12b Freude schöner Götterfunken

Wenn du mittendrin anfängst, verstehst du nicht alles: Beginne lieber am Anfang.

„Du kannst dich an Rebecca erinnern?“, frage ich meine Beste, als ich vom Laufen zurückkomme.

„Du meinst die stille Frau im Wald?“, erfolgt die Reaktion aus dem Nebenzimmer.

„Es ist ein Park und kein Wald, Schatz“, entgegne ich, halb in Gedanken. „Da wurden Büsche und Bäume von Landschaftsgärtnern an vorher von Landschaftsarchitekten festgelegten Stellen eingepflanzt, nachdem man die Wege zwischen den noch gar nicht vorhandenen Bäumen bereits fertig gepflastert hat. Das hat Wald aber so gar nichts zu tun.“

„Aber die Menschen fühlen sich wohl und der Natur verbunden“, ruft sie mir hinterher, als ich ins Bad gehe. „Nun meckere nicht auf hohem Niveau. Was ist denn nun mit der Frau im Wald, entschuldige, der Frau im Park? Hast du nicht gestern Abend noch nach dem Rechten gesehen? Ob sie auf der Parkbank pennt, und so?“

„Jetzt sagst du selbst Parkbank. Waldbank würde sich auch ziemlich bescheuert anhören, oder? Aber egal…, heute war der vierte Tag in Folge, wo ich sie getroffen habe. Und sie war wie ausgewechselt. Munter, adrett, fröhlich und gesprächig. Lass mich kurz duschen, dann erzähle ich dir alles.“

Fünfzehn Minuten später fühle ich mich schon viel frischer und dieses Wohlgefühl ist eine deutlich bessere Grundlage, um eine so große Katze aus dem Sack zu lassen.

„Sie war ein komplett anderes Mädchen, die Gute. Dafür hatte ich zunächst überhaupt keine Erklärung, doch auf einmal wurde mir alles klar. Denn da hat sie mich mit Claude angesprochen.“ Dann warte ich die Wirkung meiner Worte ab. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass diese Information nicht leicht zu verdauen ist.

„Rebecca ist La Sola? Und du hast nichts gespürt? Kein Britzeln? Keine Wärme? Keine Energie? Wollte sie dich testen? Oder was?“, reiht Julia Frage an Frage, ohne überhaupt eine Antwort abzuwarten. Ihre Stimme kommt dabei näher und näher und schließlich steht sie mit entgeistertem Gesicht in der Wohnzimmertür.

„Nein, so ist es nicht. Becci war gestern noch gar nicht La Sola. Da war sie noch eine gescheiterte Seele. Erst in der Nacht kam es zu dieser Entwicklung, denn da wurde sie von La Sola wieder ins Leben zurückgeholt. Die beiden haben sich wohl sehr intensiv miteinander beschäftigt und erst danach hat Rebecca sich offenbar entschlossen, eine Physis La Solas zu werden. Magst du dich nicht hinsetzen, Schatz?“

Julia geht zu ihrem Sessel und lässt sich hineinfallen. Ich hole zwei Gläser Wasser aus der Küche und drücke ihr schweigend eins davon in die Hand. „Funktioniert das so? Mit den Physen? Mensch kaputt, Töpfchen für Physis gefunden?“, fragt sie nachdem sie ein paarmal am Glas genippt hat. Ich spüre, dass sie mit dieser Art der Übereinkunft in ihrem Herzen nicht wirklich glücklich ist.

„Das weiß ich nicht“, antworte ich ehrlich, „ich habe Rebecca dasselbe gefragt, aber auch die weiß es nicht. Wahrscheinlich weiß sie es noch nicht. Ich hatte es ja vor längerer Zeit schon einmal angesprochen: Je mehr dieser kleinen und großen Geheimnisse ich erklärt bekomme, desto mehr Fragen stellen sich im Anschluss.“

Doch nun bin ich an der Reihe, einige Erklärungen abzugeben. Ich schildere meiner Liebsten alles, was ich selbst an diesem Morgen erfahren habe. Das dauert eine Weile.

Die Kaffeemaschine röhrt als die Bohnen gemahlen werden. Julia tänzelt um die sich langsam mit Milchschaum füllenden Tassen und singt dabei zu einer selbstgebastelten Melodie: „Sie kommt mich besuchen, ist das nicht fein. Sie kommt mich besuchen, bei mir daheim.“

„Das reimt sich doch überhaupt nicht, Schatz“, ist mein erster Kommentar dazu.“ Außerdem kommst du mit dem Titel ganz bestimmt nicht in den Recall“.

„Du bist ein Kunstbanause, du geschmackloses Monster. Und ein Doofmann. Ich bin doch hier nicht bei einem Talentwettbewerb“, lautet ihre niederschmetternde Bewertung meiner Beurteilung. Doch damit kann ich gut leben. Ich freue mich mit ihr auf ihr persönliches Treffen mit Rebecca. Mit einem Bisschen La Sola, welches für die Menschen auf Erden sichtbar ist. Freitag ist es soweit und Julia kann von Angesicht zu Angesicht mit La Sola sprechen, kann Fragen stellen und ihre Gedanken mit La Sola teilen. Zuvor muss die zukünftige Physis jedoch noch eine rein menschliche Angelegenheit regeln. Dann wird der Prozess der Wandlung sie mehr und mehr vor uns verstecken. Vor dem einen mehr, vor dem anderen weniger.

Julia betritt mit zwei Tassen bewaffnet das Wohnzimmer, stellt mir eine an meinen Platz und setzt sich wieder in ihren Sessel. Diesmal mit deutlich mehr Eleganz als beim ersten mal. „Ich muss sie vieles fragen. So viel. Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Wie machst du das, mit deinen Fragen bei euren Treffen?“

Ich muss lachen. „Abgesehen davon, dass ich nie weiß, wann wir uns überhaupt sehen, stelle ich meistens nur eine einzige Frage. Dann folgt meistens eine einzige Antwort, die zweiundzwanzig neue Fragen aufwirft. Davon schaffe ich dann vielleicht zwei Fragen zu stellen. Im Ergebnis bleibe ich nach jedem Treffen mit zweiundvierzig neuen Fragen zurück. Das ist ein ziemlich guter Schnitt.“

„Tolle Aussichten“, bekomme ich zu hören.

„Mach dir keine Gedanken, Schatz. Schau sie dir an. Berühre sie. Umarme sie. Erkenne die Güte, die von ihr ausgeht. Spüre die Kraft, die Energie, die sie ausstrahlt. Genieße einfach ihre Anwesenheit. Die Fragen fliegen dir zu. Einfach so. Manche Fragen kann sie vielleicht noch immer nicht beantworten, aber sie lässt dich nicht im Dunkel zurück.“ Während meiner Worte stehe ich auf und gehe zu ihrem Sessel. Ich gehe vor ihr in die Hocke, nehme ihre Hände und drücke sie leicht. „Sie ist deine Freundin. Endlich wirst du das Wesen von außen sehen, welches du von innen schon einmal besuchen durftest. Egal, ob Majikku oder Rebecca: Sie sind Eins.“

Ich stehe langsam auf, drücke nochmals ihre Hände und gehe zu meinem Platz zurück.

„Wahrscheinlich ist das tatsächlich das Beste“, sagt sie leise. „Ich lasse es einfach auf mich zukommen. Wenn mir was einfällt, frage ich. Wenn mir nichts einfällt, habe ich eine liebe Freundin zu Besuch und unterhalte mich mit ihr über Kimonos.“

Ich komme knapp an einem peinlichen Missgeschick vorbei, weil ich es gerade eben noch geschafft habe, meinen Kaffee herunterzuschlucken, bevor ich loslachen muss. Julia ist eher nicht begeistert über meinen Ausbruch.

„Sehr witzig!“, beklagt sie sich. „Ich hatte mir tausend Fragen zurechtgelegt. Nur für den eventuellen Fall, dass ich La Sola irgendwann einmal gegenüber stehen würde. Jetzt habe ich nur davon gehört, dass es passieren wird und schon bin ich so aufgekratzt, dass mein Kopf leergefegt ist. Weiß ich am Freitag noch meinen Namen?“

„Das wirst du. Und selbst wenn nicht: Frag Rebecca. Sie kennt deinen Namen.“

„Mann! Wenn ich irgendwann mal Hilfe brauche, erinnere mich bitte daran, dich nicht zu fragen, ja?“

„Julia, bitte hör zu. Du hast nur eine Frage auf dem Herzen. Warum ist Rebecca eine Physis geworden? Nur das bereitet dir Bauchschmerzen. Alles andere ist Nebensache.“

Ein zaghaftes Lächeln huscht über Julias Gesicht. Sie nickt nachdenklich und greift zur Kaffeetasse. „Genau das werde ich sie fragen.“

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