09a Über die Ebenen des Universums

Wenn du mittendrin anfängst, verstehst du nicht alles: Beginne lieber am Anfang.

Habe ich da gerade ein Déjà-vu?

Ich sitze in unserem Arbeitszimmer und starre den Monitor des Computers an. Ab und zu huscht mein Blick aus dem Fenster und rüber zum Nachbarhaus, einfach nur, um die Augen daran zu erinnern, dass es auch noch eine Weite gibt, in die man hinausschauen kann. Nein, dies ist keine Täuschung. Ich spüre eine Anwesenheit. Ich bin mir sicher – beinahe sicher. Durch die Tür ist niemand gekommen, also was spüre ich da? Bin ich schon so weit, dass ich La Sola spüren kann? Oder spüre ich sie nur, wenn sie es will? Oder bin ich vielleicht nur überspannt? Ich weiß es nicht, aber ich bluffe einfach. Was soll passieren? Im dümmsten Fall passiert nichts und im besten Fall habe ich sie erwischt. „Oh, Hallo“, sage ich, ohne mich umzudrehen, „schön, dass du da bist.“

„Selber Hallo“, höre ich von hinten, „schön, dass du da bist.“

Claudias Stimme. Mein Herz pocht lauter. Ich wende mich erfolgreich grinsend um und stehe auf. Wie beim letzten Besuch sitzt sie auf einem der Stühle an dem kleinen Tischchen, schaut mich an und lächelt mir zu, während sie ebenfalls aufsteht, um auf mich zuzugehen. Sie wirkt heute so erwachsen, meine kleine Claudia. Blonde Locken wippen im Takt ihrer Schritte, die Kleidung, bestehend aus einer weißen, locker sitzenden Hose und einer ebenso farblosen Bluse, wirkt zwar zwanglos, sieht aber nicht nach Freizeitlook aus. „Hui“, entwischt es mir, „warst du beim Friseur?“

Wir umarmen uns und ich halte sie bestimmt eine ganze Minute einfach nur fest. Sie lehnt sich an mich und ich fühle die Energie, von der sie umgeben ist. Diese unbeschreibliche Energie. Sie erfasst mich, sie stärkt mich, sie lädt mich geradezu auf. Wir gehen auseinander und ich halte sie an den Händen fest, um sie anzusehen. Schicke Schuhe, die weiße Kleidung, ein warmes Lächeln und die – wie immer – faszinierenden Augen.

„Für meine letzte Erledigung brauchte ein spezielles Outfit. Ich dachte, wir beide kennen uns schon so gut, dass ich mich nicht extra neu stylen muss“, antwortet sie, immer noch freundlich lächelnd.

„Von mir aus kannst du auch einen Kimono oder einen Sack tragen, das ist mir wurscht“, erwidere ich leicht grinsend.

„Ha!“, ruft sie, „Das merke ich mir“, und aus dem Lächeln wird ein fetteres Grinsen als meins.

„Was meintest du eigentlich vorhin mit: ‚Schön, dass du da bist‘? Ich bin doch immer da. Ganz im Gegensatz zu dir. Du bist ja nur zu Besuch“, fällt mir ein, zu fragen.

„Och, das passte grad’ so schön“, antwortet sie, „aber was du da sagst, stimmt nicht so ganz. Ich bin nämlich auch immer hier, aber oft auf eine andere Weise.“

„Aha. Erzähl“, sage ich knapp und deute auf die Stühle.

Claudia geht zurück zu ihrem ‚Lieblingsstuhl‘ und setzt sich. Ich nehme schnell noch zwei Gläser aus dem Schrank und gieße uns eine Limonade ein. Sie nimmt direkt einen großen Schluck und legt sofort los: „Du hast mich, also genaugenommen Twocloud, schon bei den Tsalisen gefragt, ob ich dir dieses Raumzeitding erklären könne, nicht wahr?“

„Ah, jetzt weiß ich doch schon mal, wie diese Bronzewesen heißen. Danke dafür. Und ja, das würde mich wirklich sehr interessieren“, bestätige ich und greife ebenfalls zur Limo.

Sie verzieht ein wenig die Mundwinkel, nimmt mich an den Händen, kaum, dass ich das Glas abgestellt habe und sagt in einem bedauernden Tonfall: „Das Dumme ist, dass ich dir das nicht wirklich erklären kann. Leider.“

„Kannst du nicht oder willst du nicht?“

„So bin ich nicht, Claude, und das weißt du auch“, gibt sie ein bisschen streng zurück. „Nein, die Sinne der Menschen sind einfach nicht geeignet, das zu erfassen. Da muss die Evolution noch kräftig an euch arbeiten. Obwohl…, du machst Fortschritte. Deine Fähigkeiten der Wahrnehmung sind schon außergewöhnlich. Also, was das Übersinnliche angeht. Das hast du gerade eindrucksvoll demonstriert.“

„Und schon wieder ein Kompliment für etwas, wozu ich eigentlich nichts beigetragen habe. Das machst du echt gut“, beklage ich mich schmunzelnd.

„Ja, wenn ihr nur mehr auf euer Bauchgefühl geben würdet“, ergänzt sie lächelnd.

Weil ich aber nun mal neugierig, äh, nein, wissbegierig bin, stochere ich weiter: „Jetzt lenk nicht ab. Wie geht das denn nun mit dem Raumzeitding, meine kleine Göttin.“

„Bah, du Schleimer“, lacht sie auf, „Aber okay, nimm ein leeres Blatt Papier und zeichne ein Oval mit 6 Füßchen. Du malst jetzt bitte einen Käfer, ja?“

„Alles klar“, sage ich, hole mir Stift und Papier und setze mich wieder zu ihr. Gut wird mein Gemälde nicht, aber ich male sogar noch ein kleines Köpfchen mit Fühlern an meinen Käfer.

Sie schaut mir schweigend zu und erklärt dann weiter: „Alles, was du auf das Blatt malst, kann er sehen und fühlen. Zeichnest du eine Linie, muss er herumlaufen. Malst du ein Quadrat um ihn, ist er eingesperrt. Mach das bitte jetzt.“

Ich komme mir vor wie im Kindergarten, aber ich male einen Kasten um meinen Käfer.

„Aber“, fährt sie fort, „er ist intelligent und hat schon längst herausgefunden, dass er selbst auch zeichnen und radieren kann. Auch er kann ein Quadrat zeichnen und eine Lücke lassen, die ihm als Eingang dient.“ Ich traue meinen Augen kaum, als mein Käfer sich auf dem Blatt zum Rand des Quadrates bewegt und dort eine Lücke entsteht.

In meine Verblüffung hinein redet Claudia weiter. „Er kann so ganz viele verschachtelte Räume bauen, so wie du dir eine Villa bauen könntest.“ Der Käfer marschiert durch seine geschaffene Tür und beginnt, ein zweites Quadrat zu zeichnen. „Das kleine Papierblatt, was hier als Beispiel auf dem Tisch liegt, kann in Wirklichkeit auch riesengroß sein. So groß, wie eine Stadt. So groß, wie ein Kontinent. So groß, wie ein ganzer Planet, aber es ist immer nur ein flaches Blatt. Es ist immer nur eine Fläche.“ Ich glaube, einen Zeichentrickfilm zu sehen, eine Animation. Die ‚Kamera‘ zoomt auf und ich sehe nun viel mehr von der Welt des Käfers. Viele Quadrate, Kreise, Rechtecke und unglaublich viele winzig kleine Käfer, die auf meinem Briefbogen herumwuseln.

Und Claudia spricht weiter: „Viele Milliarden Käfer leben auf dieser riesigen Fläche. Eine ganze Zivilisation ist dort entstanden. Die Käfer leben genauso glücklich auf ihrer Fläche, wie die Menschen auf ihrer Kugel, die sie Erde nennen. Nur eines kennen sie nicht: Den Begriff ‚Höhe‘.“

Sie hält inne und schaut mich an, aber selbst die Unendlichkeit in ihren Zauberaugen kann mich nicht herausreißen aus meiner Neugierde, aus meinem Wissensdurst. Sie merkt das und zeigt mir ein verstehendes Lächeln. Dann nimmt sie den Stift aus meiner Hand, legt ihre Hände auf meine und setzt ihre Geschichte fort: „In ihrer flachen und zweidimensionalen Welt gibt es keine Höhe. Alles ist flach. Nun stell dir vor, du wärst auf die Welt der Käfer gelangt und möchtest Kontakt zu einem von ihnen aufnehmen. Wie stellst du das am besten an?“

„Das ist `ne Fangfrage!“, sage ich spontan und sie quittiert das mit einem glockengleichen Lachen.

„Klar, was sonst?“ sagt sie.

Ich versuche, logisch zu denken und frage: „Wie groß ist so ein Alienkäfer?“

„1 Meter 50 lang und 50 cm breit“, erfahre ich die Fakten.

„Oha. Riesenkäfer. Dann kann ich die zumindest nicht versehentlich zertreten“, stelle ich nüchtern fest.

Sie schnauft lachend aus der Nase und meint: „Definitiv nicht.“

Ich habe einen ersten Plan geschmiedet. „Okay. Ich trete langsam an ihn heran und begrüße ihn mit ‚Hallo, mein Freund. Ich freue mich, dich zu sehen‘, dann warte ich geduldig ab.“

„Aha“, entgegnet sie und grinst dabei im Kreis. Das kann sie wirklich gut und ich fühle mich dabei immer wie ein Depp. „Welchem von euch beiden soll er antworten?“

„Euch beiden?“, frage ich irritiert, „Welche beiden?“

„Na ja, vor dem Käfer stehen gerade zwei kleine Lebewesen, die knapp 30 cm lang und 10 cm breit sind. Sie haben durchaus eine gewisse Ähnlichkeit mit Fußabdrücken“, klärt sie mich auf und ihr Grinsen wird noch breiter, obwohl das eigentlich kaum noch geht.

„Ach Mensch! Die Höhe fehlt! Der sieht mich gar nicht“, entfährt es mir, „Er kann nur meine zweidimensionalen Fußstapfen erkennen.“

„Jaaa“, ruft sie aus, springt auf und schlüpft hinter meinem Stuhl. Ich spüre einen Schmatzer auf dem Hinterkopf. „Jetzt hast du es erfasst. Wenn du dich ihm in deiner ganzen Größe zeigen wolltest, müsstest du dich flach auf den Boden legen“, bestätigt sie meine Erkenntnis und geht wieder auf ihren Platz zurück, um einen Schluck von der Limo zu schlürfen.

„Wenn man ein wenig drüber nachdenkt, ist das ganz klar und logisch“, beglückwünsche ich mich selbst zu meiner Erkenntnis.

„So ist es. Und jetzt steigern wir das Ganze nochmal: Stell dir vor, Menschen könnten fliegen oder schweben. Was sieht der Käfer dann von dir?“, lautet die nächste Aufgabe.

„Nichts“, antworte ich und überprüfe im Geiste schnell meine Antwort, ob ich dabei noch irgendetwas übersehen habe. Es bleibt aber dabei und ich bestätige nochmals: „Überhaupt nichts.“

„Siehst du?“, sagt sie, „Dann könntest du bei dem Käfer sein, könntest ganz dicht bei ihm sein und trotzdem würde er dich überhaupt nicht bemerken.“ Sie sieht mir tief in die Augen und lässt diesen Satz wirken. „Du wärst zwar bei ihm, aber auf einer Ebene, die er nicht wahrnehmen kann.“

„So weit, so gut, aber wir Menschen kennen doch die Höhe und alle anderen Ausdehnungen… Moment…“ In diesem Moment erfasse ich den Sinn ihres Beispiels. Wow, das tut weh. Ich fühle mich plötzlich ganz klein und unbedeutend. Diese Feststellung verpacke ich vorsichtig in meine nächste Frage: „Du machst mir gerade klar, dass es mehr Ebenen gibt, als wir Menschen wahrnehmen können. Wir sind für dich der Käfer. Du stehst neben uns und trotzdem sehen wir dich nicht. Du bist da, obwohl wir dich nicht wahrnehmen können. Das ist großartig und gleichzeitig auch ein wenig ernüchternd.“

Sie zeigt mir ein Lächeln, welches beinahe mütterlich wirkt. Nehme ich das jetzt nur so wahr, weil sie mir soeben meine Unvollkommenheit dargelegt hat? Aber, so oder so: Meiner reiferen Claudia nehme ich das tatsächlich ab, obwohl sie immer noch meine Tochter sein könnte. „Großartig und ernüchternd? Interessante Wortwahl“, sinniert sie leise.

„Findest du?“, frage ich. Aber ich empfinde diese Beschreibung nach wie vor sehr passend. „Ja, es ist großartig, dass ich in vielen Momenten, in denen ich mich allein fühle, vielleicht gar nicht allein bin. Dass du da bist, bei mir bist und deine Kraft mir hilft, solche Momente zu meistern.“ Ich glaube zu erkennen, dass es in ihren Zauberaugen leicht glitzert. „Ernüchternd dagegen ist, dass wir Menschen ganz offensichtlich nur einen geringen Teil unseres Universums wahrnehmen können. Wie viel entgeht uns da? Werden wir irgendwann mehr erkennen können?“

Sie fasst mich bei den Händen und lächelt mich an. „Das, mein Lieber, kommt ganz allein auf euch an“, lautet ihre Antwort. „Ihr seid ja schon recht pfiffig und habt mit mathematischen Methoden bereits nachgewiesen, dass ihr irgendetwas da draußen nicht wahrnehmen könnt, was es aber geben muss, weil das Universum sonst gar nicht so laufen würde, wie es halt läuft.“ Ich höre ganz deutlich eine Spur von Stolz in ihrer Stimme. „Ob ihr aber biologisch oder geistig jemals in der Lage sein werdet, die eine oder andere Ebene zu erkennen oder gar zu beherrschen, kommt in erster Linie darauf an, wie lange es eure Art überhaupt geben wird.“

„Super. Deine Tiefschläge kommen aber gut durch, heute. Wenn wir nur lange genug leben, werden wir auch laufen lernen, meinst du. Wie beruhigend. Aber Spaß beiseite: Je länger es eine Spezies gibt, umso weiter entwickelt sie sich?“

„Ja, so ist es im Allgemeinen“, bestätigt sie lächelnd meine Vermutung.

„Aber einige unserer Forscher sind der Meinung, dass wir durch unseren medizinischen Fortschritt unsere Evolution verhindern würden“, fällt mir dazu ein, denn ich hatte so etwas gelesen.

„Nun ja“, sagt sie und verknautscht ein wenig ihr Gesicht dazu, „ganz so weit ist es mit eurem medizinischen Fortschritt nun auch noch nicht. Krankheiten zu bekämpfen heißt noch lange nicht, sie zu heilen und schon gar nicht, ihre Entstehung zu verhindern. Wobei ihr schon viel besser heilen könntet, wenn eure Forschung es so wollte. Doch es lässt sich halt mehr Geld mit fortlaufender Behandlung als mit endgültiger Heilung verdienen. Aber das gehört jetzt nicht hierher, also weiter mit eurem Fortschritt. Mit der Erforschung des menschlichen Genoms steckt ihr noch in den Kinderschuhen“, setzt sie fort und trippelt mit Zeige- und Mittelfinger ihrer linken Hand wie ein kleines Männlein über die Tischplatte. „Ihr wisst, dass ihr nichts wisst. Ihr probiert viel herum und hofft auf eine Bestätigung. Ihr versucht, die eine oder andere Tür aufzuschließen und freut euch, wenn ihr durch einen Spalt linsen könnt. Ihr fummelt aber immer nur an den Türen herum, die ihr überhaupt sehen könnt. Du kannst mir glauben: Die Evolution hat noch ganz viele Möglichkeiten, euch zu verändern und nur wenige von ihnen habt ihr bislang entdeckt, wenn ihr auch ihren Sinn noch verkennt. Es wird Mutationen geben, die ihr anfangs noch nicht einmal bemerken werdet.“

„Und was…“, lautet meine nächste Frage, „…wird das für uns Menschen bedeuten?“

Sie schaut mich an und für den Bruchteil einer Sekunde leuchtet mir aus ihren Augen das Universum entgegen. Unwillkürlich senke ich den Blick und konzentriere mich nur auf unsere Hände. „Was ‚kann‘ das für euch Menschen bedeuten, wäre treffender, Claude. Es gibt viele Gabelungen und Abzweige auf eurem Weg.“

„Und du kennst sie alle?“, kommt aus meinem Mund, während ich meinen Kopf wieder hebe und sie fragend ansehe.

„Nein“, sagt sie und schüttelt leicht den Kopf, „Nein, Claude. Ich kenne sie nicht alle. Das möchte ich nicht.“

„Wie viele sind es, Claudia?“

„Es sind unendlich viele Möglichkeiten – und obwohl ich unendlich viel Zeit habe, gehe ich ihnen nicht nach. Ihr habt alle diese Möglichkeiten vor euch und, wie ihr euch auch entscheidet, ich bleibe an eurer Seite.“

„Du bleibst an unserer Seite, aber wir sehen dich nicht“, flüstere ich leise. „Da fällt mir gerade ein: Der Käfer, den ich besucht habe, also rein theoretisch besucht habe, hätte der mich gesehen? Ich meine die Sache mit dem Splitter, weißt du?“, frage ich nach, denn dieses Thema beschäftigt mich immer wieder.

Sie lacht laut auf, lässt meine Hände los und gießt sich noch von der Limo nach. „Du lässt nicht locker, hmm?“

„Nö“, antworte ich lapidar.

„Das mit den Ebenen oder Dimensionen ist dann doch etwas komplizierter, Claude. Ich habe dir bewusst nur ein einfaches Beispiel gegeben“, gibt sie zu und wuschelt sich verzweifelt durch ihre Locken.

„Hast du noch etwas Einfaches, was so ein Käfer wie ich kapieren könnte?“, frage ich grinsend weiter nach.

Sie bläst die Backen auf. „Okay. Versuchen wir es anders. Ich bin real, also keine Projektion oder sowas. Aber trotzdem bin ich nicht zu hundert Prozent hier. Das ‚Kabel nach oben‘ würde sonst reißen. Würde ich meine menschliche Form vollständig in deine Ebenen integrieren, könnte mich jeder Mensch sehen. Das wäre aber auch dringend nötig, weil Claudia dann nämlich erst einmal bei euch festhängen würde. Soweit klar?“

„Wow“, rutscht mir raus. „Das war deutlich. Da fallen mir so alte Mythen von ‚gefallenen Engeln‘ ein“, plappere ich vor mich hin, stehe auf und wandere, wie ein Tiger im Käfig, durch den Raum.

„Da hast du wohl recht“, erwidert sie, „einiges davon hat vielleicht einen wahren Kern.“

„Gehst du, also die Physis Claudia, ein Risiko ein, wenn du mich besuchst? So im Sinne einer technischen Panne, meine ich?“

Sie registriert meinen besorgten Tonfall und lächelt mich an. „Nein, Claude. Bei mir gibt’s keine Technik. Ein Vogel kann auch ohne Technik fliegen, oder? Aber im Laufe der Jahrtausende haben sich durchaus schon Physen bewusst gelöst. Das ist auch nicht schlimm, denn der Körper vergeht und die Heimkehr erfolgt früher oder später sowieso.“

Dieser von ihr so beiläufig ausgesprochene Satz erschüttert mich irgendwie, ohne dass ich es konkretisieren könnte, aber die Vorstellung, dass… „Du wirst sterben, Claudia?“

„Nicht so bald, aber ja. Genau wie du. La Sola stirbt nie, aber Claudia schon. Doch sie wird nie ganz verschwinden, genauso wenig wie du.“

Ich starre sie nur an. Mir fällt kein Satz, kein Wort ein, um meinen Gedanken ein Gerüst zu geben, an dem sie sich festhalten könnten. Wirre Emotionen toben in meinem Kopf und in meinem Herzen. Irgendwie steht Claudia jetzt direkt vor mir, ihr Gesicht ist keine zehn Zentimeter von dem meinen entfernt. Unsere Augen sind keine zehn Zentimeter auseinander. Ein ruhiger, unendlicher See ist darin. Eine sanfte Brise. Sie riecht gut. So frisch, so lebendig. Wie eine Blumenwiese im Frühling. Ruhe überkommt mich. Die Ruhe eines stillen Sees. Ich spüre ihren Atem. Kaum wahrnehmbar berührt er meine Haut. Mit jedem Atemzug erfüllt mich ihre Energie ein wenig mehr. Sie sagt nichts, aber das ist auch nicht nötig. Ich habe es inzwischen verstanden. Das ist der Lauf der Welt. Alles in ihm hat seine Zeit, auch wenn die Zeit nicht in eine feste Richtung läuft. Trotzdem hat Alles und Jedes seine subjektive Zeit. Auch Claudia und auch ich. Daran ändern auch alle Ebenen des Universums nichts. Wohin wir auch gehen, durch den Raum oder durch die Zeit. Alles ist relativ, aber unsere ganz persönliche Zeit bleibt uns treu.

„Danke“, sage ich.

„Wofür?“, fragt sie.

„Dass du da bist. Dass du mich verstehen lässt. Dass du mir dabei hilfst“, sage ich und schließe meine Arme um sie.

Sie erwidert die Umarmung. „Gerne“, sagt sie, „Aber wir sind noch nicht ganz fertig. Du hattest nach dem Splitter gefragt.“

„Daran habe ich gar nicht mehr gedacht. Deine Erläuterungen haben mich etwas aus dem Gleichgewicht gebracht“, muss ich in diesem Moment feststellen, wobei ich mich noch immer an ihr festhalte.

„Das habe ich dann auch bemerkt.“ Sie nimmt ihren Kopf von meiner Schulter und sieht mich an. „Tut mir leid, wenn es dich belastet hat. Genau deshalb spreche ich manchmal ein wenig kryptisch. Es ist schwer zu verstehen und selbst ich, in meinem menschlichen Körper, stoße oft an die Grenzen meines organischen Verstandes. Nur habe ich immer die Möglichkeit, auf eine ungleich größere Kapazität zurückzugreifen und das kannst du natürlich nicht.“

Wir setzen uns wieder auf die Stühle, ich schnaufe nochmal kurz durch und gebe mich standhaft. „Der Splitter. Dann überfordere mein Hirn einmal mehr, meine Hübsche.“

Sie grinst mir ins Gesicht, sagt aber nichts weiter zu meiner Bemerkung. Stattdessen startet sie sofort mit der Erklärung: „Der Splitter ist nur eine Metapher, okay?“ Ich nicke, sie fährt fort. „Hier geht es um bestimmte Energien, die ein Wesen aufnehmen oder abgeben kann, wenn es mit diesen Fähigkeiten gesegnet ist. Das ist individuell verschieden. Die einen haben’s drauf, die anderen nicht. Zum Lebensbeginn ist dieser Sinn stärker ausgeprägt, später verkümmert er, wenn er nicht genutzt und somit auch nicht gefordert und trainiert wird. Das ist euer ‚Bindfaden nach oben‘, wenn du so willst.“ Ich nicke erneut, denke aber schon wieder drei Schritte weiter.

„Dein Bindfaden ist ein stattliches Seil, bei anderen Menschen ist es nur ein Nähfaden und bei einigen ist da eben überhaupt nichts. Alles ist möglich. Aber auch dieser Strick in verschiedenen Stärken ist wieder nur eine Metapher, genau wie der Splitter. Ich könnte genauso sagen, dass du eine offene Seele hast, ein Medium bist, oder dass du übersinnliche oder gar parapsychische Fähigkeiten hast. Das ist alles nicht ganz richtig, aber auch nicht ganz falsch. Verstehst du mich immer noch?“

Ich nicke ein drittes Mal, doch ihr Blick ist eine derart lustige Mischung aus Verzweiflung und Hoffnung, dass ich zu schmunzeln beginne. Sie öffnet den Mund, als wenn sie etwas sagen wollte, aber es kommt nichts…

…dann sehe ich ihre Augen blitzen, ihr Mund klappt hörbar zu, ihre Hand schnellt zur Limonadenflasche und das Ding fliegt mit voller Wucht auf meine Nase zu. Ich habe keine Chance. Jede Abwehr käme zu spät. Aber einen Millimeter vor dem Aufschlag löst die Flasche sich in Luft auf und steht wieder genau dort, wo sie vorher stand…

„DU IDIOT! ICH MACHE MICH HIER ZUM AFFEN UND DU…, pffff“

Ich stehe auf und gehe vor ihrem Stuhl auf die Knie: „Verzeiht mir, Göttliche. Ich habe Schande auf mich geladen, weil ich es an dem nötigen Ernst mangeln ließ. Welche Strafe Ihr mir auch auferlegt, ich werde Buße tun bis zum Ende meiner Tage.“

Diesmal entgehe ich der leeren PET-Flasche nicht, die auf meinen Schädel knallt. „Steh auf, du Spinner, sonst werde ich dir deinen Splitter zu fressen geben.“

„Oh, die Limo ist alle. Ich mache mal `ne neue auf“, stelle ich trocken fest.

„Nee, warte. Ich hab’ da auch diesen Bier-Cola-Mix gesehen, da hätte ich Lust drauf“, kommt ebenso trocken zurück.

„Jetzt bin ich aber fertig mit Schönschreiben“, antworte ich erstaunt. „Du und Alkohol?“

„Ja? Wieso nicht?“, fragt sie mich mit ungläubigem Gesicht.

„Na, ich dachte, du hast es nicht so mit sinnvernebelnden Rauschmitteln. Im vielen Religionen ist Alkohol doch sogar verboten, oder nicht?“, erkläre ich meine Verwunderung, reiche ihr aber eine geöffnete Flasche

„Naja, ich bin auch kein Fan von sinnlosen Besäufnissen“, entgegnet sie. „Aber man kann doch durchaus einen Wein oder gerne auch was Stärkeres trinken, wenn man sich nicht gleich abschießt. Prost“, sagt meine überraschende Freundin und wir stoßen mit dem Flaschenboden an. „Außerdem“, führt sie weiter aus, „gibt es genauso viele Religionen, in denen Alkohol zu bestimmten Riten ausdrücklich vorgeschrieben ist. Die alten Bücher wurden von Menschen geschrieben, Claude. Und wenn die Schreiber der Meinung waren, ihr unbeherrschtes Völkchen nur durch totale Abstinenz vor dem Schlimmsten zu bewahren, dann haben sie genau das aufgeschrieben. Wenn sie glaubten, mit ein wenig Nachhilfe würde die Stimmung besser, haben sie es halt anders notiert. Auch die Urvölker haben Rauschmittel gekannt und verwendet. Mir geht’s eigentlich nur darum, dass vollgedröhnte Menschen leicht durchdrehen. Dabei ist es egal, womit sie sich berauschen. So etwas gilt es zu vermeiden. Man kann sich auch ganz ohne berauschende Mittel in eine Trance versetzen und am Rad drehen. Das ist unter Umständen auch nicht besser als ein Gläschen Wein oder Bier, nicht wahr? Jetzt darfst du selbst überlegen, wie du das deinen Leuten verkaufst“, lächelt sie mich unschuldig an und klimpert zweimal mit den Wimpern.

„Vielen Dank auch“, entgegne ich. „Ich werde das schon irgendwie hinkriegen. Alkohol und anderes Zeug ist nicht verboten, solange man sich im Griff hat und nicht zu einer Gefahr für sich und andere wird, oder so ähnlich.“

„Klingt für den Anfang schon ganz gut. Vergiss nicht, dass Alkohol und andere Drogen auch als Medikament verwendet werden und in entsprechenden Dosierungen auch positive Wirkungen hervorrufen“, fügt meine Göttin noch an und nimmt einen Schluck aus der Pulle.

„Passt schon“, sage ich, „Aber lass uns doch nochmal, und zum Mitschreiben bitte, das vorherige Thema durchgehen, ja?“

„Das Raumzeitding? Von mir aus.“

„So ähnlich“, antworte ich. „Du bist ganz viel La Sola und auch ein bisschen Claudia. Für dich sind Raum und Zeit kein Hindernis, solange du diesen gewissen…“, hier fuchtele ich mit sehr seltsamen Bewegungen durch die Luft, „…interdimensionalen Zustand beibehältst, den Menschen nicht kapieren können. Ich bin ganz viel Claude und auch ein bisschen La Sola. Deshalb kann ich dich innerhalb meiner Dimensionen wahrnehmen, was die meisten Menschen eher nicht können. Manche spüren deine Nähe, andere kaum, aber nur ganz wenige können mit dir Bier trinken. Richtig?“ Ich schaue sie fragend an.

„Aus der Sicht eines Menschen schön beschrieben“, bestätigt sie.

„Ach Gott, bin ich gut“, erwähne ich selbstgefällig und lehne mich zurück.

„Eigenlob stinkt“, kommt postwendend zurück.

„Aber dein Flaschentrick war echt beeindruckend, Claudia.“

„Wo man dieses Raumzeitding doch überall einsetzen kann, nicht wahr?“, grinst sie.

„Kannst du mir nicht noch schnell wenigstens die nächste Dimension beibringen?“

„Das hatten wir doch schon, mein kleiner Käfer“, antwortet sie lächelnd.

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