Wenn du mittendrin anfängst, verstehst du nicht alles: Beginne lieber am Anfang.
Rebecca dreht sich zu mir, hält mir ihre Hände hin und fragt: „Wollen wir auch eine kleine Runde dingsen, Tommy?“
Ich nehme ihre Hände gerne an. Dann steht sie auf und wir sehen uns in die Augen. Ein leichtes Gefühl von Schwindel überkommt mich und der Raum um uns herum verschwimmt vor meinen Augen. Doch der Nebel, der meinen Blick trübt, klärt sich schnell wieder und ich erkenne den Wanderweg im Park. Dem Park bei unserer Wohnung. Und genau hinter uns steht die Bank, auf der ich bei meinen morgendlichen Fitnessläufen Rast mache. Die Bank, auf der ich Becci kennengelernt habe.
„Mein Ort der Besinnung“, sagt sie nur und deutet auf die Sitzfläche. Wir setzen uns hin und schauen auf den Wald vor uns. Hier ist es deutlich kühler als am sonnigen See in Südfrankreich. Mir wird bewusst, dass ich viele Stunden hinter dem Steuer des Wohnmobils gesessen habe, um genau von hieraus dorthin zu gelangen und nun in einem winzigen Augenblick wieder zurück gesprungen bin.
„Man sollte ‚Dingsen‘ patentieren und als Transportmittel vermarkten“, sinniere ich vor mich hin.
Rebecca lacht leise. „Du Geldgeier“, kommt trocken zurück. „Du steckst auch immer noch knietief im Sumpf. Aber wenigstens sinkst du nicht mehr tiefer.“
Ich greife nach rechts und sammele ihre Hand ein. „Wie geht’s Becci da drin?“
„Ich komme klar, Tommy. Am Anfang war es euphorisch. Überwältigend. Bei der Nummer an der Haltebucht hab‘ ich echt Panik geschoben.“
Diesmal muss ich lachen. „Ja, die heiße Braut war schon beeindruckend.“
„Das kannst du laut sagen. Doch inzwischen habe ich meinen Platz gefunden. Becci bleibt Becci, aber meine alten Wunden sind geheilt. Meine frühere Existenz liegt an einer völlig anderen Stelle in meinem Selbstverständnis. Aber es ist nicht so, dass ich von La Sola übernommen wurde, oder was auch immer du befürchtest. Der große Geist wohnt in mir. Er ist immer präsent, wir haben keine Geheimnisse voreinander, aber ich allein bestimme über mein Leben.“
Ich lasse das gehörte sacken und wir entdecken ein Eichhörnchen, welches sich bei einem gewagten Sprung etwas zu viel vorgenommen hat. Im letzten Moment erhascht das niedliche Tierchen einen Ast und fängt sich ab.
„Es hätte sich auch nicht wehgetan, wenn es auf den weichen Waldboden geplumpst wäre“, konstatiert meine Begleitung. „Du hast dich doch mal gefragt, ob alle Physen gescheiterte Menschen sind, weißt du noch?“
Ich mache ein zustimmendes Geräusch und nicke dazu.
„Nein. So ist es nicht“, sagt sie und dreht ihren Kopf leicht in meine Richtung. „Sicher, Fälle wie den meinen gibt es durchaus. Aber auch ganz viele andere. Schon bei uns Menschen ist das so. Und manche beseelten Wesen im Universum existieren unter gänzlich anderen Bedingungen als wir. Aber niemals wird ein Lebewesen gegen seinen freien Willen in diesen Zustand gebracht.“
„Zustand?“, frage ich.
„Ach, komm. Jetzt nagele mich doch nicht auf ein Wort fest. Du weißt doch besser als tausend andere, dass man eine göttliche Berufung gerne annimmt. Bei dir ist es zwar keine physikalische oder mentale Veränderung, aber auch ich bin glücklich in meiner Aufgabe. Und wenn ich sage, dass ich klar komme, heißt das, dass ich inzwischen mit meinen Fähigkeiten und meinem Tun zurecht komme. Ich habe keine Angst mehr, jemanden zu verletzen. Ich weiß damit umzugehen, als Engel oder Geist oder Gott gesehen zu werden. Ich weiß, dass ich das alles tatsächlich bin – oder zumindest darstelle. In einer für Menschen verständliche Form. Ich bin angekommen.“
Nun dreht sie sich komplett zu mir und reicht mir ein zweites Mal beide Hände.
„Du bist der einzige lebende Mensch, der mich in beiden Zuständen kennt. Die alte Rebecca ist Geschichte, Tommy. Ich werde sie nie vergessen und bereue keine ihrer Entscheidungen, aber ich bin nicht mehr sie.“
Ich stehe auf und hebe Becci mit hoch. Dann ziehe ich sie an mich und nehme sie in die Arme. Eine Welle reiner Liebe erfasst mich und ich weiß nicht, ob sie von ihr oder von mir ausgeht, aber genauso empfinde ich in diesem Moment aus tiefstem Herzen. Ich fühle mich gerade wie ein Vater, der überraschend feststellen muss, dass seine Tochter erwachsen geworden ist. Dass er sie in ihr eigenes Leben entlassen muss. Ihr Weg vom Menschenkind zur Göttin war kurz aber intensiv. Ich hatte das Glück, sie ein stückweit begleiten zu dürfen. In das kleine Einmaleins des lieben Gottes konnte ich sie einführen, aber nun hat sie ihr Examen mit Bravour bestanden. Ich kann ihr nur noch helfen, indem ich sie bei ihrem Wirken unterstütze.
Hand in Hand gehen wir den Spazierweg entlang. Die Waldluft tut gut, obwohl dieser Park vor vielen Jahrzehnten künstlich angelegt worden ist. Man fühlt sich der Natur näher und die Geräusche der Stadt sind hier kaum wahrnehmbar.
„Claudia hat nie als Mensch gelebt. Sie wurde in einem Reagenzglas gezeugt und sollte wegen falsch ausgeprägter Erbanlagen als Biomüll entsorgt werden.“
Mein Magen zieht setzt zusammen. „Echt jetzt?! Wer macht denn sowas?!“
„Bei künstlicher Befruchtung weiblicher Eizellen wird auf solche Feinheiten nicht unbedingt geachtet“, entgegnet Rebecca auf ihre manchmal etwas sehr deutliche Art. „Es gibt Paare, die keine andere Wahl haben als diese. Es gibt aber auch reiche Eltern, die auf ein besonderes Baby bestehen. Wie Claudia war nicht jeder der vorbereiteten Embryonen der bestellte männliche Thronfolger des Finanzimperiums.“
„Verstehe“, sage ich leise. „Weiß Claudia, dass wir gerade über sie sprechen?“
„Sie weiß es und es war ihr wichtig, dass du ihre Herkunft kennst. Schon wegen ihres damaligen kleinen Durchhängers bei eurer tränenreichen Heulsusen-Party.“
Ich muss lachen. „Da waren wir aber beide sehr nahe am Wasser gebaut. Das weiß ich noch wie heute. Zwei Heulsusen auf großer Fahrt durch das Universum.“
„Ja, unserer Blondine fehlt es in manchen Situationen an Lebenserfahrung. Und das meine ich absolut wörtlich.“
Wir sind inzwischen fast am Ende des Stadtparks angelangt. Ich denke kurz nach. „Hast du Lust auf einen Cappuccino?“, frage ich Becci grinsend.
Auch ihre Mundwinkel ziehen sich nach oben. „Okay, gehen wir zu dir oder zu mir?“
„Da du deine Hütte garantiert schon lange nicht mehr betreten hast, gehen wir besser zu uns. Noch besser wäre es aber, wenn wir dingsen würden. Für unsere Nachbarn sind wir in Urlaub“, antworte ich gut gelaunt. „Wieso bin ich nach all der Zeit eigentlich nicht auf die Idee gekommen, das Dingsen bei einem Namen zu nennen? Ihr alle seid laufend mit mir an andere Orte gehoppelt und ich habe das immer als gottgegeben hingenommen. Julia springt ein einziges Mal drei Meter weit und nennt das dann sofort dingsen.“
Becci schlürft vernehmbar ihren Schaum von der Tasse und meint nur: „Blühende Fantasie vielleicht?“
„Ja, vielleicht“, fällt mir dazu nur ein. Wir haben es uns im Wohnzimmer gemütlich gemacht und flegeln auf dem Dreisitzer herum.
Sie lächelt mich aus ihrer Ecke heraus an und sagt: „Du bist halt der Chronist und Lia ist die Märchentante.“
Ich muss lachen. „Tante? Die Tante wird sich bei dir bedanken, Kindchen.“
„Sie ist ‘ne tolle Frau“, erwidert Rebecca, immer noch lächelnd und fügt an: „Ich mag sie wirklich sehr. Es ist ewig her, dass ich eine echte Freundin hatte.“
„Du kannst dich auf sie verlassen. Immer.“
Ein paar Sekunden stelle ich mir vor, wie sie gerade in der Weltgeschichte herumdingst.
„Aber mal im Ernst; hast du deine Wohnung noch?“
„Nein, Tommy. Die habe ich aufgelöst. Unbekannt verzogen. Vermissen wird mich niemand. Ich bin jetzt eine Sternenreisende. Mit leichtem Gepäck ist man gut unterwegs.“
„Zumal du dir per Fingerschnipp alles herbeizaubern kannst. Iss schon klar“, grinse ich sie an.
„Neidisch?“, fragt sie, ebenfalls grinsend.
„Ganz ehrlich? Nein“, antworte ich, ohne auch nur eine Sekunde nachdenken zu müssen.
„Ich weiß.“
Sie stellt ihre leere Tasse ab, rutscht an meine Seite und legt die Beine auf die Sitzfläche. Dann lehnt sie sich gegen meine rechte Schulter. „Das ist kein Zauber. Das ist Willenskraft. Ich will, dass etwas wird, ich will, dass es passiert – und dann ist es so. Es manifestiert sich. So, wie ich es mir vorgestellt habe. Meine Gedanken werden Wirklichkeit.“
„Ich möchte auch so Vieles. Aber so fest ich auch daran glaube, bei mir passiert es leider nicht“, gestehe ich ein und nehme einen tiefen Atemzug.
„Ich weiß, was du meinst. Ganz genau sogar. Du allein kannst die für dein Vorhaben nötige Energie nicht aufbringen. Noch nicht. Aber vergiss bitte nicht: Ich habe einen unendlich langen Vorsprung vor dir. Du allein schaffst vielleicht manches noch nicht, aber viele von euch gemeinsam können schon eine ganze Menge bewegen. Du kannst nicht immer alles alleine machen. Doch du kannst andere motivieren, es mit dir zusammen zu tun. Sie müssen an etwas glauben. Nämlich an sich selbst. Vielleicht auch an mich, wenn sie etwas brauchen, was größer ist als sie selbst. Ich bin die Summe, das ist so. Aber die Summe ist immer das Ergebnis der Summanden.“
„Jetzt hast du wie La Sola gesprochen. Etwas mystisch, etwas kryptisch, etwas poetisch. Am ehesten kenne ich das von Claudia. Sie kann eine freche Göre sein und einen Moment später eine sehr tiefgründige Frau. ‚Ihr seid ein Teil von mir‘‚ sagte sie einmal. Kann ich etwas manifestieren, Rebecca?“
Becci zieht die Beine an ihren Körper und legt ihre Arme um ihre Knie. „Kennst du die vier fundamentalen physikalischen Wechselwirkungen, Thomas?“
„Ich kann mich dunkel an die starke und die schwache Kernkraft erinnern. Die Schwerkraft gab es auch. Die vierte fällt mir nicht ein.“
„Die elektromagnetische Kraft fehlt in deiner Aufzählung. Aber die ersten beiden sind schon sehr wichtig. Ohne diese beiden Kräfte oder Energien – nenne es, wie du willst – würde kein Atom zusammenhalten. Kein Molekül, keine Materie bliebe am Stück beisammen. Alles würde sich verlieren. Zum Beginn der Schwingung habe ich Materie aus meiner Energie geformt. Du bestehst aus geformter Energie. Jeder Baum, jeder Berg, jeder Ozean, die Erde und die Sonne bestehen aus diesen energetischen Kräften, die sich gegenseitig festhalten. Auch deine Gedanken bestehen aus diesen Energien. Sie sind nur nicht geformt. Sie sind frei.“
Ich sitze nur da und lasse diese Worte auf mich wirken.
„Glaube mir: Die Energie deiner Gedanken hat sehr wohl einen Einfluss auf die Energie der Materie. So wie meine Gedanken diese Materie entstehen ließen und sie geformt haben.“
„Wenn wir Menschen uns zusammentun, könnten wir dann genug Energie aufbringen?“, frage ich nach.
„Ihr könntet so viel erreichen, Claude. So viel. Claudia hat die Wahrheit gesagt: Ihr alle seid ein Teil von mir. Jede Kraft und jede Materie in diesem Universum entstammt meiner Energie. Ich bin jeder Luftzug, jede Wolke, jeder Regentropfen, jeder Strauch, jeder Berg, jeder Stern und jede Galaxie. Ich bin zu gewaltig, als dass du mich erfassen könntest. Ich bin alles, das du berührst. Ich bin alles, an das du denkst. Ich bin du und du bist ich. Nach meinem Bilde. Du bist der Schöpfer – so wie ich der Schöpfer bin. Das habe ich schon immer versucht, euch verständlich zu machen.“
„Du sprichst mich als Physis an, weil ich dich sonst mit meinen Sinnen nicht erkennen würde. Ich sehe dich nicht. Ich sehe eine Couch, eine Kaffeetasse auf einem Tisch, ein hübsches Mädchen und einen alten Kerl im spiegelnden Glas der Vitrine. Ich sehe aber nicht, dass jedes Partikel von alldem du bist. Wer meinen Leib isst und mein Blut trinkt, der bleibt in mir, und ich bleibe in ihm. Materie und Energie. Wow. Episch. Das ist erhellend.“
„Und du bist kein alter Kerl. Ich hab‘ dich lieb.“ Mit diesen Worten dreht sie sich um und drückt mir einen Kuss auf den Mund. Mir bleibt vor Überraschung kurz die Luft weg und sie nutzt das aus und redet gleich weiter: „Lass uns zurück zum See dingsen, mein Held. Die reiselustige Julia in Majikkus Leihgabe kommt gleich wieder zurück.“
Ich nicke wortlos und bereite mich mental auf den Sprung vor.
Die Einzige wird dich leiten – La sola gvidos vin
#lasolagvidosvin – #lasolaicu
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