07b Glückliche Schweine und andere Tiere

Wenn du mittendrin anfängst, verstehst du nicht alles: Beginne lieber am Anfang.

Julia stutzt plötzlich. Ihre Augen weiten sich und ihr Mund öffnet sich leicht. Dann schlägt die Erkenntnis mit voller Wucht zu: „Ich hab’ sie gesehen!“, schreit sie mich beinahe an, „Claude! Ich habe sie gesehen! Das war kein Flimmern – das war sie! Claude! Sag was!“

Sie rüttelt an meinen Schultern. Ich bin perplex. Zu keiner Regung fähig, lasse ich mich noch ein paar Sekunden durchschütteln. Dann setzt mein Verstand langsam wieder ein. Ich fasse sie um die Taille und ziehe sie behutsam näher. Notgedrungen lässt das Schütteln nach und sie schließt ihre Arme um mich. „Sag mir, dass ich recht habe, Claude“, flüstert sie in mein Ohr.

„Du hast Cassandra gesehen, Schatz“, sage ich ruhig und drücke sie noch ein wenig fester an mich. Nicht, weil sie mich noch rütteln wollte, sondern einfach nur so. Irgendwie sind ein paar Tränen auf meinen Wangen. Es sind meine eigenen, wie mir klar wird. Ganz dicht aneinander stehen wir nun und mein Herz wird ganz leicht und warm. Die Liebe meines Lebens hat mit eigenen Augen mein Geheimnis gesehen. Nur ein Flimmern in der Luft, aber sie hat es gesehen.

„Ich habe Cassandra gesehen“, gibt sie leise zurück. „Mit eigenen Augen. Ich konnte ihre Form erahnen. Erst noch deutlich, dann immer diffuser. Ich dachte zuerst, du hättest eine Folie in den Händen. So eine Geschenkfolie, die farbig schimmert. Wie eine Reflexion in der Sonne.“ Dann wird ihre Stimme wieder etwas kräftiger: „Ich habe La Sola gesehen, Claude. Das ist… Wahnsinn. Ich weiß nicht warum, aber ich habe sie gesehen.“ Sie schmiegt sich noch ein wenig dichter an mich. „Ich habe Cassandra gesehen.“ Ich spüre ihren Atem, der noch ein wenig heftig geht, spüre die leichte Vibration ihres ganzen Körpers, und halte sie einfach nur fest. Der leichte Wind spielt mit ihrem langen Haar und eine Strähne berührt sanft mein Gesicht. Ich spüre, wie ihr Atem ruhiger wird, das Pochen in ihrer Brust nicht mehr lauter als das Rascheln der Blätter ist und sie dann tief Luft holt. „Hatte ich schon gesagt, dass ich einen Kaffee brauche? Einen Doppelten?“

Julia löst ihre Arme von mir und tritt ein kleines Stück zurück. Auch in ihrem Gesicht sehe ich Tränen, obwohl sie mich geradezu anstrahlt. „Hey. Du hast geheult“, sagt sie lachend.

„Selber Heulsuse“, antworte ich etwas flach.

„Freudentränen, ich freue mich einfach“, gibt sie zu.

„Geht mir genauso“, bestätige ich knapp, „Soll ich einen Cappuccino machen?“

„Au, ja. Warte“, sagt sie, „ich komme mit rein. Wir haben noch Kuchen von gestern im Kühlschrank. Ich brauche jetzt Zucker und Kalorien.“

Sie wirft einen Blick auf Mandy und fragt: „Wieso ist der Hund so ausgepowert?“

„Naja, ich war eingeschlafen und dann hat Cassie wohl die Zeit genutzt und ‚Karotte‘ mit ihr gespielt“, gebe ich kleinlaut zu.

„Wieso kann Amanda einfach so mit Cassandra spielen und ich breche mir einen ab, sie überhaupt wahrzunehmen?“, fragt sie mit einem Gesicht voller Fragezeichen. Mandy antwortet erwartungsgemäß nicht und ich muss laut lachen.

„Was soll daran witzig sein, bitte schön? Das ist… unfair. Erklär‘ mir das bitte, du Götterbote, ja?“

Ich reiße mich zusammen und unterdrücke ein Grinsen. „Toll, dass du das sofort bemerkt hast. Ich habe länger dazu gebraucht. Liegt wohl daran, dass ich sie ja auch sehen kann. Es kam mir zuerst gar nicht seltsam vor.“

„Das ist keine Antwort. Was soll das?“, drängt Julia weiter.

„Cassie sagt, das würde an verkümmerten Instinkten liegen. Die Menschen haben in ihrer Entwicklung einen anderen Pfad beschritten. Sie haben die spirituelle Verbundenheit zur Natur gekappt. Fühlten sich nicht mehr als Teil der Welt, sondern als ihr Beherrscher“, antworte ich mit meinen Worten so gut, wie ich glaube, Cassandras Aussage verstanden zu haben. „Ich frage mich jetzt gerade, ob es sich um die Zeit gehandelt haben könnte, die in den alten Schriften als Sündenfall beschrieben ist.“

„Der Apfel?“, höre ich, während wir schon zur Haustür gehen, um uns unsere Kuchentafel vorzubereiten.

„Ja, die ganze Story mit der Vertreibung aus dem Paradies. Der Verführung und der Missachtung von Gottes Regel. Natürlich nur symbolisch. In meiner Vorstellung ist ein inniger Zugang zur Natur und dem Leben um uns herum etwas sehr paradiesisches. Wenn die Menschen diesen Pfad der Verbundenheit mit der Natur verlassen haben, um sich an ihr zu bereichern, um sie über das Notwendige hinaus auszubeuten, hat das für mich durchaus etwas von einem geklauten Apfel, meinst du nicht?“, versuche ich meine Gedanken zu verdeutlichen.

„Du hast ein ganz besonderes Talent, solchen alten Geschichten einen bestimmten Sinn zu entlocken, weißt du das?“, fragt Julia, während sie die Tür öffnet.

„ich war halt schon immer ein Spinner, Schatz“, entgegne ich, entschuldigend lächelnd.

„Nein, so meine ich das nicht“, wirft sie schnell ein, „sondern ganz ernst und positiv. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, da eine Verbindung herzustellen. Und vielleicht hast du mit dem geklauten Apfel ja sogar recht. Ich hatte aber eigentlich ein anderes Bild vor Augen, als du davon angefangen hattest. Hol du bitte zwei Teller aus dem Hängeschrank, dann muss ich mich nicht so recken.“

Ich lasse die Kaffeemaschine in Ruhe ihren Job machen und hole zwei Kuchenteller aus dem Schrank, die ich ihr hinüberreiche. Ich liebe Kuchen. „Was für ein Bild, Schatz?“, frage ich interessiert.

„Ich kriege das im Kopf jetzt nicht so auf die Reihe, aber war das nicht auch der Moment des Feigenblatts? Sie schämten sich plötzlich in ihrer Nacktheit?“

„Äh, ich glaube auch. Ich schau kurz nach“, sage ich knapp und tippe in mein Telefon. „Japp. Du hast absolut recht. ‚Da wurden ihnen beiden die Augen aufgetan und sie wurden gewahr, dass sie nackt waren, und flochten Feigenblätter zusammen und machten sich Schurze‘ steht da. Gut aufgepasst in Religion, Schatz.“

„Ich bin Superbrain, mein Bester. Du nimmst die Cappuccinos und ich die Teller, okay? Auf geht’s“, lautet ihr Marschbefehl.

„Gabeln?“, frage ich.

„Hab‘ ich“, kommt zurück.

Während wir zurück zu den Gartenstühlen gehen, sagt Julia: „Ich hatte eine andere Idee. Dass das alles Metaphern mit Lerneffekt sind, ist uns wohl klar. Aber ich hatte gar keinen Ungehorsam in diesem Zusammenhang gesehen, sondern einen Entwicklungssprung.“

„Aha?“, lasse ich fragend hören, nachdem wir unser Geschirr auf den Gartentisch gestellt haben. Als ich die erste Gabel mit Kuchen im Gaumen spüre und meine Beste das Cappuccino Glas nach einem kleinen Schluck wieder absetzt, erklärt sie mir ihre These.

„Ja. Ganz simpel: Tiere haben kein Schamgefühl. Die rennen alle nackig umeinander. Naja, oder bepelzt, von mir aus. Als aus unseren Vorfahren irgendwann bewusst denkende Menschen wurden, kam auch das Schamgefühl zutage. Verstehst du? Das Tier wurde zum zivilisierteren Menschen. Es bedeckte sich. Es wurde aber auch egoistisch. Raffgierig. Wollte erobern, um sich wichtig zu machen. All das Zeug eben, was uns bis heute anhängt. Der Mensch hat seine aufkeimende Intelligenz mehr dazu benutzt, sich alles untertan zu machen, als sie zum Nutzen der natürlichen Balance einzusetzen.“

„Wow“, entgleist mir. „Auf den Punkt gebracht, Schatz. Das neuartige intelligente Lebewesen hat es nicht mehr nötig, im Einklang mit der Natur zu leben, weil es sich für etwas Besseres hält. Scheiß auf Gott, also die Natur und alles andere umher. Ich bin der neue König der Welt. Ich nehme mir, was ich will. Zuerst den Apfel.“

„Genau das. In diesem Moment haben die Menschen das Paradies verlassen.“

„…und wurden zur größten Plage des Planeten. Echt traurig. Kann man das noch umdrehen? Angewohnheiten, die möglicherweise schon 300.000 Jahre an uns kleben?“ Diese Frage stelle ich mehr in den Raum, als dass ich Julia direkt anspreche.

Trotzdem sagt sie: „Davon bin ich überzeugt. Sieh mal, wir beide haben uns schon oft darüber unterhalten, warum wir in so einer beschissen materiellen Welt leben. Und viele unserer Bekannten und Freunde ebenfalls. Bevor du Einspruch einlegst: Ja, wir gehen für Geld arbeiten, wie alle anderen auch, aber nur, weil es kaum anders geht. Das Leben kostet Geld, also muss man Geld beschaffen. Das heißt aber nicht, dass man andere Menschen ausnutzen oder die Natur ausbeuten muss. Die meisten Leute, die wir kennen, sind nicht so. Es sind wahrscheinlich nur ganz wenige Menschen so gestrickt.“

„Ja“, füge ich an, „und genau die sitzen in den oberen Etagen. Warum ist das so? Muss man ein Schwein sein, um sich nach oben zu boxen?“

„Ich glaube eher, dass die meisten Menschen lieber jemandem hinterher rennen als selbst Verantwortung übernehmen zu wollen oder zu können“, antwortet Julia sinnierend. „Locker 80 Prozent der Bevölkerung, schätze ich.“

„Und ich glaube, dass ich La Sola auch darauf nochmal ansprechen muss“, schließe ich dieses Thema ab und erzähle ihr, worüber Cassie und ich noch gesprochen haben. Nämlich meine Fragen zu den Speisevorschriften. Ich erzähle ihr, wie sich La Sola den Umgang mit Nutz- und Schlachttieren vorstellt, was sie über die Jagd sagte und schildere ihr dann, wie ich auf die Reise zu Kamato ging.

„Du bist in einen anderen Menschen gefahren?“, fragt Julia mit weit geöffneten Augen. „Du hast seine geheimsten Gedanken gelesen? Ohne, dass er das wusste? Ist sowas in Ordnung? Wenn ich mir vorstelle, dass irgendein Typ in meinem Kopf herumspukt, ohne dass ich das überhaupt bemerke…. Ich weiß nicht… Das kommt mir, naja, zumindest seltsam vor“, legt sie ihre Bedenken offen.

„Ich fühlte mich am Anfang auch etwas seltsam. Beinahe wie ein Spanner. Aber ich war von der Erfahrung dermaßen überwältigt, dass dieses Gefühl sich nicht verfestigen konnte. Ich konnte mich nicht losreißen, konnte kaum einen eigenen Gedanken bilden. Ich war er. Wir waren eine Person. Ich habe seine Angst gefühlt, seine Freude empfunden, seine Verantwortung mitgetragen. Ich kann es nicht beschreiben. Wenn ich als Claude zufällig beim Nachbarn mitbekomme, wie er seine Frau beschimpft und eine Weile stehen bleibe, ist das vielleicht schäbig. Wenn ich aber in der Haut von Kamato stecke, bin ich nicht in der Position eines Außenstehenden. Ich belausche ihn nicht. Ich bin er. Man kann das nicht erklären. Weißt du, Schatz, als ich er war, wusste ich nicht, wo ich war und wann ich war. Kamato lebt vielleicht eine Million Lichtjahre von uns entfernt oder er ist schon seit 10.000 Jahren tot und seine Kindeskinder bevölkern seine Welt. Nein, ich habe mich kein bisschen schlecht gefühlt. Dieses Erlebnis hat mich nur gelehrt, wie nah an der Natur ein Lebewesen sein kann, welches ebenfalls von Raubtieren abstammt. Genau wie die Menschen.“

„Du kannst es nicht erklären und ich kann es nicht wirklich verstehen, Claude, aber ich habe eine ungefähre Ahnung“, resümiert Julia. „Dein Wissen über ihn nutzt dir nichts. Du kannst es weder zu seinem Vorteil noch zu seinem Nachteil verwenden. Selbst dann nicht, wenn du ein böser Mensch wärst.“

„Genau. Ich kenne Kamato, habe von ihm viel erfahren und viel gelernt, aber ich weiß nicht, wo er wohnt. Warum soll ich ein schlechtes Gewissen haben? La Sola ist in uns allen, weil wir ein Teil von ihr sind. Warum sollte sie ein schlechtes Gewissen haben? Gott steht über allem. Das ist so und das war schon immer so und das wird sich nie ändern.“

„Amen“, kommt trocken aus Julias Mund.

„Einen kurzen Moment war ich echt erschrocken – bis ich mir die Übersetzung dieses pathetischen kleinen Wortes in Erinnerung gerufen habe“, muss ich gestehen. Julia lacht lautlos.

Auch ich muss zumindest lächeln. Allerdings eher, weil mir Cassies herrliche Erklärung zum Schweinefleisch wieder in den Sinn kommt. Aber das erzähle ich meiner Julia ein andermal.

„Ich habe ihr heute gesagt, dass sie ‚La Sola‘ ist, Schatz“, kläre ich sie stattdessen auf.

„Und? Was meinte sie dazu?“

„Ich glaube, es gefiel ihr“, antworte ich, „und sie hat uns einen wunderschönen Nachmittag gewünscht.“

„Den werden wir haben, Cassandra“, ruft sie in den blauen Himmel. „Auf Wiedersehen!“

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