03b Eine willkommene Abwechslung

Wenn du mittendrin anfängst, verstehst du nicht alles: Beginne lieber am Anfang.

So schnell kann es gehen. Von wegen ‚Claudia‘. Na gut, es war nicht der bärtige alte Mann, aber ich kann nicht alle Frauen, als die der Allmächtige mir erscheint, Claudia nennen. Der Allmächtige? Zwei Erscheinungen, zwei Frauen. Ist Gott ein Mann oder eine Frau? Oder etwas ganz anderes?

Claudia hat sich mir, wenn man den von mir vermuteten Engel einmal weglässt, als ‚die schöpferische Kraft, die das Universum und alles darin erschaffen hat‘ vorgestellt. Wie aber stelle ich mir eine ‚schöpferische Kraft‘ vor? Meiner Meinung nach besitzt eine ‚schöpferische Kraft‘, genauso wie eine ‚göttliche Kraft‘, überhaupt kein Geschlecht. Ein Wesen, was alles sein kann, kann halt alles sein. Purer Geist, in einer Fülle, die weit über das hinausgeht, was ein Mensch sich überhaupt vorstellen kann. Ein Geisteswesen, welches sich jederzeit in jedweder Form manifestieren kann, wenn ihm der Sinn danach steht.

Während dieser Gedanken sind wir zuhause angekommen und ich lade den Einkauf aus dem Wagen, damit Julia ihn sach- und fachgerecht verstauen kann – mit meiner Hilfe natürlich. Nachdem wir auch das endlich geschafft haben, setzen wir uns in den Garten, um einen Kaffee zu trinken. Einmal durchschnaufen und das angenehme Wetter genießen.

„Du? Schatz?“, sage ich.

„Hmm?“, kommt leise zurück.

„Als wir vorhin im Supermarkt waren und du die Ananas in der Hand hattest, war ich mal eben für eine knappe halbe Stunde am Meer“, erzähle ich beiläufig.

„Du Spinner, ich habe das Ding doch keine halbe Stunde in der Hand gehalten“, erwidert sie halb in Gedanken.

„Für mich schon“, stelle ich lächelnd fest. „Als ich wiederkam, stelltest du sie gerade ins Regal zurück.“ Man kann wunderbar beobachten, wie sich die Erkenntnis in ihrer Mimik langsam aufbaut, weiter verstärkt und dann plötzlich in ihrem Blick leuchtet.

„Claudia? Mitten beim Einkaufen? Und sie hat dich ans Meer gebracht? Boah, ich will auch ans Meer. Was hat sie erzählt?“

„Ähm, das waren viele Fragen. Nein, nicht Claudia, sondern Cassandra. Ja, mitten aus dem Supermarkt. Nicht direkt, ich war schon am Meer. Dass du da auch hin möchtest, glaub ich dir gerne. Einiges spannendes hat sie erzählt“, beantworte ich Julias Fragen der Reihe nach im Telegrammstil.

„Cassandra? Lass hören…“

Und ich erzähle ihr von meiner Begegnung mit Cassandra. Von meiner eigenen Überraschung, eben nicht Claudia zu sehen. Davon, dass ich wirklich erstaunt war, so ganz andere Wesenszüge in ihr erkennen zu können. Aber natürlich auch sehr, sehr viele Übereinstimmungen. Und vor allem, dass sie sich an jedes Wort erinnern konnte, das ich mit Claudia geredet habe.

Ich erzähle von ihrem Angebot, sie alles fragen zu dürfen. Und auch davon, dass sie sich Sorgen über das Schicksal der Menschheit macht. Von dem Scheideweg, an dem wir stehen. ‚Aufstieg oder Untergang‘, so sagte sie.

Ich erwähne noch, dass ich nach meinem Gefühl entscheiden soll, wann der richtige Zeitpunkt gekommen ist, um bestimmtes Wissen weiterzugeben und nenne natürlich auch diesen einen enorm wichtigen Punkt: Dass nur eine geeinte und freie Menschheit die Zukunft erreichen wird. Ohne Zwang, ohne Unterdrückung, ohne Gewalt und ohne Angst.

Julia schaut mich an. Nein, genaugenommen schaut sie durch mich hindurch. In ihr arbeitet es eine ganze Weile, dann erst treffen sich unsere Blicke wieder. „Sie scheint die ruhigere von den beiden zu sein, nicht wahr? Nicht so flippig wie Claudia, sondern eher besonnen, oder?“, fragt sie dann. Ich nicke nur, also spricht sie weiter. „Claudia sagte, sie wäre eine Art Avatar. Ich glaube, dass stimmt so nicht. Sie hat nur versucht, dir einen Begriff zu geben, an dem du dich orientieren kannst. Die beiden sind keine leeren Hüllen, die mit Gott ‚gefüllt‘ werden. Sie sind mehr.“

Wieder nicke ich und ergänze ihre recht gute Analyse: „Ich erzähle subjektiv, das ist mir klar. Du warst nicht dabei und weißt nur, was ich dir gesagt habe. Deshalb bin ich sehr froh, mit dir darüber reden zu können. Um zu lernen, wie es bei dir ankommt. Aber ich gebe dir uneingeschränkt recht. Cassie ist ganz anders als Claudia. Und das meine ich nicht nur optisch. Cassandra hat ein ganz anderes Gemüt als Claudia. Obwohl sie sich so ausdrückte, als hätte ich die beiden letzten Treffen mit ihr gehabt. Für mich stand das aber auch niemals in Frage, verstehst du? Ich habe sie ja auch scherzhaft nach dem Pavillon gefragt und sie hat, ohne auch nur einen Augenblick zu zögern, mit dem Wissen von Claudia reagiert.“ Julia hört gebannt zu und unterbricht mich nicht. „Aber sie hat nicht wie Claudia reagiert, sondern doch irgendwie anders. Claudia ist so ein bisschen der Mama-Typ, obwohl sie viel jünger erscheint. Die junge Mutter halt. Cassandra ist mehr die reifere Partnerin. Ihre Kinder sind schon groß und sie leben ihr eigenes Leben, verstehst du, was ich damit sagen will?“

„Natürlich! Ich bin selbst Mutter. Wenn die Kinder klein sind, möchtest du alle zwei Minuten nach ihnen sehen. Dann werden sie größer und selbstständiger. Sie treffen ihre eigenen Entscheidungen. Anfangs lassen sie sich noch leicht lenken, später dann nicht mehr. Sie machen eigene Erfahrungen. Du kannst nicht mehr alle zwei Minuten nach ihnen sehen. Aber irgendwann machst auch du eine Veränderung durch. Du musst dann nicht mehr permanent neben ihnen stehen. Es reicht dir, von Zeit zu Zeit nach ihnen zu schauen. Nicht nur deine Kinder machen einen Reifeprozess durch.“

„Genau so habe ich es empfunden, als ich Cassandra kennen gelernt habe…“ Plötzlich muss ich laut lachen. „Ist dir eigentlich klar, dass wir beide gerade dabei sind, Gottes Psyche zu analysieren?“

„Nö, das sehe ich nicht so“, meint Julia, „Ich denke, dass wir uns nur über seine Manifestationen oder Avatare oder…, das sind alles blöde Begriffe, weißt du? Denk dir bitte schnell was Besseres aus, du Chronist.“ Ich muss Grinsen, sie spricht weiter. „Wer sagt, dass es bei den beiden Mädels bleibt? Ach, ist das blöd! Mir gehen auch nur lauter so antike Bezeichnungen durch den Kopf, wie Hülle oder Kelch, das klingt aber alles irgendwie…, nach altbackenem Religionsunterricht.“

„Ich habe dich schon verstanden. Wir reden über die menschliche Gestalt, in der die schöpferische Kraft mir, und wahrscheinlich auch anderen Menschen, erscheint. Ich habe die beiden wirklich ganz unterschiedlich wahrgenommen. Weißt du, sie hat mir ja heute ausdrücklich erlaubt, sie alles zu fragen. Ich werde das einfach mal tun“, beschließe ich.

„Mach das“, bekräftigt meine Angetraute. „Das ist sehr spannend. Und sie hat dich nur zum Meer gebracht, weil deine Träumerei ihr so gefallen hat?“, fragt sie ungläubig nochmal nach.

„Nein, so war es ja eben nicht. Ich selbst hatte diese verrückte Strandfantasie, als es mir im Geschäft zu langweilig wurde. Sie ist dann einfach in meinen Traum ‚eingestiegen‘, weil sie ihn so schön fand. Sie hätte Spaß an meinem Kopfkino gehabt, sagte sie. Was soll ich es sonst erklären?“ frage ich zurück.

„Das ist schon irre“, stellt Julia fest, „Das würde bedeuten, dass sie dir in diesem Moment wohl sehr nah war. Oder ist sie dir immer so nah? Uhh, da kriege ich direkt eine Gänsehaut. Dagegen sind diese Sprachassistenten ja eine Lachnummer. Ist sie jetzt gerade hier?“

Ganz unwillkürlich dreht sie sich um und schaut sich über die Schulter. „Weißt du, Julia“, versuche ich ihre Gedanken in eine andere Bahn zu lenken, „bei diesen Sprachtöpfen, da hätte ich Angst vor den Leuten, die uns damit belauschen würden. Denen traue ich nicht. Genauer gesagt: deren Arbeitgebern. Die wollen nur unsere Bequemlichkeit mit ihren ganz tollen Produkten und Dienstleistungen noch bequemer machen. Gegen unser gutes Geld versteht sich. Aber Gott, Julia, Gott will nichts an uns verdienen. Cassandra will nichts an uns verdienen. Der schöpferischen Kraft, für die sie steht, oder die sie selbst ist, dieser Kraft vertraue ich bedingungslos.“ Ich nehme sie bei den Händen und schaue ihr schon beinahe beschwörend in ihre hübschen Augen. „Und du kannst das auch. Du kannst sagen, was du willst. Du kannst denken, was du willst. Cassie will dich als freien Menschen in einer freien Welt sehen. Ohne Angst. Ohne Beklemmungen. Sie muss dich nicht ausspionieren. Du bist ein Teil von ihr. Denk an meine erste Begegnung mit Claudia: Wir alle sind Teil eines großen Ganzen.“

„Das stimmt. Du sagtest das. Aber du hast Claudia in diesem Moment direkt vor dir gehabt. Das geht tiefer, als wenn du es über einen anderen erfährst. Doch gerade eben, da habe ich dir geglaubt. Jedes Wort.“ Noch immer halte ich ihre Hände, küsse sie und sage: „Danke.“

„Und trotzdem: Da stehst du unter der Dusche und fragst dich, ob jemand zuschaut“, legt sie schnell noch nach.

„Tolle Wurst“, kontere ich, „Und wie stehst du da unter deiner Dusche? So, wie Gott dich schuf? Fällt dir was auf?“

„Mist, du hast recht. Das ist alles noch etwas neu für mich. Dieses Wissen um Claudia und Cassandra. Aber…, eigentlich ist es ja kein Wissen. Ich glaube dir das ja nur.“ Sie drückt meine Hände etwas fester, holt kurz Luft und sagt etwas unerwartetes: „Das klingt jetzt bestimmt fürchterlich spießig, Schatzi, aber ich habe meinen Glauben wiedergefunden. Durch dich.“

„Puh…“, mache ich nur und muss diese Eröffnung erst einmal verdauen. „Das lässt mich fünf Zentimeter wachsen, weißt du?“

„Dann bist du deinem Ziel ja schon ein kleines Stückchen nähergekommen, Herr Chronist, oder?“

„Tja, ein winziges Stückchen. Aber dafür ist es das wichtigste Stückchen der Welt“, antworte ich lächelnd.

„Schleimer“, bekomme ich zu hören.

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