Wenn du mittendrin anfängst, verstehst du nicht alles: Beginne lieber am Anfang.
Ich sitze in unserem Arbeitszimmer und starre den Monitor des Computers an. Ab und zu huscht mein Blick aus dem Fenster und rüber zum Nachbarhaus, einfach nur, um die Augen daran zu erinnern, dass es auch noch eine Weite gibt, in die man hinausschauen kann. Wir haben einen kleinen Raum im Haus, wo außer dem PC-Tisch mit Drucker auch noch ein Bügelbrett, ein paar Regale, ein Mini-Tisch mit zwei Stühlen und ganz viel Zeug ihren Platz gefunden haben, aber hier hat man meist mehr Ruhe für alle so anfallenden Arbeiten.
Ich hocke schon seit Stunden vor meinem PC und lese gerade im ersten Buch Mose das Kapitel 1. Ich lasse den Wortlaut auf mich wirken und muss gestehen, dass das alles recht kryptisch für mich klingt. Nun ja, Religion war nie so ganz mein Ding. Ich horche in mich hinein und suche eine Erinnerung. Was hatte ich damals im Unterricht darüber gelernt? Viel ist offensichtlich nicht hängen geblieben, stelle ich etwas ernüchtert fest. Die Entstehungsgeschichte der Welt. Was ich da lese, entspricht nicht meinem Verständnis, meinem Wissen über die Entstehung des Universums. Zumal ich ja auch von Claudia erfahren habe, dass sie oder er oder was auch immer, das Universum und alles darin erschaffen hat. Sie hat allerdings nicht gesagt, dass sie zuerst Himmel und Erde, anschließend Sonne und Mond und danach alle kleinen Sterne erschaffen hat. Hinzu kommt noch, dass ich, als wissenschaftlich interessierter Mensch, viele Artikel über die Expansion des Universums gelesen und, soweit für einen astronomischen Laien möglich, auch verstanden habe. Ich weiß also, dass die vielen süßen kleinen Himmelslichter in Wahrheit ebenso fette Sonnen sind, wie unsere eigene, die meisten davon sogar erheblich fetter als unsere.
„Die Genesis“, klingt da eine Stimme an meine Ohren. „Du liest jetzt biblische Texte?“
Ich kenne diese Stimme und schlagartig schießen mir Freudentränen in die Augen. Sie war mein ‚erster Kontakt‘ zu dieser neuen Welt. Zu einer Welt, in der Gott nicht in uralten Büchern verschollen ist, sondern tatsächlich existiert. Ich bemühe mich krampfhaft, nicht sofort aufzuspringen und bringe, in hoffentlich halbwegs fester Betonung, hervor: „Deine Schuld. Auf diese Idee wäre ich früher nicht gekommen.“ Hinter mir kichert es belustigt und spätestens jetzt kann ich mich nicht mehr bremsen. Ich drehe mich schwungvoll mit meinem Stuhl herum und da sitzt sie: Meine Claudia. In Jeans und weißem T-Shirt, die langen blonden Haare zu einem Pferdeschwanz gebündelt, sitzt sie auf einem der beiden Stühle an dem kleinen Tischchen, schaut mich an und lächelt mir zu.
Gleichzeitig stehen wir auf und gehen die zwei Schritte aufeinander zu, die uns noch trennen. Unsere innige Umarmung dauert lange an und ich lasse mich von der Energie, die von ihr ausgeht, erfüllen. Alle Müdigkeit verfliegt und ich fühle mich sicher, geborgen und voller Kraft. Langsam lösen wir unsere Arme voneinander und halten uns an beiden Händen fest. „Ich freue mich unendlich, dich wiederzusehen, Claudia. Ich hatte schon gedacht, dass ich dich in dieser, wie nenne ich es, Physis vielleicht nie mehr treffen werde. Das ist jetzt wahrscheinlich sehr emotional von mir, aber gerade du hast einen ganz besonderen Eindruck bei mir hinterlassen.“
„Das verstehe ich, Claude. Es ist menschlich. Durch Claudia hast du die Wahrheit erfahren. Sie hat dich durch eine Phase des Verstehens geleitet, die sehr verstörend für dich war. Da baut man nun mal eine Beziehung auf. Ich habe diese Verbindung auch gespürt“, sagt sie mit ihrer sanften und trotzdem klaren Stimme und ihr offenes und ehrliches Lächeln zeigt mir, dass sie jedes Wort genau so meint, wie es sich anhört. Sie greift in ihre Hosentasche, holt ein Taschentuch heraus und tupft mir die letzte Träne von der Wange. Dann wird ihr lächeln breiter und ihre Augen blitzen kurz auf: „Hey Kumpel, wenn du mich zum Heulen findest, gehe ich wieder.“
„Nee, nee, bleib mal schön hier, meine Kleine“, antworte ich schnell, schubse sie wieder zum Stuhl zurück und drücke sie auf den Sitz. „Wie geht das? Du besuchst mich Zuhause? Das hatten wir aber noch nie.“
„Stimmt. Aber es geht, wie du siehst. Es braucht eine bestimmte Bindung zwischen uns, aber die haben wir inzwischen erreicht“, sagt sie so beiläufig, als wenn sie die Außentemperatur abgelesen hätte.
„Sag mal, wie ist das denn überhaupt: Wenn du Isaak oder Cassie bist, war Claudia dann dabei?“ Sie schaut mich an und hat ein bezauberndes Lachen im Gesicht stehen. „So ein Mist“, muss ich plötzlich laut loslachen, „Ich weiß nicht einmal, wie ich dich das fragen soll.“
„Und trotzdem habe ich es verstanden. Bin ich gut oder bin ich gut?“, witzelt sie.
„Du bist einfach die Beste“, entgegne ich und füge noch an: „Und jetzt sag’s mir.“
„Ich bin immer bei dir gewesen. Wenn du mit Chang sprichst, weiß ich im selben Moment dasselbe wie er. Aber er führt das Gespräch. Meine Gesamtheit ist im Grunde viel zu…, sagen wir einfach…, viel zu groß, zu vielschichtig, als dass du es verstehen könntest. In Claudia, die jetzt gerade bei dir ist, steckt mein Wissen, meine Erfahrung, meine Weisheit, meine Erinnerung. Nur nie alles gleichzeitig. Wie erkläre ich es dir…? Ich weiß: Die Physis…, netter Begriff, übrigens. Wo hast du denn den her?“, fragt sie unvermittelt und bringt mich für eine Sekunde in Verlegenheit.
„Wa…? Äh, aus dem Internet“, stammele ich.
„Ah. Cool. Also, jede Physis hat eine telementale Standleitung zur Zentrale, okay?“ Sie schaut mich an und wägt ab, ob das bei mir angekommen ist.
„Verstehe“, sage ich, „Du bist immer online.“
Erst verzieht sie die Mundwinkel, dann schüttelt sie den Kopf, grinst mich dann frech an und sagt: „Nur brauche ich keine technischen Tricks für solche Spielchen.“
„Abgeberin“, ist meine knappe Antwort.
„Manche haben’s halt drauf, nicht wahr?“, blinzelt sie mir zu. „Aber jetzt im Ernst: Ein realer Mensch besteht nicht nur aus der Seele und dem Geist, sondern auch aus Nerven, Hormonen, Muskeln und mehr. Der große Teil von mir, die Zentrale, hat große Gedanken, große Pläne und große Gefühle. Cassandra, Chang und Claudia können jedoch zusätzlich auch spontane Gedanken haben. Sie agieren und reagieren absolut autonom. Sie werden sich nie gegen den großen Plan richten, aber wenn Chang einen Witz macht, wäre er Claudia in derselben Situation wahrscheinlich nicht eingefallen. Trotzdem weiß Claudia im selben Moment, dass Chang den Witz gemacht hat.“
„Das ist spannend. Obwohl du die Schöpferin bist, bist du nie komplett, weil du in einen Menschen…, naja…, nicht ganz reinpasst?“
„Das kann man so gelten lassen, mein kleiner Analyst. Aber jetzt lenk’ mal nicht ab: Seit wann interessierst du dich für die alten Bücher?“
„Ach, weißt du“, erwidere ich, „ich glaube, dass ich das meiner Aufgabe schuldig bin. Ich meine damit, dass ich solche Texte wenigstens zum Teil kennen sollte. Wer weiß, wen meine Texte in 5.000 Jahren zum Schmunzeln bringen?“
„Macht Sinn. Und? Wie findest du die Erzählung?“
„Na ja, genauso antik und unglaubwürdig wie viele andere Bibeltexte halt“, erkläre ich ihr. „Aber inzwischen kenne ich ja das Problem der Chronisten: Erkläre das Unerklärliche.“
„Stimmt schon. Das ist nicht leicht. Aber ich finde, durch den Aufbau in Tagesschritten und trotz kleiner Patzer in der Reihenfolge ist die Geschichte doch ganz gut auf den damaligen Zeitgeist abgestimmt, oder?“
„Ach, du meinst, die nach heutigem Wissen unsinnigen Tagesschritte waren Absicht?“
„Sicher. So kamen die Schreiber im Nebeneffekt noch zu einem Ruhetag. Für Gott und für sich selbst“, lächelt sie, „und dass Gott in nur sechs oder sieben Tagen die ganze Welt gebaut hat, ist doch wohl durchaus eine respektable Nummer. Es sollte damit ja auch meine Macht demonstriert werden.“
„Nur, dass es gar keine Welt, sondern ein ganzer Kosmos war“, warf ich ein, „Etwas heftig, selbst für einen Gott.“
Sie hält den Zeigefinger in die Luft und merkt noch an: „Aber es sind ja auch nicht alles Tagesschritte. Es heißt ja: ‚Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde‘ und da ist nichts von einem Tag zu lesen. Diese wüste und leere und dunkle Erde wird dann erst im 3. Satz mit dem monumentalen Ausspruch ‚Es werde Licht‘ zu einem freundlichen Ort gemacht. Wie ich ohne Sonne Licht machen konnte, wird übrigens nicht erläutert, weil einem großen Teil der Menschen gar nicht bewusst war, dass das komplette Tageslicht aus der Sonne kommt und nicht nur die direkten und warmen Strahlen, die einen Schatten werfen.“
Ich musste ein wenig lächeln, aber es war nicht überheblich gemeint. „Hatte ich noch nie drüber nachgedacht, aber du hast recht. Auch witzig, dass Pflanzen und Wasser schon vor Sonne, Mond und Sternen da sind. Warum hat Moses das so geschrieben? Er wusste doch sicher mehr als das gemeine Volk, oder hast du ihm nicht auch den einen oder anderen Tipp gegeben?“
Sie winkt ab und erklärt: „Diese Worte stammen nicht von Moses.“
„Tun sie nicht?“, frage ich verwundert, „obwohl sie im seinem Buch stehen?“
Sie lehnt sich etwas in ihrem Stuhl zurück und faltet die Hände vor der Brust. „Nein, im Ernst. Sie wurden erst viel später von sogenannten priesterlichen Zeugen geschrieben. Auch damals, vor so langer Zeit schon, ging es um die Abgrenzung von Andersgläubigen und auch um Politik. Im Umfeld und bei den Widersachern der Autoren waren die Sonne und der Mond keine normalen Himmelskörper, sondern Götter von höchster Bedeutung. Dadurch, dass der ‚neue‘ Gott ihnen quasi einen Job gegeben, ihnen das Wächteramt über Tag und Nacht auferlegt hat, wurden sie zu seinen Geschöpfen, zu seinen Dienern, und ihre heidnische Macht war gebrochen.“
„Also im Sinne von ‚mein einziger Gott ist mächtiger als deine vielen Götter‘, richtig?“
„So in der Art“, erwidert sie und piekst zur Bestätigung mit dem Zeigefinger in meiner Richtung ein imaginäres Loch in die Luft. „Du musst dir neben der eigentlichen Genesis aber auch einmal einige Deutungsbeschreibungen durchlesen. Da wird dir einiges klarer“, erklärt sie noch weiter, „Man muss ja bedenken, dass die Erde für die damaligen Menschen eine Scheibe war, die von Wasser umgeben war. Oben und unten, ringsherum nur Wasser. Einen leeren Weltraum konnte sich niemand auch nur ansatzweise vorstellen, aber mit Wasser konnte man leben. Damit eine bewohnbare Fläche entsteht, musste also ein Gewölbe, eine Sperre her, die das Oberwasser vom Bodenwasser abscheidet. So erhält die Beschreibung einer ‚Feste zwischen den Wassern‘, die den Himmel darstellen soll, einen Sinn. In moderneren Übersetzungen wird ‚Feste‘ auch schon als ‚Gewölbe‘ bezeichnet.“
Ich blase die Wangen auf und lasse die Luft stoßweise wieder raus. „Das nicht Beschreibbare zu beschreiben war wohl zu keiner Zeit einfach, oder?“
„Das ist wohl so“, sagt Claudia, „Aber die Epoche und das damit verbundene Allgemeinwissen spielt die entscheidende Rolle. Genau genommen wäre die Lichtwerdung an erster Stelle zu benennen. Denn tatsächlich entstand das Licht in dem Moment, als ich die Schwingung des Universums angestoßen habe, also eure Vorstellung des Urknalls generiert habe. Da entstand Licht in Hülle und Fülle. Das war tatsächlich ‚Feuerwerk pur‘ und nur wenige Augenblicke später schuf ich durch denselben Anstoß auch den Keim für unendlich viele Himmel und Erden. Bang!“ Ihre Arme fliegen explosionsartig auseinander. „Bis eure wüste Erde dann eine feste Form hatte, dauerte es jedoch noch eine ganze Weile. Aber dunkel war sie zu Beginn definitiv nicht, obwohl…“, wobei ihre Miene etwas bedrückter wird, „…ihr noch viele dunkle Phasen bevorstanden.“
„Du sagst: Eure Erde. Gibt es denn noch weitere Erden?“
Ein provokant hochnäsiges Lächeln vertreibt die Traurigkeit von ihrem Gesicht. „Lass es mich einfach so ausdrücken: Es gibt im Universum schon ein paar Galaxien mehr als eure Milchstraße. Andromeda hat wohl jeder schon einmal gehört. Nun sagen wir ganz einfach, dass noch ungefähr eine Billion weitere Galaxien dazukommen. Nur, damit du eine Zahl im Kopf hast, okay?“
„Das sind schon ein paar ganz viele Nullen. Und die hast du mal eben so rausgehauen, ja?“
„Ich sagte ja: Es hat schon ordentlich geknallt.“ Sie grinst dabei bis zu den Ohren. „Aber weiter mit großen Zahlen: Allein in eurer Galaxie gibt es ungefähr 100 Milliarden Sonnen und die Milchstraße ist nicht einmal sonderlich groß.“
„Sag mal, großes Mädchen“, unterbreche ich sie, „geht’s auch etwas kleiner?“
„Klein sollen andere. Aber tu mal nicht so, kleiner Mann: Ein gesunder Mensch wie du verteilt knapp 40 Millionen Bakterien pro Minute auf seine Umgebung. In einer Stunde wirfst du auch ganz schöne Mengen raus“, stellt sie fest, während ihr Zeigefinger ziemlich genau einen Zentimeter vor meiner Nasenspitze schwebt.
„Also, bitte! Was heißt hier kleiner Mann, ha? Ich bin ein paar Zentimeter größer als du, ja?“
„Träum weiter, Süßer“, flachst sie, als ihr Finger meine Nase nach unten flippt. „Und nun wieder zuhören: Wir waren bei 100 Milliarden Sonnen. Viele davon werden von mehreren Planeten umkreist. Meine Naturgesetze gelten im ganzen Universum. Die Entstehung von Leben folgt diesen Gesetzen überall auf die gleiche Art und Weise.“ Gleich mehrmals rudert sie mit den Armen durch die Luft, als wenn sie eine ganze Galaxie einfangen wollte. „Jedoch ist fast jeder dieser Planeten und Monde nicht für Leben geeignet. Nur einige wenige bringen das dafür Notwendige mit. Stell dir jetzt einmal vor, dass nur ein Planet von einer Milliarde Planeten tatsächlich Leben hervorbringt.“ Sie schaut mich an, ich schaue zurück. Für ein paar Sekunden glaube ich den Urknall und die primäre Expansion in ihren Augen wie einen Film ablaufen zu sehen, dann spricht sie weiter und mein Blick wandert auf ihre Lippen.
„Stell dir weiter vor, dass nur jeder millionste Lebensquell sich so weit entwickelt hat, dass wirklich hochentwickeltes und intelligentes Leben entstanden ist. Dann sind das immer noch sehr, sehr viele. Und all diese Lebewesen stehen auf einem Boden, den sie Erde nennen. In jeweils ihrer Sprache. So ist jede bewohnte Welt eine Erde. Verstehst du?“
Sie redet nicht vom Universum, sie ist das Universum. Das unsere und wer weiß, wie viele andere noch. Das ist es, was ich in ihren Augen sehe. In ihren und in den Augen ihrer oder seiner anderen Verkörperungen. Es ist gewaltig. Dieses Wesen ist so gewaltig. Es ist wunderbar und es ist liebenswert. Es denkt in Kategorien, die weit über mein Vorstellungsvermögen hinausreichen und trotzdem sitzt es hier bei mir, redet mit mir, lächelt mich an. Ich ertrinke gerade in meinen Gefühlen, in meiner Demut und in tiefer Dankbarkeit. Sie weiß genau, was gerade in mir vorgeht. Sie steht von ihrem Stuhl auf, kommt zu mir, geht vor mir in die Hocke und umarmt mich wortlos. „Wir beide sind Teil dieses Universums, Claude. Und auch jedes weiteren. In allen Ausprägungen und allen Dimensionen. Wir beide sind eins. Aber wir haben auch eine Verbindung zu Abermilliarden weiteren Seelen auf diesem Planeten und zu unzähligen Seelen auf unzähligen weiteren Planeten. Wir alle sind eins.“
„Ich kann nur für mich sprechen“, flüstere ich leise in ihr Ohr, „aber ich habe nie angenommen, dass wir Menschen die einzigen intelligenten Lebewesen im ganzen Universum sind.“
„Ich weiß“, wispert sie mir zu, als sie sich wieder erhebt. Sie streicht mir leicht über den Kopf und setzt sich langsam wieder auf ihren Stuhl. „Ach, Claude. Es ist so schön, mit dir zu reden. Deine Emotionen sind so ehrlich und echt. Puh…, ich könnte vor Freude weinen in solchen Momenten.“
Diesmal bin ich es, der ihre beiden Hände mit meinen umschließt und es stiehlt sich ein Lächeln auf mein Gesicht: „Mach dir nix draus. Du bist halt auch nur ein Mensch.“
„Na, super. Danke für das Kompliment“, ruft sie belustigt aus und deutet einen Klaps in Richtung meines Kopfes an. „Aber zurück zu eurer Erde. Wir waren ja noch nicht fertig.“
„Okay, erzähl weiter.“
„Also: Nachdem euer Planet sich stabilisiert und seinen festen Platz bei seiner Sonne gefunden hatte, war es allein die Natur, die ihn zu seinem heutigen Bild geformt hat. Klar, ich habe zuvor die Spielregeln festgelegt, denen alles in der Natur folgen muss, aber das Ergebnis war nur eine von unheimlich vielen Möglichkeiten eines vorgegebenen Musters. Was daraus geworden ist, siehst du selbst.“
„Mit so einer Version der Genesis kann ich umgehen“, sage ich, „Und wenn ich jetzt noch etwas entspannter an den alten Bibeltext herangehe, ist eigentlich alles in der Geschichte enthalten, nur die Reihenfolge ist Auslegungssache. Du hast Himmel und Erde erschaffen. Du warst es, die ‚Es werde Licht‘ gesagt hat. Das war dein Urknall-Feuerwerk. Du hast Gras und Kraut und Bäume erschaffen, wie auch die Sonne, den Mond und die Sterne. Durch die Bestimmung der Regeln hat du die Fische und Vögel erschaffen, sowie auch die Tiere des Feldes und letztlich auch die Menschen. Nur hast du sie nicht nach deinem Ebenbild erschaffen, sondern die Evolution hat sie nach deinem Bauplan geformt. Ein Bauplan kann auch ein Bild sein.“
„Nette Interpretation, Claude. Aber es war wohl doch eher meine menschliche Gestalt, die ich gewählt hatte“, entgegnet sie.
„Mensch?“, frage ich überrascht, „War das nicht ein brennender Strauch auf dem Berg?“
„Schön gelernt“, sagt sie, „Aber man trifft sich immer mehrmals, weißt du?“
„Oh ja, und ob ich weiß“, antworte ich lachend.
„Jedenfalls“, fasst auch die Chefin nochmal kurz zusammen, „ist alles Wichtige in der Erzählung vorhanden und diese Tagesstufen kann man auch anders interpretieren: Wer sagt denn, dass der zweite Tag direkt auf den ersten folgen muss?“
„Ganz schön spitzfindig, oder?“
„Naja, vielleicht. Aber diese alten überlieferten Texte sind halt fast immer nur ein grober Anhalt für das tatsächliche Geschehen. Du sagtest ja gerade selber, dass es auch dir sehr schwerfällt, das Unbeschreibliche zu beschreiben. Selbst diejenigen, die alles weitergeben sollten, konnten das Erlebte oder Gehörte oft nicht verstehen. Ist doch so, nicht wahr?“
„Das ist tatsächlich so“, stimme ich ihr zu, „Ich kann unsere Gespräche recht gut zu Papier bringen, aber daraus dann die Regeln, also ‚das Wort‘ abzuleiten, fällt mir wiederum sehr schwer.“
„Ja, ich weiß, aber zum einen stehen wir noch ziemlich am Anfang. Über die Inhalte, die für dich wichtig genug sind, eine feste Regel zu werden, reden wir sicher noch. Zum anderen liegt das auch daran, dass du kein Befehlshaber, oder besser, Befehlsgeber sein willst. Das ist mit einer der Gründe, warum ich gerade dich erwählt habe“, erklärt sie und das finde ich nun doch etwas erstaunlich.
„Aha? Ist das nicht eigentlich eher ungünstig?“
„Nein, absolut nicht“, sagt sie sehr bestimmt, „Weißt du, die besten Führer sind die, die eigentlich keine sein wollen. Denn denen geht es nämlich nicht um Macht und Einfluss. Sie sind reinen Herzens und sie folgen nur ihrer Bestimmung, weil sie ausgewählt wurden. Sie regieren nicht, sie dirigieren. Die Menschen, die solchen Führern folgen, können sich wirklich glücklich schätzen.“
„Das klingt ja fast wie ein Kompliment für etwas, wofür ich gar nichts kann“, stelle ich fest.
„Na, dann kannst du dir ja auch nichts darauf einbilden, nicht wahr?“ lächelt sie mich entwaffnend an.
„Haha. Das habe ich auch verstanden“, sage ich und suche spontan etwas leichtes, was ich nach ihr werfen kann, finde aber nichts. Sie grinst mich breit an. „Glück gehabt“, rutscht mir raus und sie grinst noch breiter. „Aber nochmal zur ‚neuen‘ Genesis – und bitte langsam, zum Kapieren: Du hast also die Regeln, oder besser die Naturgesetze festgelegt, anschließend den Urknall gezündet und dann, entschuldige die Wortwahl, den lieben Gott einen guten Mann sein lassen?“
Sie kann ein kurzes Auflachen nicht unterdrücken. „Nein, nicht so ganz, du Spaßvogel. Ich musste dann erst mal eine kleine Weile warten, nur so ein paar Milliarden Jahre, weißt du? Ja, und dann natürlich auch von Zeit zu Zeit bei meinen Schäfchen vorbeischauen, um sie hier und da wieder auf den rechten Weg zu schubsen.“
„Na, das hast du ja hübsch formuliert. Wir sind also nur eine von deinen Schafherden? Toll.“
„Na, du bist gut. Was heißt hier ‚nur‘? Ganz allein darum geht es doch immer und überall. Wenn du, mein Freund, ein Kind in die Welt setzt, sage ich ja auch nicht: Du hast 10 Minuten Spaß gehabt und dann den lieben Claude einen guten Mann sein lassen, oder?“ Nach dieser kleinen und nicht ganz ernst gemeinten Ansprache nehmen ihre Züge einen unglaublich warmen und behütenden Ausdruck an. Sie sagt: „Ihr seid meine Kinder, Claude. Ich liebe alle meine Kinder. Jedes einzelne. Ich sorge gut für sie, aber ich lasse sie auch ihren Weg gehen. Ich weiß, dass du das ebenso siehst.“ Sie schaut mir tief in die Augen, bis in die hinterste Ecke meiner Seele und ich lasse es zu. Ich genieße diese mehr als nur optische Verbindung, die zwischen uns besteht und die schon oft für ein stilles Einverständnis vollkommen ausgereicht hat. „Selbst, wenn du könntest, Claude, würdest du dich nicht fortwährend in ihr Leben einmischen. Sie können nur stark werden, wenn sie an ihren Erfahrungen wachsen. Du kannst versuchen, sie zu lenken und zu führen, aber du kannst sie nicht zu ihrem Glück zwingen.“
„Ja, du hast absolut recht. Es ist wirklich so. Manchmal tut es weh, wenn man sie in einen Fehler hineinlaufen sieht, sie ihn aber nicht sehen wollen oder können. Wie oft fragte ich mich: ‚warst du früher genauso‘ und wie oft musste ich mir den Satz ‚Ich habe es dir ja gleich gesagt‘ wirklich verkneifen. Sie müssen ihren eigenen Weg finden, auch wenn man ihn nicht gutheißen kann. Und leider passiert es auch manchmal, dass Eltern ihre Kinder wegen Unvereinbarkeiten oder schlimmerem verlieren“, muss ich ihr zugestehen und bin sehr froh, dass in meiner Familie letztlich immer alles gut gegangen ist.
„Ich weiß, was du meinst. Sowas wünscht sich niemand, aber es geschieht manchmal, dass…“ Sie stockt und versucht sich zu sammeln. „Ich meine, es gibt Situationen…“, wieder unterbricht sie sich, findet aber anscheinend nicht die richtigen Worte. Ihre Schultern sacken nach unten und aus ihren warmen und unendlich traurigen Augen fließen Tränen. In Hilflosigkeit erstarrt sehe ich tatenlos zu, bis ich realisiere, dass da – in diesem Moment – kein blitzeschleudernder Gott, sondern eine junge Frau sitzt, die einen schweren Verlust erlitten hat. Ich rutsche mit meinem Stuhl an ihre Seite und nehme sie in den Arm. „Möchtest du darüber reden, Claudia?“, frage ich sie nach einer Weile sanft. „Das tut uns Menschen manchmal gut, weißt du?“ Diesmal bin ich es, der ihr ein Taschentuch reicht.
Es dauert einige Zeit, bis ihr Atem wieder ruhiger wird und das Schluchzen seltener. Dann näselt sie mich, das Gesicht unter ihren Haaren verborgen, an: „Ihr mit euren bescheuerten Hormonen, Mann.“
„Vergiss die Nerven nicht“, sage ich und drücke sie etwas fester an meine Seite. Es folgt ein Geräusch, halb Schniefen, halb Lachen. „Entschuldige, aber auf diese massive Körperchemie war ich nicht gefasst“, erklärt sie und dreht sich dann zu mir, „Aber es hilft bei der Bewältigung angestauter Spannungen“, lautet ihr Versuch, den Weinkrampf sachlich aufzuarbeiten. Allerdings sagt der Klang ihrer Stimme etwas ganz anderes. „Es tut mir wirklich leid, Claude. Das gerade war unerwartet heftig“.
„Es muss dir nicht leid tun, Claudia, vielleicht kennst du uns Menschen nun noch etwas besser. Von innen heraus ist alles nochmal ganz anders.“ Ich nehme meinen Arm von ihrer Schulter und halte sie an den Händen. „Es hat dich mir nur noch nähergebracht. Ich danke dir für dein Vertrauen. Du hättest dich in Luft auflösen oder die Zeit anhalten können, aber du bist einfach geblieben.“
„Ich habe nicht einmal darüber nachgedacht. Erstaunlich.“ Sie lächelt mich mit immer noch sehr traurigen Augen an und ich versuche, aufmunternd zurück zu lächeln, dann spricht sie leise, aber ruhig und gefasst, weiter: „Es ist schon öfter geschehen, dass ich Kinder verloren habe. Viel zu oft. Ich habe Kinder verloren, die wegen eines ihrer dummen Fehler nicht überlebt haben und ich habe Kinder verloren, die mich nicht mehr hören wollen. Das tut immer wieder sehr weh.“
„Hast du dich deshalb entschieden, uns wieder ein wenig zu schubsen?“
„Ich denke, ja. Einiges läuft bei euch im Moment vollkommen aus dem Ruder und das ist gerade jetzt überhaupt nicht gut“, bestätigt sie und obwohl noch Spuren getrockneter Tränen in ihrem Gesicht sind, zeigen ihre Augen einen harten Ausdruck. „Es gibt natürlich immer noch sehr viele Menschen, die an meinen Weg glauben, das ist nicht das Problem. Selbst, wenn sie…“, wobei ihre Hände Schlangenlinien in die Luft zeichnen, „…diesem Weg auf unterschiedlichen Bahnen folgen. Das ist nicht schlimm, solange ihr Ziel das richtige ist. Aber es gibt leider auch immer wieder Menschen, die einen vollkommen falschen Weg gehen.“ Da ist sie wieder: Die Härte eines Diamanten in ihrem Blick. „Es gibt Menschen, die für sich in Anspruch nehmen, besser als andere zu sein. Solche, die euch Versprechungen machen und dabei oft nur ihren persönlichen Vorteil im Sinn haben und, was noch schlimmer ist: Solche, die glauben, dass sie die Herren wären und andere müssten ihnen untertan sein. Dies jedoch, ist ganz und gar nicht mein Weg. Dieser Irrweg führt in den sicheren Untergang.“
Bei ihrem letzten Satz konzentriere ich mich auf ihre Lippen. Ihrem, ansonsten so viel Wärme und Güte ausstrahlenden, jetzt aber stählernem und kaltem Blick kann ich nicht mehr standhalten.
„Du bist zornig?“, frage ich vorsichtig.
„Oh, ja. Das bin ich“, zischt sie.
„Also der echte Zorn Gottes? Keine Hormone?“
„Nein, keine Hormone“, sagt sie und ihre Mundwinkel ziehen sich leicht in die Höhe. „Vielleicht ein paar Hormone, aber die machen’s nicht schlimmer“, ergänzt sie ihre Gemütsbeschreibung. „In deiner Gegenwart kann ich nicht einmal richtig wütend sein. Wie machst du das?“ Ich schaue vorsichtig etwas weiter hoch und sehe keinen Zorn mehr in den Augen, die mich vom ersten Tag an faszinierten.
„Nochmal ganz lieben Dank, dass du für mich da warst, als ich meine menschliche Seite einmal mehr neu erfahren durfte, Claude.“
„Ach, hör schon auf, wer hat mir denn zuvor die Taschentücher gereicht?“
„Wir sind schon zwei richtige Heulsusen, nicht wahr, großer Mann?“
„Vielleicht sollte ich das beim Schreiben besser weglassen, hmm?“
„Nein. Warum denn? Auch ein Mann und sogar Gott dürfen Gefühle zeigen. Wer keine Gefühle hat, der kann nicht mitfühlend sein.“ Sie schaut mir ganz tief in die Seele und ich kann die unendliche Weite, die sich hinter ihren Augen verbirgt, nur erahnen. „Weißt du, Claude, ich möchte nicht schon wieder Kinder verlieren, die im Begriff sind, einen dummen Fehler zu machen, indem sie den falschen Führern vertrauen.“
Sie schaut mir ganz tief in die Seele und ich kann die unendliche Weite, die sich hinter ihren Augen verbirgt, nur erahnen. „Weißt du, Claude, ich möchte nicht schon wieder Kinder verlieren, die im Begriff sind, einen dummen Fehler zu machen, indem sie den falschen Führern vertrauen.“
„Was wolltest du eigentlich vorhin damit sagen, das es gerade jetzt nicht gut sei, dass bei uns alles aus dem Ruder läuft?“, frage ich sie, denn mir war ihre Betonung sofort aufgefallen.
„Euer Universum durchläuft im Moment eine Phase des Wandels, was natürlich nicht von einem Tag auf den anderen passiert und außerdem ziemlich selten geschieht. Dieser Wandel bringt gewisse Veränderungen mit sich. Das meiste findet aber in technisch nicht greifbaren Ebenen statt. Wenn derartige kosmische Veränderungen anstehen, ist auch das Leben davon betroffen. Die Pflanzen und Tiere können den Wandel spüren. Du wirst etwas spüren und viele andere Menschen sicher ebenfalls. Das Leben kann dem Wandel instinktiv oder intuitiv folgen oder sich ihm bewusst widersetzen. Es ist seit Ewigkeiten ein fester Teil meines Plans, dass das Leben sich dieser Entscheidung stellen muss. Es kann mit dem großen Ganzen in Einklang bleiben oder sich der Harmonie verschließen. Es kann sich in den Klang einfügen oder sich für zu erhaben halten und durch Misstöne für Unruhe sorgen. Die Gesetze der Natur werden die Misstöne früher oder später erlöschen lassen. Es ist ein Prozess der Reinigung. Ich hoffe sehr, dass die Menschen ein Teil von mir bleiben.“
Schließlich macht sie einen Schritt auf mich zu und umarmt mich fest und sehr lange. Dann atmet sie noch einmal tief durch und flüstert in mein Ohr: „Bis bald, Claude.“ Es weht ein leiser Windstoß durch meine leeren Hände. Ich habe noch so viele Fragen.
Die Einzige wird dich leiten – La sola gvidos vin
#lasolagvidosvin – #lasolaicu
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- 1a Über die „Geburt“ von Claude
- 1b Bin ich wahnsinnig oder nur verrückt?
- 2a Über die Verbreitung des Wortes
- 2b Und wie bringe ich das nun meiner Frau bei?
- 3a Über Fragen und Antworten
- 3b Eine willkommene Abwechslung
- 4a Über Pferderassen, Bekleidung und die Vielfalt
- 4b Der bärtige alte Mann
- 5a Über eine Welt ohne Geld
- 5b Geld macht nicht glücklich
- 6a Über die Entstehung des Universums
- 6b Unbekanntes Terrain
- 6c Endlich ein Anfang
- 6d Wie funktioniert eigentlich Claudia?
- 7a Über Menschen, Tiere und Speisevorschriften
- 7b Glückliche Schweine und andere Tiere
- 8a Über die Selbstbestimmung
- 8b Hoppe, hoppe, Reiter
- 9a Über die Ebenen des Universums
- 9b Sie ist mein Anker
- 10a Über die Kinder La Solas
- 10b Exotische Jahreszeiten
- 11a Über falsche Götter
- 11b Götterdämmerung
- 12a Über Rebeccas Heimkehr
- 12b Freude schöner Götterfunken
- 13a Über Rebeccas Vergangenheit
- 13b Julia trifft eine Freundin
- 14a Über die Allseitigkeit
- 14b Mit Julia am See
- 15a Über eine Fahrt ins Ungewisse
- 15b Über den Weg der Göttin
- 16a Über Raum und Zeit
- 16b Über ein besonderes Wochenende
- 17a Über fiese alte Männer
- 17b Aller Abschied fällt schwer
- 18a Über fantastische Möglichkeiten
- 18b Utopia
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- 19b Offen
- 20a Über den Blitz der Erkenntnis
- 20b Nachleuchten
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