Siehst du? Sie verhindern die Einheit durch ihr egoistisches Verhalten. Diese Subjekte sind das. Sie greifen nach den falschen Göttern, weil sie sich erhaben fühlen müssen. Sonst sind sie nicht glücklich. Ab dann wirkt ein Schneeballsystem. Die ‚Egos‘ füttern ihre Follower auch wieder mit falschen Göttern. Das sticht immer weiter nach unten durch. Nur, weil ein ‚Ego‘ angefangen hat. So bleibt die Einheit auf der Strecke. Auch Twocloud sagte etwas dazu: ‚Wenn einer von euch andere meisterhaft manipulieren kann, um das Beste für sich herauszuholen, ist er dann intelligent? Oder einfach nur ein rücksichtsloses Arschloch?‘ Ich denke, diesmal hast du vollkommen recht: Wir müssen einen Weg finden, uns dieser schädlichen Subjekte zu entledigen. Wer braucht schon Arschlöcher?“

Wir schauen uns wortlos an und wissen, dass wir gerade gemeinsam eine sehr wichtige Feststellung gemacht haben: Nur mit positiver Energie allein, kann man keine neue Gesellschaft aufbauen. Es wird immer wieder Subjekte geben, die falsche Götter gegen uns einsetzen werden.

„Das wird größer, als ich gedacht hatte“, murmele ich vor mich hin. Mehr als ratlos schaue ich immer noch Julia an. „Was davon muss ich aussprechen und was muss ich die Menschen selbst entwickeln lassen…?“

„Du kannst das unmöglich als eiserne Regel festlegen“, stellt meine Beste ihren Standpunkt dar. „Das ist viel zu Komplex für eine simple ja/nein Regel. Wenn jemand sich als Führer aufschwingt und dich ernsthaft auffordert, dich ihm zu unterwerfen, ist er ein Arschsubjekt. Er will sich erhöhen und dich erniedrigen. Existenziell. Punkt. Aber wenn du der talentierteste Steinmetz der ganzen Stadt bist, dann bist du das nun mal. Deshalb ist der Zweitbeste als Mensch doch nicht weniger wertvoll als du. Niemand verlangt, dass er sich dir unterordnet. Vielleicht kann er ja hübschere Buchstaben schnitzen als du. Ähhh…, sagt man schnitzen? Nein. Das war doof.“

„Du bist nie doof, Schatz. Abgesehen davon kann wahrscheinlich jeder in dieser Stadt hübschere Buchstaben in Steine schnitzen als ich“, antworte ich.

„Ja, das war so ein typischer ‚Claud‘scher Trockeneis Witz‘ auf mittlerem Niveau. Und gleichzeitig auch ein markanter Unterschied zwischen uns, Schatzi.“

„Wie meinst du denn das jetzt?“, frage ich sie verdutzt.

Sie grinst über beide Backen, sucht mit den Augen die Lokaldecke ab und sagt: „Ich bin nie doof. Du schon.“

Dann isst sie das letzte Olivenbällchen mit einem Happs auf.

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