01b Bin ich wahnsinnig oder nur verrückt?

Wenn du mittendrin anfängst, verstehst du nicht alles: Beginne lieber am Anfang.

Da sitze ich nun, mit meinem Wasserglas, und frage mich immer und immer wieder, ob das gerade eben wirklich passiert ist. Ja, das ist es – und es war kein Traum. Zu diesem Schluss bin ich jetzt schon ein paarmal gekommen. Aber trotzdem beginne ich immer wieder von neuem. Ein Traum fühlt sich auf jeden Fall unklarer an. Er verwischt auch nach relativ kurzer Zeit. Es wird schwerer, ihn im Gedächtnis zu behalten. Aber ich habe das komplette Programm an Sinneseindrücken in Kopf.

Alles ist da: Die Frühlingsluft und das Vogelgezwitscher. Claudias Stimme und das Rascheln ihres Kleides. Der Duft ihres Haares, als sie mich umarmte. Wie sie sich angefühlt hat, als wir uns an der Hand hielten. Wie sie versucht hat, beim Spaziergang im Gleichschritt mit mir zu laufen, was nicht immer gelang, bis ich schließlich kleinere Schritte machte. All diese Nebensächlichkeiten. Die Kleine mit ihrem Hund, der mich mit seiner feuchten Nase abschnuffelte und dann niesen musste.

Und natürlich ihre Augen. Diese sogartige Tiefe. Mein Drang, immer wieder ihren Blick zu suchen. Die Energie, die ich geradezu fließen spüren konnte, wenn wir uns berührten. Welcher Art diese Kraft auch war, sie sprang auf mich über. Die Gewissheit, die in ihrer Stimme mitschwang. Da fanden keine Zweifel einen Platz.

So träumt man nicht. Das kann man nur erleben. Ich habe es erlebt. So verrückt es auch klingt.

Was habe ich da gerade erlebt? Ich habe einen Engel kennengelernt, der sich allerdings einige Zeit später als Gott zu erkennen gab. Genaugenommen als die schöpferische Kraft, die das Universum erschaffen hat, aber ist das nicht Gott? Den Begriff Gott hat sie für sich nicht direkt in Anspruch genommen. Obwohl…, sie sagte, sie wolle kein Gott sein, aber es gäbe keinen treffenderen Ausdruck. Und…, ganz zu Beginn bat sie mich, ihr einen Namen zu geben. Und ich Idiot nenne sie Claudia, anstatt…, ja, was eigentlich?

Lord? Vater? Na, eher nicht. Mutter? Hoheit? Allmächtige? Wie hätte ich ihr – nach diesem ersten Auftritt – spontan einen Namen geben können? Natürlich denkt man da zuerst an einen Vornamen, oder etwa nicht?

Oh Mann, sie könne auch als alter bärtiger Mann erscheinen, sagte sie noch. Und dann ‚Claudia‘? Scheiße, deshalb hat sie so unverschämt gegrinst, als ich ihr diesen Namen aufgedrückt habe. Na, das kann ja heiter werden. Vielleicht mache ich dann Claudius draus. Was weiß ich. Vielleicht sehe ich sie ja auch nie wieder und sie vergisst mich einfach.

Oder…, ich habe zwar nicht geträumt, bin aber einfach verrückt geworden. Ich glaube nur, mich mit Gott unterhalten zu haben. In Wirklichkeit bin ich ein Spinner. Ich hätte genauso gut Elvis treffen können. Aber…, genau das erwähnte sie ja auch. Dass sie anderen…, ja, was bin ich eigentlich? Doch nicht etwa ein Prophet, oder so etwas? Bitte nicht. Egal. Sie musste anderen Erwählten – das klingt besser – erst mühsam klarmachen, dass sie eben nicht durchgedreht sind. Ich habe keine Ahnung.

Wieso heiße ich jetzt überhaupt Claude? Zumindest dann, wenn ich in Claudias Diensten stehe, ihr also helfe. Wobei überhaupt helfe? Die Menschheit zum Licht zu führen? Quatsch, ich werde sicherlich kein Sektenguru, das steht fest. Ich soll meine Erinnerung an dieses Treffen aufschreiben, zu Papier bringen, sagte sie. Und es würden noch weitere Treffen folgen, bei denen ich ihre Worte erfahren würde, sagte sie. Und diese Worte soll ich dann mit den Menschen teilen. In den sozialen Medien? Tut’s da, statt Papier, nicht auch ein Laptop? Oder doch Blätter verteilen? Ansprachen halten? Ich doch nicht – niemals. Ich denke, ich warte erst einmal ab, was jetzt noch passiert.

Andererseits…, sie war so echt, so natürlich, so ehrlich und total lieb. Sie führt sicher nichts Böses im Schilde. Ich meine, sie ist Gott, oder? Sie muss Gott sein. Sie holt mich von zuhause fort, bringt mich an einen seltsam schönen Ort, verbringt dort eine recht lange Zeit mit mir, lässt Karaffen, Gläser, Kinder, Hunde und Pavillons aus dem Nichts auftauchen und bringt mich danach wieder zurück, ohne dass eine einzige Sekunde vergangen ist. Und sie möchte, dass ich das alles aufschreibe. Nun, bevor ich etwas davon vergesse, sollte ich das vielleicht auch tun. Besser wäre es schon. Was habe ich zu verlieren?

„Warum wärmst du das Wasser mit den Händen? Ist es dir zu kalt?“, fragt mich meine Frau plötzlich.

Verdammt! Wie lange sitze ich hier schon herum, mit meinem Wasserglas? Ich habe jegliches Zeitgefühl verloren. Eine ganz simple Frage bringt mich von einem Moment zum anderen aus der Fassung. „Ich…, bin irgendwie gerade in Gedanken, Schatz. Ich weiß auch nicht“, antworte ich etwas unsicher.

„Du weißt nicht, worüber du nachdenkst? Oder warum du nachdenkst? Hmm?“, fragt Julia nach und ihre Mundwinkel ziehen sich verdächtig nach oben.

„Ich denke gerade über Religionen nach“, erkläre ich ihr für den Anfang. Was soll ich sonst sagen?

„Du? Religion? Was hast du geraucht?“ Ihr rechter Mundwinkel zittert schon ein wenig.

„Nein, ernsthaft. Ich habe mich gefragt, wie es wäre, mit Gott zu sprechen…“, sage ich, obwohl ich das eigentlich verdammt gut weiß, aber das kann ich ihr unmöglich erzählen. Ich zweifele ja selbst an meinem Verstand, was soll sie dann denken?

„Wer sind Sie und wohin haben Sie meinen Mann verschleppt?“, fragt sie drohend und zeigt mit zur Pistole gespreizten Fingern auf mich.

„Ach, jetzt sei doch bitte mal ernst, Schatz“, maule ich angesäuert.

„Du meinst jetzt… in der Kirche? So mit Holzbank, auf die Knie, Hände falten, und so weiter? Wann warst du das letzte Mal in der Kirche?“, fragt sie, wirklich interessiert, wobei sich die Mundwinkel wieder leicht entspannen.

„Keine Ahnung, wer hat denn wann zuletzt geheiratet? Aber nein, ich meine eigentlich eher so mit Gartenbank, nebeneinandersitzen, nett plaudern, und so weiter“, sage ich wahrheitsgemäß, was sie aber natürlich nicht einmal ansatzweise ahnen kann.

„Okay…? Wenn du es herausgefunden hast und das nächste Mal mit ihm essen gehst, frag ihn bitte, welche Zahlen im Lotto gezogen werden, ja?“, kommt von ihr zurück und die Mundwinkel sind wieder bis zum Anschlag oben.

„Haha, du Spaßnase. Ich fand’s spannend, darüber zu grübeln.“

„Lass dich nicht stören, Schatzi, aber stell jetzt bitte das dämliche Glas weg, oder trink es aus, oder hol dir ein frisches, ja?“, sagt sie noch, dreht sich zum Fernseher und greift zur Fernbedienung. „Ach, wenn du schon aufstehst, könntest du mir bitte eine Tüte Nüsse anreichen? Ja?“

„Wer sagt, dass ich überhaupt aufstehen will, ha?“, ärgere ich sie ein bisschen.

„Kühles frisches klares Wasser, leeecker und sooo erfrischend, nicht wahr? Merkst du’s? Du kannst nicht ohne…“, lässt sie einen beschwörenden Singsang hören.

„Okay, Nervensäge“, gebe ich nach und sie lächelt verschmitzt. Also versorge ich Julia mit ihren Nüssen und beschaffe mir ein nicht aufgewärmtes Wasser. Das kann ja nicht schaden. Dann räkele ich mich wieder in meinen Sessel und stelle das Glas erst einmal auf den Tisch, damit ich nicht erneut zum Glashalter mutiere. Meine Beste hat inzwischen einen Streaming-Anbieter aufgerufen und sucht einen Film, den wir uns gestern schon vorgemerkt hatten. Als die Vorspänne der geschätzt neun Produktionsfirmen laufen, driften meine Gedanken schon wieder zum heute Erlebten ab.

Das kann ja echt lustig werden. Ich soll zum Schriftführer Gottes ernannt werden und meine Aufzeichnungen dann mit den Menschen teilen, bin aber nicht einmal in der Lage, meiner eigenen Frau die frohe Kunde beizubringen.

Die hält mich doch für übergeschnappt. ‚Hör zu, Julia: Gott ist in Wirklichkeit eine blonde junge Frau namens Claudia und ich habe vorhin ein paar lustige Stunden mit ihr erlebt, während du dich hingesetzt hast‘. Geht’s noch?

Ich bin übergeschnappt.

Bin ich das?

Vielleicht sollte ich das erst einmal herausfinden. Ja, das werde ich tun. Ich will für mich selbst wissen, wie dieses Spiel weitergeht – ob dieses Spiel weitergeht. Weil ich glaube, weil ich sogar hoffe, dass es weitergeht, werde ich dieses Erlebnis aufschreiben. Auf dem Computer, nicht auf Papier. Dann kann ich immer wieder nochmal drüber lesen, ob ich vielleicht etwas vergessen habe und das dann nachtragen. Aber mehr nicht.

Ich werde aber zunächst einmal niemandem etwas darüber erzählen. Auch Julia nicht. Sie soll sich keine Sorgen um mich machen, bis ich selbst mehr darüber weiß. Bis ich weiß, ob ich Claudia überhaupt jemals wiedersehen werde.

Wer weiß, vielleicht entwickelt sich das alles ja in eine Richtung, die ich, nach diesem ersten bewussten Treffen, noch gar nicht überblicken kann. Oder Claudia gibt mir den einen oder anderen Tipp, was sie da eigentlich von mir erwartet und wie ich das umsetzen kann.

Was ist denn passiert? Ich bin mit einer Blondine an einem See spazieren gegangen. Und? Das könnte alles inszeniert gewesen sein. Das Mädchen mit dem Hund, zum Beispiel. Aber dann wieder: Die Karaffe. Die Energie. Die Augen. Halluzinogene? Aber warum? Was wäre der Sinn des Ganzen?

Was hätte Claudia, oder ihr böser Auftraggeber im Hintergrund, davon? Soll ich vielleicht doch für eine Verbrecherbande eine Sekte gründen, um den Leuten ihr Geld abzunehmen? Quatsch, da suchen die auch gerade so einen wie mich aus. Dazu bräuchten die einen Verkäufertyp und nicht jemanden, der die Zähne nicht auseinander kriegt. Claudia selbst, mit ihrer großartigen Ausstrahlung, wäre tausendmal besser geeignet.

Ich schreibe erst mal alles auf. Aber wie eigentlich? Hat sie mir irgendwelche göttlichen Worte oder Regeln genannt? Die 25 Gebote, oder so? Da war doch nichts in dieser Richtung. Obwohl…, es gibt keine Engel? Das ist schon eine Ansage. Aber…, andererseits gibt’s die ja doch, es ist halt immer nur eine Gestalt Gottes. Habe ich gerade ‚nur‘ gesagt?

„Schatzi…?“, holt mich Julias Stimme zurück in die Wirklichkeit. „Ich gehe jetzt nochmal 10 Minuten zurück und wir schauen gemeinsam, ja? Mit einer stummen Statue an der Seite ist das irgendwie doof. Grübeln kannst du auch später noch. Einverstanden?“

„Entschuldige bitte. Du hast Recht. Gegrübelt wird später“, verspreche ich ihr. „Lass laufen.“

Ich schreibe nur auf, was ich erlebt habe und wie ich es erlebt habe. Um die Feinheiten kümmere ich mich später. Ja. So wird’s gemacht. Zumindest bis zum nächsten Treffen. Dann sehen wir weiter. Beschlossen und verkündet. Und jetzt ist Kinozeit. Basta.

Am folgenden Samstag finde ich die Zeit und Muße, mich an meinen ersten Text zu wagen. Julia ist zu einer Freundin gefahren, um dort irgend so eine ‚Party‘ vorzubereiten und abzuhalten. Also habe ich sturmfreie Bude. Alles ist ein wenig gesackt und ich habe meine Zweifel tatsächlich überwunden. Zumindest meine Zweifel an Claudia und ihren Absichten. Ich bin mir sicher, dass ich das Treffen mit ihr genauso erlebt habe, wie es sich in meinen Kopf eingebrannt hat.

Auch eine weitere Erkenntnis ist in mir gereift: Claudia ist die körperliche Erscheinung dessen, was die meisten Menschen auf dieser Welt mit ‚Gott‘ gleichsetzen. Egal, wie sie diese Macht in ihrer Sprache auch nennen und egal, wie weit ihre Vorstellung von dieser Macht von der, mir anerzogenen, christlichen Sicht abweicht.

Auch wenn ich noch immer nicht verstehe, warum Claudia ausgerechnet mich erwählt hat, ihr Helfer zu sein, werde ich mir dieser Verantwortung mehr und mehr bewusst – und genau dort liegt mein Problem: Bin ich überhaupt in der Lage, mich dieser Verantwortung zu stellen? Ich bin weder ein ‚Frontmann‘, der von der Bühne aus die Massen begeistert, noch ein besonders talentierter Autor, der ein neues ‚heiliges Buch‘ schreiben könnte.

Ich bin mir inzwischen auch sicher, dass mehr dazu gehört, als nur eine nette Erzählung über unsere Begegnung zu schreiben. Sie will mir erklären, was ‚Gott‘ eigentlich ist. Was ‚Mensch‘ sich darunter vorstellen muss. Was ein moderner ‚Gott‘ von modernen Menschen erwartet. Ich weiß nicht, woher ich das weiß, aber genau dies war in meinem Herzen spürbar, als sie beim Abschied gesagt hat: „Schreibe deine Erinnerung an diesen Tag nieder und teile sie mit den Menschen.“ Ich hatte, über diese einfachen Worte hinaus, weitere Bilder in meinem Kopf und ich glaube zu wissen, woher sie kamen. Ich wusste es in dem Moment, als wir uns zum Abschied die Hand hielten.

Nun ja, ich habe mir jedenfalls schon einige Gedanken gemacht, wie ich die Sache angehen möchte, sofern…, ja, sofern es zu einem zweiten Treffen kommen wird.

Ich bin sehr gespannt…

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