18a Über fantastische Möglichkeiten

Wenn du mittendrin anfängst, verstehst du nicht alles: Beginne lieber am Anfang.

Ich schlage die Augen auf. Es ist dunkel. Ich liege im Bett. Ich muss pinkeln. Echt jetzt? So ein Mist. Bin ich deshalb wach geworden? Scheint so. Bin begeistert. Früher musste ich das nie. Notgedrungen schlage ich die Bettdecke zurück, ziehe lustlos meine Beine darunter hervor und bewege sie schwunglos zur Seite. Irgendwo hier… – ach da. Meine Hausschuhe. Ich schlüpfe hinein und erhebe mich langsam. Das Licht lasse ich aus und taste mich im Dunkeln zur Schlafzimmertür. Ein sanfter Druck auf die Klinke öffnet sie leise und ich schlängele mich durch den Türspalt. Dann gehe ich den Gang zum Bad entlang. Durch den Lichtschacht in der Decke fällt Sternenlicht. Nicht viel, aber tatsächlich erhellt es meinen Weg. Im Badezimmer sehe ich noch viel mehr von diesen winzigen Lichtspendern durch das Dachfenster blinzeln. Im Gegenzug für meine stille Bewunderung schenken sie mir ihr Licht. Die weiße Einrichtung reflektiert das Sternenlicht und obwohl ich jeden Schritt auch im Dunkeln hätte machen können, bin ich dankbar dafür. Nach ‚getaner Arbeit‘ gehe ich den selben Weg wieder zurück, den ich gekommen bin. Was auch sonst. Lautlos gleite ich durch die Schlafzimmertür und lande unbeschadet wieder in meinen warmen Kissen. Julia atmet tief und ruhig. Nicht aufgefallen, super.

Da liege ich nun. Wach. Hellwach. Kein Gedanke mehr an den Schlaf, den ich dachte, nur kurz unterbrochen zu haben. War wohl nix. Der ganze vergangene Tag war auch schon nix. Und wenn ich ehrlich bin, ist das schon viel länger so. Ich habe auch eine Weile schon für das Buch keine Texte mehr geschrieben. Notizen liegen allerdings zuhauf herum. Gespräche, Gedanken, Fragen. Ich verstehe, worauf es ankommt. Aber mir fallen keine Worte für die Menschen ein, um sie darüber in Kenntnis zu setzen. Sie verstehen nicht, was ich ihnen vermitteln will. Auch dann, wenn ich mich privat mit ihnen unterhalte, wollen sie nicht kapieren, dass sie von korrupten rücksichtslosen, gierigen und machtgeilen Subjekten an einem Nasenring namens Geld durch die Manege gezogen werden. Sie halten das für normal. Weil es schon immer so war.

Was habe ich bisher bewirkt? Überhaupt etwas? Irgendwas…?

Ein paar unserer Bekannten gucken schon sparsam, wenn sie mich sehen. Als wenn sie Angst vor meinen schlauen Sprüchen hätten. Ich wollte nie ein Prediger sein. Das hatte ich Claudia schon bei unserer ersten Begegnung gesagt. Das wäre auch nicht meine Aufgabe, hatte sie entgegnet. Ich sollte mich privat besser etwas zurückhalten in nächster Zeit.

Beim Schreiben des Buches erhalte ich keinerlei Rückmeldung. Wie auch? Und dieses fehlende Echo wollte ich wahrscheinlich durch persönliche Kontakte zu anderen Menschen wettmachen. Ganz normal eigentlich, oder? Ich denke, ja. Es ist menschlich, sich vergewissern zu wollen, ob man den richtigen Ton anschlägt. Ich will ja nicht ‚von oben‘ diktieren. Bloß nicht. Aber es ist verflucht schwer, einen Menschen dazu zu bewegen, freiwillig auch nur einen winzigen Blick aus dem Hamsterrad zu werfen, einmal nur kurz über den Tellerrand zu schauen. So unheimlich schwer.

Müde bin ich immer noch nicht. Da liege ich nun in meinem Bett und starre an die Decke. Meine Gedanken drehen sich um die eigene Achse und finden keine Ausfahrt aus diesem irren Kreisverkehr. Zu allem Überfluss wabern jetzt auch noch irgendwelche lila Wolken vor meinen Augen herum. Ich blinzele sie weg. So geht’s schon besser. Ich muss an meine Kindheit denken. Damals kam es nach dem Zubettgehen vor, dass gelbe Wolken auf meinen Netzhäuten herumtanzten. Ich hatte zunächst große Angst. Später, als ich älter war, ließ das Angstgefühl aber nach. Manchmal konnte ich dieses Schauspiel sogar genießen und beim zuschauen bin ich dann irgendwann eingeschlafen. Ich weiß bis heute noch nicht, wodurch dieser Effekt hervorgerufen wird. Ob das jedem Menschen passiert, oder ob nur ich so verrückte Sehnerven habe. Aber Violett ist neu. Und da kommen sie wieder, die lila Wolken. Nicht gut. Muss das jetzt auch noch sein? Wieder versuche ich, sie wegzublinzeln und wieder klappt es. Aber leider nur ganz kurz.

Denn das hier ist überhaupt keine Sehstörung. Wenn ich die Augen schließe, ist es dunkel. Wenn ich sie öffne, sehe ich dieses violette Schimmern sofort wieder. An der Decke, an den Wänden. Es wandert von der Decke auf den Fußboden zu. Das Wabern hat absolut nichts mit einer Nervenreizung zu tun. Es ist real. Und zwar sehr real. Wenn ich zuvor schon wach war, bin ich nun hellwach. Ich reiße die Augen weit auf und versuche ein System hinter den abgestuften Tönungen und wilden Formen zu erkennen, die sich über und neben mir abspielen.

Und was war das? Hat da gerade jemand etwas gesagt? Meine Nackenhaare stellen sich langsam auf, während das violette Leuchten sich verdichtet und immer beständiger wird. Ich hatte gerade das Gefühl, das Echo einer Stimme wahrzunehmen, ohne zuvor die eigentliche Stimme gehört zu haben. Klingt das blöd? Ich fürchte, ja.

Mit jeder Sekunde formt sich das Leuchten mehr und mehr zu einer menschlichen Gestalt. Von einem Moment zum nächsten bin ich die Ruhe selbst. Ich glaube nämlich nicht im geringsten an böse Geister, die sich in einem violetten Lichtschein zu einer schlanken Gestalt formen. „Einen Augenblick noch, Claude“, höre ich es in meinem Kopf flüstern. Eine Stimme. Klar und deutlich. Unzweifelhaft.

Spätestens jetzt, nach der Namensnennung ‚Claude‘, bin ich sicher, wer mich besuchen wird. An gute Geistwesen, die aus dem Nichts erscheinen, glaube ich nämlich sehr wohl. Obwohl diese Art ihres Erscheinens mir fremd ist. Diese Vorführung ist schon regelrecht gespenstisch. Gespannt schaue ich weiter zu, was sich vor meinen Augen abspielt. Was sollte ich auch sonst anstellen? Welche Physis kommt da bei Nacht in einem mysteriösen Lichtschein auf mich zu…? Kenne ich sie bereits? Oder werde ich heute ein anderes, mir noch unbekanntes Bild von La Sola sehen?

„Gib mir noch ein paar Sekunden“, tönt eine hohe, beinahe kindlich klingende Stimme an meine Ohren. Sie macht es jedenfalls spannend, denke ich. Die Gestalt wird konkreter, während sie langsam auf mein Bett zu schwebt.

Schlagartig wird mir bewusst, dass ich in unserem Ehebett liege – und zwar direkt neben Julia. Mein Kopf schnellt herum und schaut in ihre Richtung, doch dort erwartet mich der zweite Schock der heutigen Nacht: Statt meiner selig schlummernden Angetrauten erblicke ich dort eine mir gänzlich unbekannte Frau im Schneidersitz, deren langes wallendes Haar wie in Zeitlupe um ihren Körper weht, obwohl alle Fenster geschlossen sind und nicht der geringste Windzug durch den Raum geht. Wie vom Blitz getroffen setze ich mich auf und starre sie mit großen Augen an.

Sie ist zierlich, aber definitiv kein Kind, wie ihre zweifelsfrei weiblichen Attribute sichtbar belegen. Ihr Gesicht zeigt eine ernste Miene und ich kann mein erneutes zusammenzucken nicht verhindern, als klar und deutlich ihre Stimme an meine Ohren schlägt, obwohl sie ihren Mund überhaupt nicht öffnet. „Du darfst den Glauben an dich nicht verlieren, Claude“.

Die Situation ist unwirklich. Die junge Frau ist unwirklich. Sie ist tatsächlich violett. Ihr Haar ist violett. Ihre Haut hat eine violette Tönung. Die Farbe ihrer mandelförmigen Augen ist tiefviolett, beinahe schon rot. Bis auf die Augen wirken ihre geradlinigen Züge aber in keiner Weise asiatisch. Schon als solches sieht sie unwirklich aus. Aber die Umstände ihrer Erscheinung wirken noch viel bizarrer auf mich. Sie scheint komplett von einer violetten Aura umgeben zu sein. Dann ihre permanent wehenden Haare, ihr verlangsamter Wimpernschlag, ihr schmaler Mund mit seinen zarten violetten Lippen. Aber dann, dieser visuellen Langsamkeit zum Trotz, ihre in völlig normalem Tempo erklingende kindliche Stimme.

Wie unter Wasser! Wieso komme ich erst jetzt auf diese Idee? Es wirkt, als wäre sie unter Wasser. Ihr Haar weht in der Strömung. Atmet sie Wasser statt Luft? Ist sie gar nicht wirklich hier? Sie beginnt zu lächeln. Liege ich richtig? Liest sie meine Gedanken? Ihre Schneidezähne blitzen durch ihr Lächeln. Nun wirkt sie überhaupt nicht mehr so ernst. Nun bin ich sicher, dass sie in meinen Gedanken ist. Ich möchte sie berühren, sie umarmen, aber sie hält mir ihre Handflächen entgegen. „Nicht so stürmisch, mein allerallerbester Freund“, hören meine Ohren und ihre Zähne erobern noch ein wenig mehr Fläche in ihrem Gesicht. Selbst ihre Zähne sind violett, schießt mir durch den Kopf.

„Vertrau mir, Claude. Keine Angst. Ich hole dich zu mir“, sagt sie und als ich spontan nicke, schubst sie ihre Aura in meine Richtung. Sie bleibt sitzen, aber der Ballon, oder besser die Blase, in der ich sie sehe, erweitert sich zur Seite und kommt mir näher. Als sie meinen linken Arm erfasst, sehe ich diesen Arm bei ihr in der Blase und zu meinem Erstaunen sieht er irgendwie fremdartig und dazu noch violett aus. Viel Zeit, dies zu verarbeiten, bleibt mir allerdings nicht, denn die Blase schließt nun auch meinen Kopf ein. Genau in diesem Moment ändert sich alles. Mir wird schwarz vor Augen. Aus.

??????????

Meeresrauschen?

Mein Kopf rauscht.

Es ist dunkel.

Ich habe die Augen zu.

Dann muss es ja dunkel sein.

Mein Kopf liegt weich.

Ich liege weich.

Augen auf? Uuuh! Nein. Besser nicht.

Meine Hände fühlen…, Sand?

Doch Meeresrauschen?

Ich wage es nochmal, die Augen zu öffnen. Einen winzigen Spalt. Es ist sehr hell, hier im Sand. Ich versuche für mich festzustellen, was mir wichtiger ist: Der Wunsch, einfach liegen zu bleiben – oder der Wunsch, meiner Neugierde nachzugeben. Es ist warm, hier im Sand. Warm und hell. Ich glaube, die Neugierde gewinnt. Der Sehschlitz wird größer. Ich gewöhne mich langsam an das helle Licht.

Was ist überhaupt geschehen?

Das violette Mädchen in meinem Bett. Du meine Güte, wie sich das anhört. Diese Blase, in der sie steckte. Sie hat mich reingeholt. In diese Blase. Dann gingen bei mir die Lichter aus. Und jetzt gehen sie umso heller wieder an?

Noch ein bisschen mutiger geworden erweitere ich meinen Sehschlitz. Ein weißer, leicht milchiger Himmel ist über mir. Und ein liebes Lächeln ist dort. Das violette Mädchen ist hier. Und sie ist überhaupt nicht mehr violett. Und mein Kopf liegt auf ihrem Schoß. „Hallo, du“, sage ich mit einer Stimme, die nicht die meine ist. „Hallo, mein tapferer Recke“, antwortet das nicht mehr violette Mädchen, ohne die Lippen zu bewegen.

Meine Augen öffnen sich nun komplett, auch, wenn es etwas weh tut. Sie lächelt immer noch. Natürlich tut sie das. So kenne ich La Sola. Selbst, wenn ihr Mund nicht lächelt, dann lächeln immer noch ihre Augen. Oder seine, je nachdem. Und immer senden diese Augen eine übermenschliche und unermessliche Kraft aus, die mich an die Weite des gesamten Universums denken lässt und die mich mit Energie geradezu auffüllt. So wie gerade jetzt wieder.

„Würdest du mir bitte so dreißig bis vierzig Sachen erklären, meine nicht mehr violette Schönheit?“, frage ich frei heraus und wieder ist das nicht meine Stimme. Ist es überhaupt eine Stimme? Spreche ich eigentlich?

„Steh‘ mal auf, mein Menschlein“, antwortet sie, ohne jede Lippenbewegung, ohne mit dem Lächeln aufzuhören und ich erwische mich dabei, wie ich unwillkürlich nach einer kleinen Handpuppe suche, wie sie von Bauchrednern verwendet wird. Ich schelte mich selbst einen Idioten und sie windet sich geschickt unter meinem Kopf heraus, steht auf und zieht mich mit spielerischer Leichtigkeit mit in die Höhe. Das verblüfft mich, aber nun stehen wir beide uns gegenüber. Barfuß im Sand.

Sie kommt mir gar nicht mehr so klein vor, wie in ihrer Blase bei mir Zuhause. Wir beide sind annähernd gleich groß. Sie trägt ein Stoffgebilde. Ich habe keine Ahnung, wie man sowas nennt. Es scheint nur ein rechteckiges Tuch zu sein. Einmal in der Mitte gefaltet und in die Falte eine Öffnung für den Kopf geschnitten. An den Enden der Falte hat das Kleidungsstück je ein Band, um es an den Handgelenken zu befestigen. Mit jeder Bewegung der Arme wedelt das Teil also hin und her. Ich muss an einen Poncho denken, aber es ist doch irgendwie anders.

Während ich noch ihre Kleidung bewundere, macht sie einen halben Schritt auf mich zu und umarmt mich zur Begrüßung. Ich genieße den Kontakt zu ihr und ganz besonders den Energiefluss, der von ihr ausgeht. Es ist sehr warm an diesem Strand, aber La Solas Energie ist keine äußerliche Wärme, sodass ich sie als ‚zu viel des Guten‘ empfinden würde. Sie ist etwas ganz anderes. Sie ist an nichts irdisches gebunden. Ich fühle sie in meinem Inneren – und sie ist genau das, was ich in diesem Moment fühlen möchte.

Jedoch sind meine Gefühle diesmal heftiger als sonst. Liegt es an der außergewöhnlichen Atmosphäre? Ich drücke sie fest an mich, schmiege mich ganz dicht an sie und fühle mich fantastisch dabei. Mein eigener Körper scheint beinahe überladen von ihrer Energie, die ich noch nie so wahrgenommen habe. Da baut sich eine Spannung zwischen uns auf, die ich noch niemals in dieser Form gespürt habe. Ich lege beide Hände seitlich an ihr Gesicht und unsere Augen sind nur noch Millimeter voneinander entfernt. Ich versuche noch zu verstehen, was ich in diesen Augen alles sehe, als meine Emotionen mit mir durchgehen und ich sie auf ihren wunderbar weichen Mund küsse. Lang, sehr lang und sehr intensiv ist dieser Kuss und er schmeckt köstlich und süß und er soll bitte nie enden. Ich spüre mein Blut durch meine Adern schießen, spüre das Pumpen meines Herzens. Laut und wild. Jeder Herzschlag lässt meinen ganzen Körper beben. Nicht nur meine Zunge und meine Lippen und meinen Mund, sondern alles bis zu meinen Füßen im Sand.

Doch irgendwann verlässt mich meine Kraft. Der Kuss endet. Ich bin regelrecht erschöpft. Ich fühle mich unendlich glücklich, aber auch unheimlich leer. Nur ganz langsam kommen meine Gedanken wieder zur Ruhe und formieren sich neu. Ich versuche, das gerade erlebte zu verarbeiten, doch es gelingt mir nicht einmal ansatzweise. Was ist hier gerade passiert? Das war doch nicht ich! Verzweifelt schaue ich in ihr Gesicht und schäme mich zutiefst für das, was ich ihr und mir gerade angetan habe. Ich habe komplett die Kontrolle über mich verloren. Immer noch steht sie vor mir. Ihre Haut, so nah vor meiner Nase, duftet einfach wunderbar. Mein Herz schlägt schon wieder schneller. Was ist…? Erschrocken mache ich einen heftigen Satz zurück und gerate ins Straucheln. Was, zum Teufel, ist denn nur mit mir los?

„Wir hatten gerade Sex miteinander, meine Süße“, sagt das nicht mehr violette Mädchen, das da in ihrem schlichten weißen Gewand vor mir steht. Und mit dieser simplen Ansage zieht sie mir endgültig den Boden unter den Füßen weg.

Bumm! Ich sitze mit dem Hintern im Sand. Ich starre wortlos geradeaus. Auf meine Füße. Auf meine Beine. In meinem Kopf beginnt es zu rattern. Ich drehe meine Hände vor meinen Augen hin und her, um sie mir genauer anzuschauen. Sie setzt sich mir gegenüber nieder. Sie lächelt. Ich weiß nicht, wie ich gucke. Ich habe eine lange Haarsträhne im Gesicht und wische sie genervt zur Seite. Bin ich wütend? Wie kann ich jetzt wütend sein? Jetzt, keine zwei Minuten nach dem wildesten Erlebnis meines Lebens. Sie lächelt. Ich will aufspringen und sie zur Rede stellen, aber nach höchstens 30 Zentimetern plumpse ich wie ein nasser Sack zurück in den Sand. Ihr Lächeln macht mich wahnsinnig.

Ich atme tief ein und behalte die Luft lange in mir. „Wann wolltest du mir eigentlich sagen, dass ich eine Frau bin, ha?“, quetsche ich muffelig hervor. Sie hält den Kopf gesenkt. „Sorry, aber ich dachte, dass du das selbst merkst. Ich war schon gespannt, wie du mich das fragen würdest“, entgegnet sie, hebt ihren Kopf an und ich sehe sie von einem bis zum anderen Ohr grinsen. Ich revangiere mich mit einer kraftlosen Handvoll Sand vor ihren Bauch. „Tolle Wurst. Und so witzig. Ist doch mal ’ne nette Abwechslung. Wahrscheinlich sind Männer hier unerwünscht.“

„Ja, das könnte man so sagen, Claudine“, bestätigt sie, bei der Nennung meines Namens schon wieder schmunzelnd, „Als Claude würdest ganz bestimmt für Aufsehen sorgen.“

„Zum Glück bin ich ja in jeder Verpackung eine Naturschönheit“, erwidere ich mit einem arroganten hochziehen meiner Nase. Seit meinem ‚Zusammenbruch‘ sprechen wir beide mit unserer normalen akustischen Stimme. Das können diese Wesen also genauso gut wie die Telepathie. Meine leibliche Frauenstimme klingt für meine Ohren allerdings äußerst gewöhnungsbedürftig.

„Wie nennt sich unser Völkchen eigentlich, äähmmm…“ Oh, je! Das ist mir noch nie passiert. Bei keinem unserer Treffen. Jedes mal war ich deutlich unaufgeregter als bei unserem heutigen Zusammenkommen. Dies heute war aber auch wirklich ein Stakkato der fremdartigen Eindrücke. Trotzdem muss ich mich doch sehr über meinen Fehler wundern. „Ich habe dir noch gar keinen Namen gegeben. Bitte verzeih mir.“

„Ach, du meine Güte“, erschrickt sie gespielt und fasst sich fassungslos an die Schläfen, um in der nächsten Sekunde wieder ein zuckersüßes Lächeln auf ihr Gesicht zu zaubern. Dann kniet sie sich vor mich, nimmt mich in die Arme und drückt mich an sich. „Du bist die ganze Zeit aus dem Staunen nicht herausgekommen, du Arme. Mach dir keinen Kopf.“

Es fällt mir nicht schwer, ihr einen Namen zu geben, denn ich habe sie die ganze Zeit nur ‚das violette Mädchen‘ genannt. Genau das trifft es wunderbar. „Ich nenne dich Violet, okay?“

„Okay, meine geliebte Zuckerschnute. Jetzt möchte ich dir noch etwas zeigen. Wir wollen doch nicht, dass es langweilig wird, nicht wahr?“ Sie zwinkert mir zu, nimmt mich an beiden Händen und zieht mich aus dem Sand. Musste sie mich wieder an den Kuss erinnern?

Sie richtet sich auf, dreht sich um und zieht mich aus ihrer Bewegung heraus hinter sich her, bis wir auf gleicher Höhe sind. Dann hakt sie sich unter und erzählt: „Wir selbst nennen uns sinngemäß nur ‚die Bewussten‘ um uns von den Tieren abzusetzen. Eine echte Bezeichnung haben wir uns eigentlich nie gegeben.“

So schlendern wir langsam wieder auf das Meer zu, von dem wir uns offenbar nie weiter als ein paar hundert Meter entfernt hatten. „Hast du mich gerade verarscht, Violet? Hatten wir tatsächlich Sex miteinander? Ich meine, ich habe dich geküsst, das ist mir schon klar und es tut mir auch wirklich fürchterlich leid, aber das war doch keine…, ähm…, ach, du weißt schon. Wir sind doch nun mal beide Mädchen, nicht wahr?“

Sie schielt in meine Richtung und macht ein nachdenkliches Gesicht. „Ja, das ist schon richtig, was du sagst. Wir beide sind Frauen. Aber das ist deine rein irdische und rein äußerliche Erfahrung. Beurteile nie etwas ausschließlich aufgrund deiner begrenzten Erfahrungen.“

Sie macht eine Pause, als wenn sie sich die nächsten Worte erst gut überlegen müsste. „Du hattest doch vorhin über die Männer auf dieser Welt gewitzelt, nicht wahr?“, fragt sie mich schließlich und ich antworte nur knapp mit: „Klar, ich habe hier noch nicht einen einzigen Kerl gesehen.“

Sie hakt sich bei mir aus und sucht tastend nach meiner Hand, wobei ich ihr gerne entgegen komme. Nun spazieren wir Hand in Hand weiter, schräg auf den Strand zu. „Also, das ist nicht weiter verwunderlich, hat aber überhaupt nichts damit zu tun, dass sie hier unerwünscht wären. Nein, so ist es nicht. Es ist nämlich so: Auf dieser Welt gibt es keine Männer.“

Sie lässt mir ein paar Sekunden Zeit, diesen Satz sacken zu lassen. Dann setzt sie fort: „Dieses zweite Geschlecht ist bei uns nie entstanden. Über die gesamte Evolutionskette hinweg waren männliche Wesen nie nötig. Auch bei ähnlichen Arten, also bei allen Säugetieren auf dieser Welt ist es so. Das eingeschlechtliche Wesen kann befruchten und es kann befruchtet werden. Zwei in Eins, sozusagen. Aber nur aus menschlicher Sicht, versteht sich.“

„Cool“, lautet meine ein wenig rau klingende Antwort. Das mag aber auch an meinen urplötzlich sehr trocken gewordenen Stimmbändern liegen. Wie unterschiedlich das Leben sein kann. Wenn ich an uns Erdenbewohner denke, wo in den meisten Fällen beinahe alle Macht an die männlichen Wesen fiel, ist die hiesige Lösung geradezu unvorstellbar anders. Mir fehlt natürlich auch der Maßstab, aber ich komme mir in meiner Gestalt kaum wie ein beeindruckender Kämpfer vor. Doch alles ist relativ. Vielleicht sind wir ‚Frauen‘ hier kräftiger und geschickter als alle natürlichen Feinde unserer Umwelt. Ich sehne mich gerade nach einem Spiegel. Dann schießt mir ein Gedanke durch den Kopf und ich fühle, wie das Blut mir in den Kopf steigt. „Violet? Sorry, aber…, habe ich dich gerade befruchtet?“

Meine allerallerbeste Freundin lacht laut auf, lässt meine Hand los und dreht sich zu mir. Unsere Füße stehen schon im flachen Wasser und seichte Wellen umspülen unsere Knöchel. „Nein, meine besorgte Geliebte, das hast du nicht“, höre ich sie sagen und mir fällt ein Stein vom Herzen. „Es ist genau andersherum: Du hast dir bei mir deine Befruchtung abgeholt, weil du meinen aufregenden Körper ganz offensichtlich für eine gute und unwiderstehliche Partie gehalten hast.“

Zum zweiten mal heute sitze ich im Sand und erarbeite mir diesmal zusätzlich auch noch einen nassen Hintern. Der Stein ist schneller wieder da, als er gefallen war und er hat noch zwei oder drei Kollegen mitgebracht. Violet sitzt mir, genau wie vorhin, gegenüber und sieht mich höchst amüsiert an. „Spaß beiseite, meine Liebe, das empfangende Wesen muss den Schritt der Zellbefruchtung aktiv einleiten. Da du nicht mal weißt, wie das geht, wird auch nichts passieren. Auf dieser Welt ist die Sexualität aber sowieso nicht vergleichbar mit der auf eurer Erde. Du kannst an jeder Ecke hin und wieder zwei Wesen beim Zellentausch erwischen. Es ist in vielen Fällen ein Spontanverhalten aus reiner Sympathie und hat selten etwas mit tief empfundener Liebe zu tun. Wenn du jemanden gut riechen kannst und es dich überkommt, dann ist das so. Dein Sexualpartner nimmt deine Annäherung als Kompliment wahr. Wenn der Rausch vorüber ist, wird in Ruhe entschieden. Nicht überall ist es so kompliziert wie bei euch. Die Natur nimmt manchmal Abkürzungen. Sie probiert sich aus. Schließlich hat sie Millionen Jahre Zeit.“

Ich sitze im seichten Wasser und denke über das gerade gehörte nach. „Bestimmen beide Partner über die Zellbefruchtung?“

„Nein. Das ist ausschließlich eine Entscheidung des empfangenden Wesens, welches den Akt auch grundsätzlich einleitet“, klärt Violet mich auf, „Das spendende Wesen hat auch keine Ambitionen, sich einzumischen. Manche Wesen sehen sich nur einmal im Leben und haben fünf gemeinsame Kinder.“

„Das ist krass.“

„Das ist Vielfalt. Mein Bauplan des Lebens bietet unendlich viele Möglichkeiten. Komplizierte und einfach gestrickte. Ohne jede Regelverletzung. Manches funktioniert besser, manches funktioniert nicht so gut. Einiges, was nicht so toll funktioniert, stellt sich nach ein paar Jahrtausenden als höchst effektiv heraus. Anderes, was zunächst tolle Ergebnisse hervorbringt, stürzt sich plötzlich in den Untergang.“ Sie schüttelt missbilligend den Kopf, als sie das sagt. „Aber jetzt ist Schluss mit Familienplanung, denn diese Wesen haben noch ganz andere besondere Fähigkeiten. Schwing deinen Arsch in die Höhe und komm mit ins tiefere Wasser“, bestimmt sie kurzerhand und ich tue, wie befohlen. Ich trotte ihr hinterher bis wir bis zur Brust im Wasser stehen und mache ein fragendes Gesicht.

„Wir müssen tauchen“, sagt sie und deutet mir beiden Zeigefingern nach unten. „Du wirst Staunen.“

Ich hole nochmal Luft und wir tauchen unter. Sie lässt sich im Schneidersitz auf den Grund sinken und ich mache das gleiche. Mein Körper sinkt zügig nach unten, es gibt wenig Auftrieb. Genau in dieser Haltung habe ich Violet bei uns im Schlafzimmer in ihrer Blase gesehen. „Wie fühlst du dich?“, fragt ihre Stimme und wieder bewegt ihr Mund sich nicht dabei. Ich hatte das schon nicht mehr auf dem Schirm, weil wir uns die letzten Minuten nur akustisch unterhalten hatten. Eigentlich habe ich mich bis jetzt ausschließlich akustisch unterhalten.

Ich will auch telepathisch reden. Ich konzentriere mich auf meine Worte und denke bewusst laut und an Violet gerichtet: „Ausgesprochen gut, eigentlich. Als wäre es das normalste der Welt, auf dem Meeresboden zu sitzen und ein Pläuschchen zu halten.“

„Heeeeey, suuuper, Claudine. Das mit dem sprechen hast du toll gemacht. Jetzt kommt Stufe zwei: Atme!“

Unwillkürlich richtet sich mein Blick nach oben, aber da spüre ich ihre Hände an meinen Handgelenken und wie sie mich sanft, aber bestimmt, unter Wasser festhält. „Nein, meine Süße, atme die Luft aus und das Wasser ein. Du wirst es lieben.“

Ich vertraue. Wie schon so oft. Ich vertraue La Sola grenzenlos. In meinem Geist regen sich menschliche Instinkte. Ertrinken. Es ist ganz egal, ob ich in einem irdischen oder in einem außerirdischen Körper stecke. Ich denke menschlich. Und dennoch puste ich blubbernd die Luft aus meinen Lungen und hole sofort wieder tief Luft. Genau genommen hole ich tief Wasser. Es geht, stelle ich fest. Problemlos. In meinem Körper spüre ich eine Veränderung. Er hat auf eine andere Atemtechnik umgeschaltet. Von ganz allein. Ein Reflex. Mein Körper weiß genau, was zu tun ist. Ich will Violet ansprechen, aber meine Stimme versagt. Die lautgebenden Organe kommen mit der Dichte des Wassers nicht zurecht. Deshalb die Telepathie, wird mir klar. Es ist erfrischend, dieses Wasser. Erfüllend. Ich fühle mich bestens versorgt. Gut gesättigt. „Was atmen wir eigentlich, Violet“, frage ich telepathisch bei meiner ‚Reiseleiterin‘ nach. „Sauerstoff?“

„Richtig vermutet“, kommt prompt die Erklärung. „Wie die Erdmenschen benötigen wir in erster Linie den Sauerstoff. Wir können ihn jedoch nicht nur aus der Luft, sondern genauso aus dem Wasser nehmen. Wir gehören einer Ordnung von Lebewesen an, die es auf der Erde nicht gibt und das hat uns einen großen Vorteil in unserer Entwicklungsgeschichte verschafft.

Faszinierende Natur, denke ich, eine Welt voller intelligenter Amphibien. Aber ich habe wohl etwas ‚zu laut gedacht‘ wie sich zeigt, denn Violet schüttelt den Kopf und wedelt mit dem Zeigefinger. Fünf Finger, schießt mir durch den Kopf. Wie die Menschen. So ähnlich von der Optik und doch so unendlich weit voneinander entfernt.

„Wir sind keine Amphibien, Claudine. Wir wechseln unseren Lebensraum nicht. Wir können uns von unserer Geburt an, als Neugeborenes an der Mutterbrust, bis zum Ende unseres Lebens, sowohl an Land, wie auch im Wasser aufhalten. Ohne jede Einschränkung. Ich müsste dir allerdings die Biophysik eines ganzen Planeten erklären, damit du das auch nur annähernd verstehen könntest. Dein menschlicher Körper würde auf dieser Welt keine fünf Minuten überleben. Violet und Claude werden sich niemals berühren können. Glaube es einfach. Und folge mir“.

Mein Blick gleitet an meinem fremden Körper entlang. Über meine Brüste und den flachen Bauch zu den muskulösen Beinen und den schlanken Fesseln. Meine menschlichen Sinne gaukeln mir eine attraktive weibliche Gestalt vor. Doch mir fehlt jeder Maßstab, wird mir klar. Violet und Claudine könnten genauso gut 20 Zentimeter kleine Winzlinge, wie auch 20 Meter hohe Riesen sein. Ich reiße mich aus meinen Gedanken, denn Violet ist schon ein paar Meter entfernt. Ich strecke die Arme nach vorne aus und werfe mich ihr hinterher. Dann übernimmt, im wahrsten Sinne des Wortes, abermals ein Reflex das Ruder und lässt meine Arme sich flach am Körper anlegen. Nur die Hände stehen seitlich ab. Gleichzeitig schwingen meine Beine auf und ab, wobei, was mich zunächst beinahe schockiert, meine Kniegelenke in beide Richtungen abwinkeln können. Außerdem können sich meine Zehen ziemlich weit auseinanderspreizen. Habe ich eigentlich Schwimmhäute zwischen den Zehen? Egal. So ergibt sich jedenfalls ein beachtlicher Vortrieb und schnell bin ich gleichauf mit Violet.

Als Mensch denke ich nicht darüber nach, wie man um die Kurve geht. Ich tue es einfach. Als Mensch beginne ich zu laufen, um den Bus noch zu kriegen. Einfach so. Als Mensch spaziere ich neben meinem Freund her, um zu quatschen. Ohne jeden Tempomaten. Frag mich also bitte niemand, wie das mit dem Schwimmen funktioniert. Es geht einfach. Claudine kann das. Und als nächstes fallen Claudine beinahe die Augen aus dem Gesicht, als sie diese riesige Unterwasserstadt unten im Tal erblickt. Oh, mein Gott!

„Ja? Iss was?“

„Halt du bloß den Babbel. Und raus aus meinem Kopf.“

Sie lacht. In meinem Kopf. „Das ist hier normal, meine Liebste“, sagt sie dann. Wieder in meinem Kopf. „Keine Geheimnisse“, fügt sie noch hinzu.

Es fällt mir sehr schwer, mich damit anzufreunden. „Aber wenn ich den Hintern meiner Nachbarin toll finde, dann kriegt sie das doch mit. Was soll sie dann von mir denken…?“

„…dann fühlt sie sich geschmeichelt. Und möchte vielleicht sogar mit dir schmusen.“

„Super. Und wenn ich ihren Hintern total fett und ihr Gesicht hässlich finde…?“

„Nimmt sie das vielleicht als Ansporn, etwas an sich zu ändern. Oder – du und deine Meinung seid ihr vollkommen egal, weil jemand anderes sie wunderschön findet.“

„Okay. Und das funktioniert bei euch…?“

„Japp. Seit vielen hunderttausend Jahren.“

Diese Art der Fortbewegung ist ein Traum. Schwimmen ist wie fliegen. Besser noch als fliegen. Wenn du dich hängen lässt, dann hängst du. Mitten in der Luft. Quatsch! Mitten im Wasser. Aber Violet lässt mich nicht lange hängen, sondern treibt mich an, bis wir am Rande dieser riesenhaften Stadt angelangt sind. Hier lässt sie sich mit den Füßen auf den Boden sinken. Er besteht aus einer Art Beton oder Gestein und führt als Weg weiter in die Siedlung hinein. Ich möchte nicht auffallen und mache einfach das gleiche. Einige andere Wesen kommen uns entgegen, einige weitere gehen stadteinwärts vor uns her.

„Merken die anderen denn dann nicht sofort, dass wir ein Gott und ein Alien sind?“, fällt mir in einem Anflug von Unsicherheit ein.

„Nein, keine Angst. Du hast die beste ‚Firewall‘ dieser Welt auf deiner Seite“, stellt sie mit unerschütterlicher Sicherheit fest. „Kein verräterischer Gedanke wird unsere Köpfe verlassen. Und jetzt, komm. Lass uns die Stadt unsicher machen.“

Violet strahlt über das ganze Gesicht. Sie hat sichtlich gute Laune und diese Laune ist ansteckend. Violet ist ansteckend. Ich finde sie immer noch zum verlieben, greife nach ihrer Hand und laufe einfach los. Auch ich strahle. Dieses Leben ist schön. Scheiß Hormone. Oder was auch immer diese Wesen so steuert.

„Wie läuft das hier alles? Wer baut die Städte? Wer verwaltet sie? Gibt’s an Land auch Städte? Ich weiß gar nicht, was ich dich zuerst fragen soll“, plappere ich drauf los und frage mich dann selbst, ob man telepathisch schneller plappern kann als akustisch. Violet schaut mich lächelnd von der Seite an. Sie stoppt, nimmt meine zweite Hand in ihre und dreht mich zu sich hin. Wir stehen uns gegenüber und sie blickt mir in die Augen. Ich versinke in den magischen Tiefen, weit hinter ihren Netzhäuten, weit hinter dieser Wirklichkeit. Ich bin in ihr und ich werde zu ihr und ich beginne zu verstehen…

Ich höre diese ganze Welt in meinem Kopf. Alles und jedes Wort. Ich beginne zu filtern. Weniger. Nur hier. Es wird leiser. Ein paar hundert Ströme. Die da vorne. Ich höre ein Pärchen über ihre Arbeit reden. Fachgespräche. Langweilig. Mein Schwarm. Das Gebrabbel wird wieder unübersichtlich. Mehr als tausend Stimmen, schätze ich. Meine Finger. Das sind meine zehn nächsten Verwandten. Ich erfahre von Vronk, die sich sehr über den Kontakt freut, dass ich sie für die nächsten fünf Monate im Rat des Schwarms ablösen werde. Das hat der Schwarm vor ein paar Stunden in meiner Abwesenheit abgestimmt. Sie freut sich, dass sie jetzt wieder mehr Freizeit hat und wünscht mir glückliche Entscheidungen für diese Zeit. Ich begründe mein Fernbleiben von der Abstimmung mit einem persönlichen Wunsch nach Abgeschiedenheit, was offensichtlich nicht ungewöhnlich ist, denn Vronk respektiert dies einfach so und gut gelaunt, wünscht mir einen netten Abend und zieht sich zurück. Nächstes Ratstreffen. Nassi fühlt sich angesprochen und heißt mich herzlich willkommen im Rat. Sie koordiniert die anstehenden Entscheidungen und Termine des Rats. Sie nennt mir das Datum des ersten Meetings und verspricht mir, mich rechtzeitig daran zu erinnern. Ich weiß, dass Nassi das seit etlichen Jahren beruflich macht. Sie ist selbst kein Ratsmitglied, also gilt für sie keine zeitliche Befristung. Merker. Ich sehe, dass der Termin bereits in meinem Merker eingetragen ist. Und ich sehe, dass heute Abend noch ein lustiges Treffen mit Priga, Ssala und Claudine eingetragen ist. Und zwar in ein paar Minuten ein paar Kreuzungen weiter. Ich gebe mir Mühe, mich zu lösen. Von Violet, meine ich. Aus ihrem Kopf, genau genommen. Ich bemerke einen winzigen Spalt zwischen uns und zwänge mich hinein. Das klappt soweit ganz gut und der Spalt vergrößert sich, bis ich ihr hübsches Gesicht wieder vor mir sehe. Ja, ich hab’s richtig gemacht. Ich bin draußen.

„Naaa? Sind ein paar Fragen beantwortet?“, höre ich einzig und allein Violets Stimme in meinem Kopf.

„Du hast einen telepathischen Terminkalender…? Ernsthaft…?“

„In deiner Welt hast du ein Smartphone“, erwidert sie und zählt an den Fingern auf: „Du kannst haptisch, akustisch und optisch mit dem Ding kommunizieren. Telepathie könnt ihr nicht und das mit dem Geruch kriegt ihr im Moment noch nicht hin.“ Diesmal legt sie ihren Zeigefinger unter die Nase, um sie ‚anzuheben‘. „Wir haben das alles schon geschafft. Und wir müssen das Ding noch nicht einmal mit uns herumschleppen. Sind wir gut oder sind wir gut?“

Ich finde ihre Gestik und Mimik einfach nur bezaubernd. Unwillkürlich schaue ich auf meine Zeigefinger, meine beiden Hände mit all ihren Fingern und den Daumen. So vertraut. So menschlich. Ich erkenne den Bauplan. Ich erkenne aber auch die Variabilität, die vielfältigen Möglichkeiten, die ‚der Konstrukteur‘ seinem Werk beigelegt hat. „Okay, ihr seid gut. Ehrlich. Ihr seid aber auch ganz anders als wir. Näher an der Natur. Natürlich sehe ich die Gebäude hier. Die muss ja jemand entworfen und gebaut haben. So wie die Beleuchtung hier, aber wenn du den ‚Merker‘ gerade nicht aufgerufen hättest, hätte ich diese Art von Technologie gar nicht bemerkt. Ach ja, herzlichen Glückwunsch, liebe Rätin… und… was ist überhaupt ein Schwarm, Violet?“

„Dankeschön, ich habe mich aber nicht darum gerissen. Was ein Schwarm ist? Na, ungefähr sowas wie eine freiwillige Großfamilie. Also nicht unbedingt für Blutsverwandte. Da kann praktisch jeder rein“, erklärt sie ganz beiläufig, aber selbst da setzt es bei mir schon aus: „Du gehst also einfach zu den Müllers von nebenan und bist dann Teil ihrer Familie…?“

Sie lacht, nimmt mich an der linken Hand in Schlepptau und wir schlendern weiter Richtung Stadt. „Nein, ich meine so eine richtig große Großfamilie. Die meisten Schwärme haben zwischen 1000 und 2000 Mitglieder. Aber ansonsten, ja. Du fragst ein Ratsmitglied, ob du beitreten darfst und, wenn nichts dagegen spricht, bist du drin. Aus dem alten Schwarm bist du dann automatisch raus, das machen die dafür zuständigen Mädchen. Manchmal wechselt man den Schwarm aus persönlichen, zum Beispiel emotionalen Gründen. Oder auch nur, weil’s einfach besser passt oder wenn du deinen Wohnort änderst.“

Ich bleibe stehen und bremse sie wieder ab. „Einfach so? Keine Konkurrenz? Keiner ist beleidigt? Mein Schwarm, dein Schwarm? Wie geht das?“, frage ich weiter, denn ich kapiere es nicht. „Es geht einfach so, du Mensch, du“, erwidert sie und zieht mich weiter. „Du musst aber auch gar nicht in einem Schwarm sein. Doch mir gefällt es. Wegen der Kontakte. Wir sind nun mal Rudeltiere, wie ihr. Nur im größeren Stil. Im Schwarm halt. Und jetzt brems‘ nicht laufend. Wir treffen gleich ein paar Freundinnen, schon vergessen?“

Natürlich habe ich das nicht vergessen. Wir könnte ich nur? Ich habe jetzt schon Schweißausbrüche vor Nervosität. Blödsinn! Unter Wasser! Na und?! Es fühlt sich trotzdem so an! Violet biegt um die Kurve und zielt auf ein Gebäude. Ich ziele gezwungenermaßen hinterher. Wir durchschreiten den Eingang und steigen eine Treppe hinauf. Eine Treppe? Plötzlich guckt mein Kopf aus dem Wasser und mein Körper reagiert darauf mit einem seltsam warmen Vorgang auf meinem Rücken und einem leichten Klicksen in meinem Hals. Ich atme Luft. Kein Hustenreiz. Normalität. Ich verarbeite das erlebte gerade noch, als Violets Stimme sagt: „Hallo Mädels! Ist ‘n bisschen später geworden, sorry, aber Claudine ist nicht die schnellste.“

Was erdreistet sich dieses Püppchen…

STOP! Hormone! Alien-Hormone!

Das… Bin… Nicht… Ich…

Ich atme tief durch. Ich lächle. Und ich bin stolz auf mich, wie souverän ich das in Nullzeit hingekriegt habe. Aus dieser guten Laune heraus schiebe ich mich an Violet vorbei und spreche die beiden jungen Frauen direkt an: „Ab und zu muss man Violet in ihrer Hyperaktivität auch mal ausbremsen, nicht wahr? Ihr müsst Priga und Ssala sein. Es freut mich sehr, euch beide kennenzulernen.“ Mit diesen Worten gehe ich den letzten Meter auf die beiden zu und nehme sie nacheinander kurz, aber herzlich in den Arm. Und beide lächeln mich erkennbar ehrlich und ganz offen an. Wie schön.

Ich lerne, dass wir uns in einem Restaurant befinden. Je nach Art der Speisen werden, auch in einer Unterwasserstadt, hierzu auch gerne belüftete Räumlichkeiten verwendet. Andersherum ist es ebenso: Auf dem Festland finden sich Begegnungsstätten auch in Tanklandschaften oder Süßwasserseen. Ja, auch das haben diese Wesen drauf. Sie leben in Salzwasser und in Süßwasser, wenn sie nicht gerade auf Land leben. Einfach faszinierend. Aber in diesem speziellen Restaurant gilt noch eine Besonderheit: Hier wird auf Telepathie verzichtet. Und damit niemand schummelt, gibt es Abschirmfelder. Ich muss an Restaurants auf der Erde denken, in denen das Licht absichtlich ausgesperrt ist und man blind auf seinem Teller herumstochert. Das hat Violet natürlich sehr geschickt angestellt. So ist unser kleines Geheimnis ziemlich sicher vor Fremden. Unsere beiden Tischgenossinnen sind übrigens informiert. La Sola ist nicht zum ersten mal zu Gast in Violet und ich bin nicht das erste Alien in Conza, Violets Lebenspartnerin. Auf dieser Welt geht anscheinend alles sehr einfach.

Ich lerne auch, dass die meisten Schwärme zwischen 1000 und 2000 Mitglieder haben und immer 15 Mitglieder in den Rat gewählt werden, egal wie groß der Schwarm ist. Priga war nämlich auch schon einmal Ratsmitglied und spricht gerne darüber. Die Räte vertreten dann den Schwarm bei allen Entscheidungen, die in der Region des Schwarms anfallen, wie auch bei Absprachen mit anderen Schwärmen. Die Ratsmitglieder werden nicht alle gleichzeitig gewählt, sondern immer nur dann, wenn die fünfmonatige Teilnahme beendet ist oder aus anderen Gründen ein Platz frei wird.

So etwas wie Parteien gibt es hier übrigens nicht. Jedes Ratsmitglied hat eine Stimme. Es kann für etwas sein, oder gegen etwas sein. Aber auch jedes normale Schwarmmitglied hat eine Stimme. Wenn ein Platz des Rates neu besetzt werden muss, nennt jedes Mitglied seinen Favoriten. Wer die meisten Nennungen erhält, wird Ratsmitglied. Bei Gleichstand wird eine Stichwahl durchgeführt. Der gewählte Rat muss die Wahl annehmen. Niemand darf die Annahme des Postens verweigern. Man darf sich jedoch bei jeder einzelnen Ratsentscheidung enthalten. Aber noch nie hat es ein Ratsmitglied geschafft, sich bei jeder Entscheidung in der gesamten Amtszeit komplett herauszuhalten. Auch dann nicht, wenn sie es zu Beginn ihrer Zeit so vorhergesagt hatte. Früher oder später stellt man immer fest, dass man doch eine Meinung hat.

Weiter lerne ich, dass rund fünf Milliarden ‚Bewusste‘ auf dieser Welt leben. Das ergibt bei durchschnittlich 1.500 Mitgliedern ungefähr 3,3 Millionen Schwärme, von denen jeder 15 Ratsmitglieder hat. Also kümmern sich rund 50 Millionen ‚Bewusste‘ um die Verwaltung eines ganzen Planeten. Das ist schon wieder dieses 1 Prozent, welches ich mit Twocloud kennenlernen durfte. 1.500 zu 15. Eine ‚Bewusste‘ von 100 hat den Hut auf. Aber es geht ja noch weiter…

Diese gewählten 50 Millionen Schwarmratsmitglieder teilen sich auf. Das können die telepathischen Wesen ganz schnell. Sie verteilen sich auf genau 33.333 sogenannte ‚Hauptschwärme‘. Dort leben sie natürlich nicht. Sie tun nur so. Auch jeder dieser symbolischen Hauptschwärme besitzt einen 15 Mitglieder umfassenden Schwarmrat. So haben alle Hauptschwärme zusammen knapp 500.000 Räte. Wieder 1 Prozent. Diese ‚Bewussten‘ sind von der normalen Ratsarbeit im Schwarm entbunden und kümmern sich um die überregionale Landesverwaltung. Das sind schon ziemlich große Teile des Planeten.

Nun beginnt das Spiel schon wieder von vorne. Die 500.000 Hauptschwarmräte verteilen sich nun symbolisch auf 333 sogenannte ‚Kopfschwärme‘. Nach der gleichen Regel werden hier 333 mal 15, also knapp 5.000 Mitglieder in die Kopfschwarmräte gewählt, die sich um die Verwaltung der Kontinente zu kümmern haben. Und auch hier ist es wieder 1 Prozent. Man darf hier nicht vergessen, dass die Wasserwelt sehr viele relativ kleine Kontinente hat. Nicht solche riesigen Platten wie unsere Erde.

Doch die 333 Kopfschwärme haben noch eine zweite Funktion. Jeder Kopfschwarm wählt ein sechzehntes Mitglied aus seinen Reihen aus, um so den ‚Kopf‘ des Planeten zu bilden. Dieser Kopf besteht also aus 333 ‚Bewussten‘, die auf der obersten Ebene die Entscheidungen treffen.

Der Kopf kümmert sich nur um die Entscheidungen, die der Kopfschwarmrat nicht treffen wollte, weil sie nach dessen Meinung den ganzen Planeten betreffen.

Der Kopfschwarmrat seinerseits wird vom Hauptschwarmrat mit kontinentalen Fragen beliefert.

Der Hauptschwarmrat beschäftigt sich nur mit Landesfragen, die ihm vom Schwarmrat durchgereicht wurden.

Vom Einzelwesen in den Schwarmrat, von dort in den Hauptschwarmrat, weiter in den Kopfschwarmrat, und letztlich in den Kopf.

Vier Ebenen der Koordination für fünf Milliarden Wesen. Vom Schlagloch im Straßenbelag über die Planung eines neuen Erholungsgebietes bis zur weltumspannenden Energieversorgung. Vier Legislaturperioden in den verschiedenen Ebenen. Fünf Monate Schwarmrat, fünf Monate Hauptschwarmrat, fünf Monate Kopfschwarmrat, fünf Monate Kopf. Maximal 20 Monate Verantwortung, wenn man am letzten Tag seines Dienstes noch in die nächste Ebene berufen würde.

Höchstens dreimal im Leben darf man in einen Schwarmrat berufen werden. Vieles habe ich von den Freundinnen erfahren und gelernt. Sehr viel. Das muss ich erstmal verarbeiten.

Doch obwohl Telepathie in diesem Restaurant verpönt ist, habe ich plötzlich Violets Stimme in meinem Kopf. Die Freundinnen werden leiser und ihre Bewegungen werden langsamer. „Du hast dich heute morgen gefragt, was du bisher überhaupt vollbracht hast. Ich habe deine Mutlosigkeit gespürt, mein Freund. Lass das nicht zu. Du darfst den Glauben an dich nicht verlieren, Claude. Ich stelle dir immer wieder nur Möglichkeiten vor. Verschiedene Arten und Weisen, zusammen zu leben. Du nimmst alle diese Möglichkeiten in dich auf. Dann erzählst du den Menschen mit deinen Worten, wie ihr Leben sein könnte, wenn sie nur etwas mehr über diese Möglichkeiten nachdenken würden. Du zeigst ihnen die Schwächen ihres Systems. Du zeigst ihnen auf, dass 1 Prozent der ihren die restlichen 99 Prozent manipuliert und ausnutzt. Du machst ihnen aber auch klar, dass die 99 Prozent gutherzigen Menschen stärker sind als die 1 Prozent hartherzigen Menschen. Es fällt ihnen jedoch schwer, das zu erkennen. Allerdings sagtest du mir vor kurzem, dass einige Menschen über deine Worte nachgedacht und dich später darauf angesprochen hätten. Aber genau das ist es, was zählt, mein Freund. Du bist auf einem sehr guten Weg. Es bleibt etwas von dir in den Köpfen der Menschen.“

Das Restaurant ist endgültig zum Stillstand gekommen. Die ganze Welt ist stehen geblieben. Keine Bewegung, kein Laut, kein Atem, kein Windzug. Eine dreidimensionale Kulisse, in der ich einfach so herumlaufen könnte. Aber ich will gerade nicht laufen. Ich bin viel zu träge. Es war wirklich ein aufregender Tag heute. Ich bin völlig erschöpft. Violet nimmt mich sanft in die Arme. „Ruh‘ dich aus, Claude“, flüstert sie mir ins Ohr. „Ich besuche dich bald wieder.“ Sie gibt mir noch einen Kuss auf die Stirn und schon wieder kribbelt es in meinem Nacken. Doch dann überkommt mich eine bleierne Müdigkeit, die mich von ringsumher wie eine violette Wolke warm und weich umschließt. Hoffentlich muss ich nicht wieder…

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