17b Aller Abschied fällt schwer

Wenn du mittendrin anfängst, verstehst du nicht alles: Beginne lieber am Anfang.

Nach ausreichend langem erholsamen Schlaf treffen Julia und ich zum gemeinsamen Frühstück unten ein. Unser letzter Tag in der Villa ist angebrochen. Schon gestern hatten wir alles grobe im Wohnmobil verstaut, sodass praktisch nur noch unser Handgepäck und ein Wäschesack im Haus liegt.

Aus dem Treppenhaus höre ich schnelle Füße die Stufen heruntertippeln und nur Sekunden später huscht Majikku um die Ecke. „Guten Morgen, ihr beiden“, ruft sie und lässt sich von ihrem Schwung bis zu Julia tragen. Die zwei umarmen sich zur Begrüßung und anschließend bin auch ich an der Reihe. „Rebecca hat draußen eingedeckt“, erklärt sie kurz. „Sie möchte die Sonne genießen.“

Sie löst sich aus meinen Armen und zieht Julia und mich an den Händen hinter sich her auf die Terrasse. Dort werkelt Becci herum und stellt gerade Gläser auf die Platzdeckchen als sie uns bemerkt. Sie kommt auf mich zu und umarmt mich lächelnd mit einem „Guten Morgen, Thomas“. Dann geht’s weiter zu Julia und hier dauert die Umarmung ungleich länger. „Unser letztes gemeinsames Frühstück auf unbestimmte Zeit. Ich hab dich ganz doll lieb, Lia.“

„Ich dich auch, meine Kleine“, antwortet diese, streichelt der jungen Frau zart über den Kopf und drückt ihr ein Küsschen auf die Stirn.

Die zwei haben sich kennengelernt, als Rebecca noch mehr Mensch als Physis war. So konnte Julia Becci hier im Normalraum vollständig sehen. Diese Fähigkeit blieb ihr bis heute erhalten, obwohl Rebecca in ihrer Wandlung schon deutlich fortgeschritten ist. Julia arbeitet seither an ihren Sinnen, weil es ihr fester Wille ist, jeder Physis begegnen zu können. Sie hat bereits Schemen von Cassandra gesehen und seit diesem Wochenende ist auch Majikku ein fester Teil ihres Lebens. Für mich fühlt es sich ergreifend an, diese Umarmung zu sehen. Eine reife Frau hat ein Mädchen im Arm, das ihre Tochter sein könnte. Aus der gegenüberliegenden Perspektive drückt ein Mensch eine Manifestation des Schöpfers an sich, die dem ‚Menschenkind‘ um Äonen voraus ist. So schön kann das Universum sein.

„Hey, Heulsuse“, werde ich plötzlich von der Seite angesprochen. Ich wende mich um und glaube, nur für den Bruchteil einer Sekunde, Claudias lachendes Gesicht zu erkennen. Doch einen Wimpernschlag später sehe ich Majikku vor mir. Nur ihre Augen erinnern mich weiterhin an meinen blonden Anker. Die Tiefe des gesamten Universums mit all ihren Geheimnissen offenbart sich mir, wenn ich in sie hineinschaue. „Essen fassen“, lautet die knappe Ansage der Asiatin.

Wir nehmen Platz und lassen es uns schmecken. Leider können Julia und ich uns heute nicht mehr auf die Terrasse legen, weil wir nach dem Frühstück aufbrechen wollen. Für mich ist es etwas Neues, mich real von La Solas Physen zu verabschieden. Bei allen bisherigen Begegnungen haben sie mich irgendwo herausgezogen und später wieder dort abgeliefert. Meistens auf die Sekunde genau zu exakt der selben Uhrzeit. Aber zu diesem Wochenende sind wir tatsächlich angereist. Und genauso werden wir auch wieder im Wohnmobil zurückfahren. Dieses wahrhaftige Abschied nehmen hat aber auch Vorteile. Sie verschwinden nicht einfach, sondern man kann immer wieder hingehen und sie nochmal in die Arme schließen. Und nochmal. Und nochmal.

Nun sehe ich Majikku und Rebecca noch winkend im Rückspiegel, während sich das eiserne Rolltor zwischen uns schiebt. Julia ist abwechselnd am lachen und am schniefen und klammert sich an ihrem Papiertaschentuch fest. Ich selbst erwische mich dabei, wie ich mit verschleiertem Blick das Lenkrad erwürge. Wir biegen ab auf die Landstraße und die unscheinbare Lücke im Wald verschwindet, bis sie gar nicht mehr erkennbar ist.

Es ist gerade Mittag und unser Camper ist das einzige Fahrzeug weit und breit. Die erste Stunde auf der Landstraße fährt das Auto wie von selbst. In Gedanken bin ich überhaupt nicht hinter dem Steuer, sondern ganz weit weg. Eine antrainierte Routine in meinem Kopf sorgt dafür, dass das Lenkrad der Straße folgt und die Geschwindigkeit wird vom Auto automatisch eingehalten. Auch Julia sagt kein Wort. Sie ist hellwach und schaut nach vorne auf die Straße. Nichts am Straßenrand scheint ihre Aufmerksamkeit zu erwecken. Okay, da ist auch nichts aufregendes, aber normalerweise fallen ihr auch die winzigsten Kleinigkeiten auf, weil sie einfach nur hübsch sind.

Die Sonne scheint, der Himmel ist wolkenlos und am liebsten würde ich direkt wieder zurückfahren. Aber wir haben auch ein Leben daheim und Mandy vermisst wahrscheinlich ihre Begegnungen mit Artgenossen, die sie beim Spaziergang im Park trifft. In dem Park in unserer Nähe, wo ich unerwartet auf Rebecca stieß. Die traurige Rebecca mit ihrem zerfledderten Buch. Sie ist so lebendig geworden. Schon wieder bin ich in der Villa und schon wieder verliere ich mich in meinen Gedanken. Ich brauche einen Halt. Mein bester Halt sitzt direkt neben mir und ich glaube, es geht ihr nicht viel anders als mir. Es ist Zeit, aus dem Wirbel auszubrechen.

„Schatz?“, spreche ich meine Beste an.

„…….“

„Julia…?“

„…….“

„Erde an Julia Massner! Bitte kommen!“

„Sorry, bitte was…?“

„Ich wollte nur nachfragen, ob du erreichbar bist.“

„Entschuldige, ich war in Gedanken.“

„Geht mir genauso. Wieso kommt Rebecca auf die Idee, dich Lia zu nennen?“

„Keine Ahnung. Aber ich find’s süß. So hat mich noch niemand genannt.“

„Ich find’s auch süß. Und ich find’s doof, dass mir das in über 30 Jahren nicht eingefallen ist.“

„Wir sind halt ein langweiliges altes Ehepaar, Schatzi. — Da! Siehste? Ich sage auch immer nur dieses blöde Schatzi zu dir.“

„Ich finde Schatzi nicht blöd. Glaube ich. Nein. Ich weiß das ganz bestimmt.“

Julia lacht in sich hinein. „Ich bin gerne dein Schatz und ich bin genauso gerne Rebeccas Lia“, stellt sie fest, schaut grinsend zu mir rüber und fügt noch hinzu: „Aber du darfst mich auch gerne Lia nennen.“

Ich bin froh, dass wir uns gegenseitig an den Haaren aus unserem Gedankenchaos herausgezogen haben. „Becci ist ja auch die einzige Physis die mich Thomas nennt. Na gut; du machst das auch manchmal, aber meist nur, wenn du knatschig bist.“

„Aber Tommy sage ich auch manchmal. Auch dann, wenn ich gute Laune habe.“

„Es war unbeschreiblich schön, Rebecca und Majikku zu treffen. Und es war noch viel schöner, dass du beide sehen und fühlen konntest“, sage ich und unsere Hände treffen sich auf der Mittelkonsole.

„Hey, ich konnte mich sogar mit Twocloud unterhalten, obwohl ich mich zuerst verarscht gefühlt habe. Aber ich habe kapiert, dass es seltsam geworden wäre, im Trubel laufend zur Seite hopsen zu müssen“, amüsiert Julia sich.

„Ich kann da nichts zu sagen, Schatz. Mich hat er nur durch tote Gegenstände durchgezogen. Es bestand nicht die Gefahr, Menschen von innen sehen zu müssen.“

„Es ist schon außergewöhnlich, solche Erlebnisse zu haben. Und noch besser ist es, mit jemandem darüber reden zu können“, gesteht Julia – und ich weiß genau, was sie damit sagen will. „Die alten Männer sind gruselig, Schatzi. Ich kann nicht nachvollziehen, warum jemand ein solches Leben führen will. Was ist bei denen schief gelaufen, dass sie nur nach Macht streben? Sehen sie all das Schöne um sich herum nicht?“

„Schönheit liegt im Auge des Betrachters, sagt man. Das Spiel läuft ja auch schon seit Generationen, darfst du nicht vergessen. Die fiesen alten Männer von heute waren auch mal Kinder. Was wurde mit denen angestellt? Wie wurde sie geprägt? Ich will nichts beschönigen, ganz bestimmt nicht, aber ein Mensch wird nicht von allein so fies.“

Julia wiegt den Kopf hin und her. „Ich verstehe, was du meinst. Aber jetzt sind sie sind nun mal fies geworden. Egal warum. So eine Einstellung verträgt sich leider überhaupt nicht mit meinem moralischen Kompass.“

„Ich gebe dir recht, Schatz. Wir können nicht immer die Schuld bei den Toten suchen“, entgegne ich ein wenig gedämpft. „Wir können nicht alles verzeihen. Wir dürfen es auch nicht. Wir müssen den Kreis durchbrechen. Nach allem, was ich bislang von La Sola gelernt habe, müssen wir Wege finden, so etwas zu verhindern.“

„Die andere Wange hinhalten und sich verhauen lassen kann aber auch keine Lösung sein.“

„Moment mal; diese Wangengeschichte sollte auch überhaupt nicht so verstanden werden. Ganz im Gegenteil. Wenn du in einer wirklich wichtigen Sache streitest, dann bleib dran. Verfolge diese Sache weiter und tritt für sie ein. Rechne damit, angegriffen zu werden, aber ziehe dich nicht aus Furcht zurück. Halte die andere Wange hin, aber lass dich nicht treffen.“

Julia stutzt kurz, beginnt dann aber ein bisschen fies zu grinsen. Nicht viel, aber doch erkennbar. „Manchmal ist es doch ganz gut, dass du dich mit den alten Texten beschäftigst.“

Der Camper dieselt bei geringer Drehzahl über die langgezogene Straße. Kaum eine Kurve, aber Berge und Täler. Das flirren der heißen Luft über dem Asphalt sieht aus wie Pfützen aus klarem kochenden Wasser. Ganz selten sieht man zehn Berge weiter ein entgegenkommendes Auto – bis es im nächsten Tal wieder verschwindet und auf irgendeinem der nächsten Berge wieder auftaucht. Du weißt genau, dass es da ist und trotzdem ist es die meiste Zeit unsichtbar. Selbst der 3D-Raum kann verwirren. Wie viele Hügel, wie viele Ebenen sind wir von La Sola entfernt? Wie viele Sprossen hat die Leiter? Und auf welcher stehen wir?

Womit wir wieder bei La Sola wären und bei meiner Aufgabe, ein Buch zu schreiben. Aber nun ist die Katze aus dem Sack. Das Geld und die Politik sind nicht zwei verschiedene Probleme, sondern ein einziges. Julia und ich fragten uns ja schon lange, was von beiden zuerst verschwinden müsste. Unterm Strich waren wir uns einig, dass wohl zuerst die Politiker weg müssen. Vor allem deshalb, weil die den lautesten Widerspruch von sich geben würden. Dass dahinter aber noch eine ganz andere Macht steckt, war uns zu dieser Zeit noch nicht klar. Eine Gruppe größenwahnsinniger Subjekte, die sich selbst erhöht und alle anderen erniedrigt hat. Nach deren Pfeife die Politiker, die Medien, die Konzerne und praktisch alle weltumspannenden Organisationen tanzen.

Ich lege Julia meine Gedanken offen und bin gespannt, wie sie die in der Villa erhaltenen Informationen verarbeitet hat.

„Ich denke, dass es dem reichsten 1 Prozent unserer Spezies bei einem Glas Champagner auf einer Südseeinsel deutlich leichter fällt, zusammenzuhalten als den restlichen 99 Prozent, die sich tagtäglich mit ihrem nackten Überleben im Alltag beschäftigen müssen. Und das auch noch, während sie durch die Medien in immer neue Lager gespalten werden. Diese Partei oder die andere, diese Religion oder die andere, Frauen gegen Männer, Arbeiter gegen Akademiker, Dunkle Haut gegen helle Haut, Berge gegen Strand und Dünne gegen Dicke. Wie sollen diese von Ängsten gebeutelten Menschen es schaffen, zusammenzuhalten?“

„Du hast recht, Schatz. Wir müssen deutlicher werden“, spreche ich aus, was ich denke. „Die Webseite läuft gut. Wir sehen zwar nicht, wer sie aufsucht, aber wir sehen, wie oft sie aufgerufen wird. Bei den sozialen Medien tut sich nicht sehr viel. Die Menschen sind passiver als wir erwartet haben. Sie konsumieren, wollen unterhalten werden. Sie sind es wahrscheinlich so gewohnt. In der heutigen Zeit werden sie von allen Seiten vollgedröhnt. Immer und überall. Sie werden nicht mehr gefragt, weil man sowieso keine Antwort von ihnen erwartet. Außer vielleicht bei der Frage ‚Sind Sie einverstanden?‘. Sie sollen einfach nur funktionieren und vielleicht noch einen aus Wut geborenen Kommentar reinschmieren, an dem sich andere wiederum aufgeilen können.“

„Was macht das Buch?“, fragt meine Beste. Sie weiß, dass wir eins vorbereiten. La Sola – Das erste Buch‘ soll es heißen. Die Kapitel 1 bis 10 sind fertig, beim Wort stehe ich mal wieder auf der Stelle. René, meine Verbindung zur Geschäftswelt, hatte aber noch eine verrückte Idee dazu. Er brachte noch 10 Privatkapitel ins Spiel. Die handeln nicht von meinen Treffen mit La Sola, sondern sollen nur mich beschreiben. Die Zeit zwischen den Treffen. Wie ich damit umgehe, derartig gesegnet zu sein. Wie ich diese Begegnungen verarbeite und umsetze. Er hat natürlich auch Julias okay eingeholt, denn sie ist der einzige Mensch, zu dem ich ehrlich sein darf.

„René hat das erste Kapitel fertig und ich muss sagen, dass die Umsetzung mir gefällt. Ich habe ab sofort also einen Co-Autoren. Was mir nicht so gefällt: diese Privat-Kapitel sollen nur im Buch erscheinen und nicht auf der Homepage. So will sein Team ein paar Euro einnehmen, um die Technik am Laufen zu halten. Auf der Webseite wird zwar sowieso um Unterstützung gebeten, aber unsere Leser scheinen eher nicht sehr spendabel zu sein. Vielleicht versuchen wir es so, aber für mich ist es nach wie vor am wichtigsten, dass die Worte La Solas von jedem Menschen kostenfrei gelesen werden können. Und das geht über die Homepage zu jeder Zeit. Wie wir dann später mit meinen eigenen Worten umgehen werden – und deinen natürlich – werden wir noch sehen. Das Buch muss erstmal fertig sein.“

„Mit dem Thema Geld und der Gattung der Berufspolitiker sind wir noch nicht durch, Schatzi.“

„Dazu hat René mir auch vor kurzem noch was interessantes erzählt. Es könnte uns helfen, vom Geld loszukommen. Normales Zentralbank-Geld ist ja Schuldgeld, wie wir schon länger wissen. Dass einige gruselige Egomanen dahinterstecken, war mir bis gestern nicht so klar, aber La Solas Worte waren eindeutig. Es gibt aber auch andere Ansätze, um Anerkennung von Leistungen und Dank für Hilfestellungen auszudrücken. Wenn wir die Menschen dafür begeistern können, fällt ihnen der Abschied von der Finanzwelt nicht so schwer. Es geht um eine Art Naturgeld. Es ahmt den natürlichen Kreislauf des Lebens nach. Sehr spannend. Er wollte eine Geschichte darüber schreiben. Vielleicht bauen wir die ja auch in die Homepage ein.“

„Naturgeld? Tauschen wir dann wieder Äpfel gegen Brot? Arbeit gegen Verpflegung und Unterkunft? Ist das zukunftsweisend?“, fragt Julia überaus skeptisch nach.

„Nein, so natürlich nicht. Aber stelle es dir trotzdem für einen Moment vor: du bekommst für ein gebrauchtes Auto eine Tonne Äpfel. Was wäre, wenn?“

„Ich hätte bald Durchfall und einen Garten voller wertlosem gärenden Abfall. Das ist doch Schwachsinn.“

„Außer, du würdest die Äpfel, die zu viel für dich sind, weitertauschen. Es macht jedenfalls keinen Sinn, die Äpfel zu horten. Das hast du sofort richtig erkannt“, grinse ich ein bisschen provozierend.

„Und was soll diese Erkenntnis mir nun sagen…?“, kommt etwas ungeduldig von der Beifahrerseite.

„Dass du auf der richtigen Spur bist. Genau wie die Äpfel, vergammelt auch das Naturgeld mit der Zeit. Jeder einzelne Taler hat eine eingebaute Lebensuhr. Jede Sekunde verliert er ein kleines bisschen seines Wertes und nach einem Jahr ist die Hälfte bereits weg.“

„Dann habe ich nach einem Jahr nur noch 50 Kreuzer auf dem Konto? Dann ist das Zeug schon mal haltbarer als Äpfel, aber ich finde es trotzdem seltsam, dass das Geld wertlos wird. So kann man nichts für schlechte Zeiten zurücklegen.“

„Geld für Krisenzeiten zurücklegen, hat noch nie etwas genützt. Wenn schlechte Zeiten kommen, kommt auch die Hyperinflation. Das ist immer so. Dann ist auch dein mühsam zurückgelegtes Geld wertlos. Nein, beim Naturgeld geht es um etwas anderes: man kann keinen übermäßigen Reichtum mehr anhäufen. Die 99 zu 1 Schere schließt sich endlich.“

Ich schaue nach rechts, weil ich keine Antwort höre und sehe in ein nachdenkliches Gesicht. „Okay, ein Punkt für den Gammeltaler, aber verdienen muss ich den doch trotzdem. Also hat mein Chef doch immer noch eine gewisse Gewalt über mich, oder nicht?“, fragt sie.

„Nein, hat er nicht. Denn die Gemeinschaft überweist dir jeden Monat 1.000 Taler auf’s Konto, nicht irgend ein Chef. Nur, wenn dir das zu wenig ist, kannst du was dazu verdienen. Bei irgend einem Chef. Oder einzelnen Auftraggebern. Steuern gibt es übrigens in der Welt des Naturtalers auch nicht mehr.“

„Moment mal. Wie soll das denn gehen. Im Naturland zahlt man keine Steuern, aber die Zahlen mir jeden Monat 1.000 Taler? Wo kommt die ganze Kohle denn her?“

„Das lustigste an deiner Frage ist, dass du dieselbe Frage beim Euro nie gestellt hast.“

„Das ist doch jetzt egal, Schatzi. Wir bleiben bitte beim Naturtaler, okay? Wo kommt das Geld her?“

„Dafür, dass du ein Teil der Gemeinschaft bist, werden 3.000 Taler geschöpft.“

„Jetzt schon 3.000 Taler?“

„Ja, aber nicht für dich. Jetzt hör doch endlich mal zu, du olle Nervensäge“, sage ich und schiele nach rechts. Sie grinst. Aber ein liebes Grinsen.

„Tausend von den dreitausend gehen pauschal in den Gemeinschaftshaushalt, damit vom Schienen- und Straßenbau bis zum Leitungsbau für Strom, Gas, Wasser, Abwasser und Kommunikation, alles abgedeckt ist. Auch die Bildung, Schulen, Universitäten, die Forschung, die Krankenversorgung und alles, was der Mensch so braucht, wird davon bestritten. Tausend weitere Taler gehen in einen Font, der sich um gewisse Ungerechtigkeiten und die Umwelterhaltung kümmert. Thema Ausgleich: Nicht jede Region hat die gleichen Möglichkeiten. Manche Gegenden haben zum Beispiel schlechten Mutterboden aber viele Bodenschätze. Thema Umwelt: Die Menschen haben den Planeten ziemlich verdreckt. Mikroplastik und chemische Rückstände von Medikamenten und Pestiziden zum Beispiel. Ist bis dahin alles klar, Lia?“

Sie macht ein ‚schnurrendes‘ Geräusch, rutscht zu mir rüber und gibt mir einen Kuss auf die Wange. „Ja, Tommy, alles klar. Erzähl weiter, bitte.“

„Und die letzten tausend Taler erhält der Mensch selbst. Also du. Einfach nur dafür, dass du da bist. Für dein Sein. Für dein Wirken in der Gemeinschaft. Für ein Leben ohne jegliche Steuern ist das gar nicht so wenig. An diese tausend Taler, die du von der Gemeinschaft bekommst, ist jedoch eine Verpflichtung geknüpft: du musst jeden Monat 50 Stunden lang auch etwas für die Gemeinschaft tun. Deshalb nennt man das auch nicht ‚bedingungsloses‘ sondern ‚aktives‘ Grundeinkommen.“

„Also zwölfeinhalb Stunden pro Woche? Das ist nicht viel. Und was sollte das sein? Steine klopfen?“

„Deine Kinder erziehen, deine Enkel hüten, für die gehbehinderte Nachbarin einkaufen, deinen Vater pflegen, auf Juttas Hund aufpassen, Nathalies Blumen gießen, im Altenheim Klavier spielen, mit Gertrud zum Arzt fahren, dem frechen Bengel von nebenan die Bruchrechnung erklären und all so‘n Zeug. Noch Fragen?“

„Das verstehen die unter Dienst an der Gemeinschaft? Das alles mache ich doch jetzt schon“, wundert sich meine Beste.

„Ich weiß, Schatz. Und das alles wird in unserer jetzigen Leistungsgesellschaft einfach unter den Teppich gekehrt. Bei uns zählt nur das Geld. Alles, wofür du kein Geld bekommst, ist in unserer Gesellschaft wertlos. Außer vielleicht für die Betroffenen. Das ist unsere Prägung. Das ist der Plan der alten Männer.“

„Mein Gott. Das haben die Mädchen uns alles haarklein erläutert. Wir wissen nun Bescheid und denken trotzdem noch immer in diesen Bahnen“, sagt Julia und schüttelt den Kopf. „Ist das nicht schlimm? Wie kommen wir aus diesem Denkmuster raus?“

„Twocloud sagte mir mal, dass wir die Menschen nicht von heute auf morgen erreichen werden. Aber die Saat müssen wir trotzdem ausbringen. Manchmal muss man einfach die Zeit für sich arbeiten lassen.“

„Und die Menschen immer wieder daran erinnern. Das Gespräch darauf bringen. In bestimmten Situationen darüber sprechen“, ergänzt Julia nickend. „Nur das mit dem zinsfreien Kredit zum Häusle bauen hab ich noch nicht kapiert.“

Ich muss grinsen, denn die Antwort liegt auf der Hand. Wir sehen sie nur nicht. „Wenn du dreißigtausend Taler brauchst, fragst du herum, wer welche übrig hat.“

„Und die sagen es mir freiwillig?“

„Die sagen es dir liebend gerne, denn was passiert, wenn sie die Taler herumliegen lassen?“

„Sie verlieren jede Sekunde an Wert?“

„Klar. So ist es. Wenn sie dir nun die 30.000 leihen, dann verpflichtest du dich natürlich zur Rückzahlung. Du zahlst in Raten von deinem Konto, bis du genau 30.000 Taler zurückgegeben hast. Sie haben also keinen Wertverfall während der Kreditlaufzeit und du ebenfalls nicht. Das Haus steht und sobald dein Konto nachgefüllt wird, geht eine Rate davon runter.“

„Verstehe: Geld verleihen schützt vor Wertverfall. Allerdings wird mir wohl niemand ein Haus für 30 Riesen bauen.“

„Sicher? Wie viele Steuern verstecken sich in der gesamten Wertschöpfung eines Hauses, Schatz? Mehrwertsteuer, Umsatzsteuer, Gewerbesteuer, Einkommenssteuer, Lohnsteuer, Mineralölsteuer, Grunderwerbssteuer, und später Grundbesitzabgaben. Vielleicht noch ein paar kleine Rücklagen der Handwerker für schlechte Zeiten? Ich hab garantiert einiges vergessen.“

„Ich werde danach suchen“, sagt Julia und schnappt sich ihr Telefon. Soll sie es versuchen. Ich bin gescheitert. Nur tonnenweise Antworten, die mit meiner Frage nichts zu tun hatten.

Statt dessen habe ich dann nach den Steuern im Benzinpreis gesucht, deren Anteil bei stattlichen 61,1 Prozent liegt.*

„Mann, was soll der Mist“, mault es vom Beifahrersitz her. „Ich weiß jetzt fast alles darüber, wie ein Häuslebauer allen Scheiß von den Steuern absetzen kann, außer Steuern natürlich, aber keine einzige Antwort, die konkret auf meine Frage eingeht.“

„Japp, es wird einem nicht allzu leicht gemacht, Licht auf die weit geöffneten Taschen des Staates zu werfen. Der Staat verdient immer mit. Schaffe, schaffe, Häusle baue, Steuere zahle unn veregge. Das würde es beim Naturtaler auch nicht geben.“

„Natürlich nicht, wenn’s bei dem keine Einkommensteuern mehr gibt“, entgegnet Julia, „Hey! Ich hab‘ was. Haaaa! Ist aber schon älter. Hör mal zu: ‚Von jedem Euro, der beim Hausbau investiert wird, fließen 51 Cent an Steuern und Sozialabgaben an den Staat. Die öffentlichen Kassen profitieren weit mehr vom Wohnungsbau, als sie in dessen Förderung investieren‘.“

Sie wirft ihr Smartphone auf die Ablage, zieht ihre Beine auf den Sitz und sagt: „Ist das nicht nett? Du hattest recht; der Staat verdient immer mit. Versteckte Steuern, wo du auch hinguckst. Sag mal: wo genau ist dieses Naturland eigentlich? Das würde ich mir gerne einmal aus der Nähe ansehen.“

„Diesem Naturland geht es genauso wie unserer Welt ohne Geld, Schatz. Mit den aktuellen Profipolitikern wird es im ganz großen Stil ein Traum bleiben. Aber die Menschen bilden inzwischen in vielen Städten vernetzte Gruppen. Auch bei uns um die Ecke. Sie führen Tauschmärkte durch, erledigen Arbeiten füreinander und bedanken sich gegenseitig mit dem Naturtaler, für den man tatsächlich ein Konto einrichten kann. Ich wusste selbst bis vor kurzem nichts davon, obwohl es ihn schon relativ lange gibt. Sein Name ist eine Abkürzung für Graditude (Dankbarkeit), Dignity (Würde) und Donation (Schenken), also Gra Di Do oder zusammen ‚Gradido‘. Danach kannst du jetzt gerne mal suchen. Das macht wenigstens Freude – und du wirst sicher ganz viel darüber erfahren.“

https://gradido.net/de

*Anmerkung: es wurden die Zahlen von 2025 verwendet, nicht die vom Zeitraum der Handlung.

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