10b Exotische Jahreszeiten

Wenn du mittendrin anfängst, verstehst du nicht alles: Beginne lieber am Anfang.

„Komm mit, Schatz“, sage ich unvermittelt und ziehe meine Beste an der Hand hinter mir her in Richtung der Tür zum Garten. Dort angekommen, bitte ich sie, hinauszuschauen. Julia schaut mich irritiert an. „Und nun?“, fragt sie, als zur selben Zeit ein freundlich lächelnder Kellner meint: „Der Garten ist nur im Sommer geöffnet, tut mir wirklich leid.“

„Danke, ich weiß. Wir wollten nur einen Blick hinauswerfen.“ Dann wende ich mich wieder Julia zu. „Kannst du dir vorstellen, dass ich vor ein paar Minuten hier draußen mit Majikku spazieren gegangen bin? Und zwar in einem blühenden Sommergarten?“

Sie schaut durch die leicht beschlagenen Scheiben und versucht, etwas da draußen zu erkennen. „Ich kann es mir sehr schön vorstellen – im Sommer. Im Moment möchte ich allerdings nicht dort herum flanieren. Aber ich zweifele keine Sekunde daran, dass La Sola mit dem unaussprechlichen Namen den Sommer hierher gebracht hat.“

„Majikku ist der unaussprechliche Name, Schatz.“

„Das klingt schön…, Majikku…, hat der Name eine Bedeutung?“

„Die Magische“, erkläre ich, „und das ist sie ohne jeden Zweifel. Ganz sicher“, bestätige ich meine Aussage. Ich halte Julias Hand, schaue aber immer noch durch die Tür. Ich sehe dort draußen nur graue Bäume, die graue Kälte ausstrahlen. Einen vereisten Weg, auf dessen grauen Bodenplatten keine Spuren erkennbar sind. Ich entdecke die kleine grüne Bank, die mit einer seit Wochen unberührten Frostschicht bedeckt ist. Obwohl wir im warm beheizten Gastraum stehen, kann ich die Kälte geradezu spüren.

„Und doch hat sie ein Zeichen hinterlassen“, sagt Julia in meine kühlen Gedanken hinein.

„Zeichen? Welches Zeichen?“, frage ich überrascht zurück.

„Na, die Blüte unter der grünen Sitzbank dort. Alles ist trüb und eisig dort draußen, nur die Blüte nicht. Ist doch auffällig.“

„Wo ist da eine Blüte, bitte schön?“, hake ich nach, denn ich sehe sie noch immer nicht.

„Claude. Grüne Bank, rechte Seite, vorderer Metallfuß. Die rote Blume da. Die leuchtet doch geradezu aus dem Einheitsgrau heraus“, sagt sie verwundert und zeigt in Richtung der Bank.

Ich suche den Boden um die Füße der Bank ab. Da ist nichts Rotes – und eine Blume oder Blüte schon mal gar nicht. „Sorry, ich bin zu doof, die zu finden“, muss ich gestehen, „geht’s etwas genauer?“

„Du veralberst mich doch jetzt, oder“, fragt meine Beste mit einer Betonung, die nicht amüsiert klingt. Aber es nutzt nichts. Ich schaue sie irritiert an und zucke mit den Schultern. Ich komme mir wirklich bescheuert vor.

Sie greift in ihre Handtasche und kramt ihr Smartphone heraus. Dann zielt sie kurz und es klickt vernehmlich. Sie scrollt auf dem Display herum, um nach den letzten Fotos zu sehen. Sie tappst auf dem Display herum und zieht das Bild auseinander, schüttelt dann den Kopf und sieht wieder aus der Glastür hinaus. „Du wartest hier“, mault sie mich an und verschwindet dann in Richtung der Toilettenräume. Ich stehe dumm da und kapiere rein gar nichts. Eine gute Minute später taucht sie plötzlich im ‚Wintergarten‘ auf und geht schnurstracks zu der kleinen Bank hinüber.

Während ich mich noch wundere, wie sie es geschafft hat, in den Garten zu gelangen, hat sie die Bank auch schon erreicht, bückt sich und streckt ihre Hand aus. Etwas rot leuchtendes in ihren Händen sehe ich noch. Dann geht alles ganz schnell. Der kleine rot leuchtende Ball dehnt sich aus. Das Tempo der Ausdehnung nimmt mit der Größe der Kugel immer mehr zu und breitet sich geradezu explosionsartig von Julia ausgehend in alle Richtungen aus. Ich sehe nichts anderes mehr, als diese rote Wand, die wie eine Feuerwalze auf mich zu rast. Nur einen Augenblick später werde ich von der sich immer noch glühend aufblähenden Woge erfasst. Einen Moment lang sind meine Netzhäute völlig überlastet und danach kann ich kann nur noch blaugrüne Schleier wahrnehmen. Dann schält sich langsam wieder das Bild des Gartens heraus. Julia sitzt unbeweglich auf der eisigen Bank und schaut mich mit großen ungläubigen Augen an. Sie hält etwas Dunkles in den Händen. Schließlich steht sie auf und geht, ohne mich noch einmal anzusehen, in die Richtung zurück, aus der sie kam.

Es hält mich nicht mehr an meinem Platz und ich renne, einen erschrockenen Kellner umkreisend, durch das Lokal zu den Waschräumen. Hinter mir scheppert etwas. Ich weiß nicht, wer den längeren Weg hatte, aber Julia kommt in dieser Sekunde durch eine unscheinbare graue Tür seitlich der Toiletteneingänge herein. Ich bremse meinen Lauf und wir gehen langsam aufeinander zu. In ihrer linken Hand liegt eine verwelkte Blüte, bei der man erahnen kann, dass sie einmal rot war. „Beim letzten Mal ist mir aufgefallen, dass die Mitarbeiter hier eine Zigarette rauchten und ich konnte den Garten durch den Türspalt sehen“, sagt sie nur und trägt ihre Trophäe wie ein heiliges Artefakt vor sich her.

„Du löst hier eine Feuerwalze aus und das erste was du dazu sagst, ist, dass du die Kellner beim Rauchen erwischt hast?“, frage ich sie entgeistert. „Was, um alles in der Welt, war das da gerade?“

„Es waren eher Köche, würde ich sagen. Sie trugen weiße Kleidung und weiße Mützen.“

„Schatz, komm mal zu mir“, sage ich und will meine etwas verdatterte Frau in den Arm nehmen, sie aber wendet sich blitzschnell zur Seite und schützt die Blüte mit ihrer Schulter. „Hol bitte eine Serviette, Claude“, sagt sie, „ich möchte die Blüte einwickeln.“

Sie meint es ernst. Ich lasse meine Julia im Vorraum zurück und eile zur Kochecke. Das Restaurant liefert auch außer Haus und so muss es auch etwas Besseres als Servietten geben. Die müssen den Reis ja irgendwo einpacken. Ich sehe einen Stapel dieser Dinger auch schon hinter der Theke herumstehen und nach ein paar netten Worten ist der Mitarbeiter schnell zur Abgabe bereit. Mit diesem Behälter flitze ich wieder zurück zum Vorraum und Julia packt ihre Blüte vorsichtig hinein. Sie schaut mich dankbar lächelnd an.

„Gehen wir wieder zum Tisch?“, fragt sie mich dann unvermittelt – und ohne meine Antwort abzuwarten, geht sie auch schon los. Irgendwie komme ich mir heute etwas ignoriert vor. Sonderbare Dinge passieren, meine Frau löst Energiewellen aus, meine Fragen verpuffen im Nirwana und von der welken Blüte in der Reisschachtel rede ich erst gar nicht. Aber es scheint mir das Beste zu sein, erst einmal hinterherzulaufen. Alles weitere wird sich klären, hoffe ich.

Nachdem wir Platz genommen haben, muss ich mich kurz sammeln. Unsere Getränke stehen bereits am Platz, was nach der verstrichenen Zeit auch zu erwarten war und ich gönne mir direkt einen großen Schluck. Mein Hals ist trocken und gierig leere ich mein Glas bis zum letzten Tropfen. Das passiert mir eher selten.

Julia hingegen beachtet ihr Glas überhaupt nicht und greift wieder zum Smartphone. Sie sieht mich entschuldigend an und sagt: „Nur ein paar Minuten. Ich muss mir etwas notieren. Sonst vergesse ich es vielleicht. Bestell doch einfach schon mal, ja?“

Ich brauche ein paar Sekunden, um mich zu erinnern. Für mich ist es ja schon eine Weile her, dass wir ins Lokal kamen. Und was dann noch alles geschehen ist, war auch eher ablenkend. Ich habe unsere Gerichte vergessen. Buffet, fällt mir ein. Wir holen unser Essen einfach selbst. Auch gut. Trotzdem kommt eine Kellnerin an unseren Tisch, der mein Getränkemangel aufgefallen ist. Sehr gut.

Sehr interessiert beobachte ich aus den Augenwinkeln Julias Blicke, die zwischen der jungen Frau und mir hin und her huschen, als ich die Bestellung aufgebe. Möglicherweise lauert sie darauf, dass diese Kellnerin etwas mehr ist als nur eine Angestellte. Aber als nichts passiert, richtet sich ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihr Telefon.

„Sie wirkte recht jung“, sagt Julia, ohne den Blick vom Smartphone abzuwenden. „Majikku, meine ich“, ergänzt sie noch, damit ich weiß, dass es nicht um die wirkliche Kellnerin geht.

„Hast du so viel erkennen können? Das ist aber weit mehr als nur ein rotes Schemen“, entgegne ich erstaunt.

„Oh, du glaubst nicht, was alles passiert ist, Schatzi. Ich muss nur noch zwei, drei Sätze aufschreiben. Und ich habe einen Riesenhunger.“

„Ich besorge eine Suppe“, sage ich mehr zu mir selbst und stehe auf, um genau dies zu tun. Mein Magen hängt auf dem Teppich und ich muss gestehen, dass ich mir unser Essen anders vorgestellt habe. Jetzt, wo ich schon mal am Buffet stehe und die Düfte meinen leeren Bauch noch mehr anregen, mache ich, halb in Gedanken, auch gleich noch zwei Teller für die Teriyaki-Grilltheke fertig und platziere sie an der Annahmestelle. Dann bestücke ich noch zwei kleine Teller mit ein paar Sushi und kümmere mich schließlich um die Suppe. Ich hoffe, dass ich das alles tragen kann. Das Grillgut wird ja zum Glück an den Tisch gebracht.

Dass Majikku plötzlich aufgetaucht ist, war die erste Überraschung. Üblicherweise geht ja keine Tageszeit verloren, wenn ich mit La Sola spreche und so ist auch nur mein Hunger etwas größer geworden. Keine schlechten Voraussetzungen bei einem Restaurantbesuch. Nach so einer Begegnung rede ich dann gern mit Julia, um das Erlebte besser aufarbeiten zu können und, nicht ganz unwichtig, um sie auf den neuesten Stand zu bringen. Auch bis dahin lief es eigentlich ganz gut, denn Julia war zufällig anwesend.

Aber heute bin ich damit nicht sehr weit gekommen. Stattdessen sieht meine Frau Blumen, wo keine sind, entzündet eine rote Energieladung, wird dann zur Blütensammlerin und nun schreibt sie einen Roman. Was ich mit Majikku erlebt habe, scheint sie im Moment überhaupt nicht zu interessieren. Ärgert mich das etwa? Und, falls ja, warum? Ich kann diese Empfindung gerade nicht einordnen. Heute ist ein seltsamer Tag. Mir passiert etwas, was sonst kaum einem anderen Menschen auf der ganzen Welt passiert. Aber es ist nicht das erste Mal geschehen. Es ist ein schon bekanntes Gefühl für mich. Julia hingegen hat gerade ein geradezu mystisches Erlebnis gehabt, welches sogar für einen ‚erfahrenen Götterboten‘ wie mich einen neuen Höchstwert auf der nach oben offenen La-Sola-Skala markiert. Und ich habe nicht den Hauch einer Ahnung, was wir da vorhin erlebt haben.

Nachdem ich die zwei Suppenschalen mitsamt Porzellanlöffeln sowie zwei zwischen die Finger geklemmte Teller unfallfrei an unseren Platz befördert habe, baut sich die Spannung wieder auf. Ich glaube, dass ich in diesem Moment zum ersten Mal erahne, warum meine Beste immer so aufgedreht reagiert, wenn ich ihr von einer neuerlichen Begegnung mit La Sola berichte. Ich will, dass sie mit dem blöden Tippen aufhört und mir endlich erzählt, was denn jetzt so verdammt viel passiert ist.

Jetzt scheint sie fertig zu sein und ihren Text nur noch schnell zu überprüfen. Ich hänge an ihren Lippen und das Warten auf ein erstes gesprochenes Wort zerrt an meinen Nerven. „Hallooooo. 6a und 6c?“, kommt da von hinten und ich zucke dermaßen zusammen, dass es mir schon bald peinlich ist. Muss dieser bekloppte Kellner ausgerechnet jetzt mit seinen Scheißtellern hier aufschlagen? Mein Herzschlag setzt wieder ein, ich schlucke einmal und sage „C bitte zu mir“. Der junge Mann stellt Julia ihren A-Teller und mir meinen C-Teller hin, sagt lächelnd „Guten Appetit“ und ist auch schon wieder verschwunden.

Normalerweise bin ich überhaupt kein schreckhafter Typ, aber dieser lächerliche Vorfall hat mich jetzt echt gefordert. Zumindest sind meine Nerven dadurch irgendwie auf ,Reset‘ gesprungen und der Geruch, der mir gerade in die Nase steigt, trägt auch seinen Teil dazu bei, dass ich, schon deutlich ruhiger, einen Happen von meinem Tellerchen esse. Zum ersten Happen gesellen sich die nächsten und auch meine Suppe kommt nicht zu kurz.

Das herzhafte „So! Fertig!“ meiner Angetrauten lässt eher unsere Tischnachbarn aufhorchen als mich, was auch Julia bemerkt und sie dazu veranlasst, die Wangen kurz aufzublasen. Ihr nächster Blick geht auf meinen Teller. „Ich arbeite hier und du futterst. Super.“

„Schließlich warst du beschäftigt und ich hatte Hunger“, antworte ich. „Daran solltest du jetzt auch so langsam denken. Das Essen wird ja nicht wärmer. Abgesehen davon sind wir hier in einem Restaurant und da macht man so was.“

Sie grinst mich an und greift zu ihrem Besteck. Ein kleiner Blick in die Runde zeigt ihr, dass unsere Tischnachbarn wohl gerade beim Bezahlen sind. „Stimmt. Hmmm, gute Auswahl, Schatzi“, kommt noch aus ihrem Mund, bevor ein Leckerbissen ihn verschließt.

Nach dieser ersten Vorspeise sind keine anderen Gäste mehr in unserer direkten Umgebung. Julia legt ihr Besteck zur Seite und sieht mich an. „Als wir vorhin vor der Glastür standen, sah ich eine rote Blume an der Bank liegen. Das meinte ich, als ich von einem Zeichen sprach, welches Majikku hinterlassen hat. Ich hatte nur nicht begriffen, dass es ein Zeichen für mich ist, also dass ich die Einzige bin, die es sehen kann.“

„Da war wirklich eine Blume? Du hast sie gesehen und ich nicht?“ Ich lege meine Hände sanft auf ihre. „Es tut mir leid, dass ich an dir gezweifelt habe. Ich dachte, du bildest dir da was ein.“

„Ich war mir doch selbst nicht sicher. Deshalb habe ich die Blüte ja auch fotografieren und dir zeigen wollen. Aber sie war nicht auf dem Bild.“ Sie zieht ihre Hände unter meinen Weg und fingert an ihrem Telefon herum. Dann zeigt sie mir das Foto, das sie geschossen hat. Genauso wie auf dem Display habe ich es vor Augen: keine Blume. „Ich dachte, ich spinne“, setzt sie ihre Schilderung fort, „Durch das Glas konnte ich sie sehen, auf dem Foto nicht. Dann erinnerte ich mich an die Hintertür und wollte es wissen. Aber mit dem, was dann geschah, habe ich in tausend Jahren nicht gerechnet.“

Sie nimmt einen großen Schluck von ihrem Getränk und blickt auf ihren leeren Teller. Dann fragt sie mich: „Was macht man doch gleich in einem Restaurant?“ Ich muss lachen. Aber wo sie recht hat, hat sie recht. Ich glaube, wir haben noch nie so viel Zeit in einem Restaurant zugebracht, ohne uns ums Essen zu kümmern. Ich ziehe sie von ihrem Sitz noch und wir gehen gemeinsam zum Buffet, um uns eine kleine Sammlung verschiedener Gerichte auf unsere großen Teller zu nehmen. Zurück am Tisch tun wir das, was man in einem Restaurant halt so tut – und das ist richtig lecker.

Nach diesem zweiten Gang und einer weiteren Getränkerunde sagt Julia: „Du hast mir damals von Kamato erzählt, nicht wahr?“

Dieses Erlebnis werde ich nie vergessen: Cassandra hatte mich in den Körper eines jungen Jägers gesendet. Ich konnte fühlen, was Kamato fühlte, konnte mit seinen Sinnen sehen und hören, ich spürte seine Ängste, seine Hoffnungen und seine Freude. Aber ich war nur zu Gast in seinem Geist. Er lebte dort sein Leben, aber es fühlte sich so an, als sei ich er. Es war ein faszinierendes Erlebnis, jemand anderes zu sein. Mir war schon bewusst, dass ich Claude bin, aber ich bin in diesem Moment in Kamato aufgegangen. Ich war ein Teil seines Geistes und er hat mich nicht einmal bemerkt.

„Wie kommst du jetzt auf Kamato?“

„Als ich an der kleinen Bank ankam, sah ich die Blüte sofort. Ich konnte sie gar nicht übersehen“, antwortet Julia. „Ich wollte sie aufheben, spürte aber ein Kribbeln in den Fingern und zog sie schnell zurück. Da begann sie zu leuchten. Das Kribbeln fühlte sich aber eigentlich nicht böse an und so hob ich die Blüte schließlich doch auf. Ich hielt sie mit beiden Händen fest und setzte mich auf die Bank.“ Julia nippt kurz an ihrem Bitter Lemon und setzt ihre Erzählung fort. „Ich kann es nicht wirklich in Worte fassen, aber das sanfte Kribbeln fühlte sich an, als wenn es mich erforschen wollte. Ich schloss die Augen, lehnte mich an und ließ das Kribbeln zu mir herein. Da geschah etwas mit mir. Ein roter Schein umfing mich. Ich verlor für einen Augenblick die Orientierung. Mir wurde schwindelig und ich hatte kein Gefühl mehr für oben und unten oder sonst eine Richtung. Aber dann lichtete sich das rote Wallen auch schon wieder und ich sah dich neben mir.“

„Mich? Ich komme in deiner Erscheinung vor? Jetzt machst du mich aber neugierig, Schatz“, schießt es aus mir raus, aber Julia lächelt nur und erzählt weiter.

„Ich höre eine Stimme und während ich dieser Stimme zuhöre, stelle ich fest, dass ich selbst es bin, die da redet. Ich sage: ‚Ob du‘s glaubst oder nicht: Ich wollte dir echt nur den Kimono unter die Nase reiben. Nicht böse sein, ja?‘ Aber ich weiß gar nicht, warum ich das zu dir sage.“

„Das ist genau das, was Majikku mir zu Beginn unseres Spaziergangs sagte“, falle ich ihr ins Wort.

„Das wurde mir auch schnell klar, als ich deine Antwort hörte: ‚Ich könnte dir niemals böse sein, kleine Majikku‘, sagtest du mit einer belegten Stimme. In dieser Sekunde fiel mir Kamato ein. Du, in einem fremden Körper. Verstehst du?“ Ich nicke nur fasziniert, denn ich verstehe genau, was sie ausdrücken will. Und sie erzählt weiter: „Ich rede mit dir und spreche Worte, die nicht meine Worte sind, die ich aber aus meinem Mund kommen spüre. Meine Stimmbänder vibrieren und ich höre mich diesen nächsten Satz sagen: ‚Du bist mir wirklich wichtig, Claude‘. Das bist du ja wirklich, aber ich bin nicht die, die sich diese Worte ausgedacht hat. Das war Majikku – nur bin ich gerade Majikku. Ich stehe neben dir. Ich trage einen roten Kimono. Ich fühle ihn auf der Haut. Ich sehe ihn an meinen Armen. Ich fühle die Sommerwärme. Und ich nehme wahr, wie aufgewühlt du in diesem Moment bist. Das tut mir sehr leid, denn ich weiß, dass ich die Ursache dafür bin. Dabei habe ich meine Frage doch nur nett gemeint. Ich möchte keinen Standesunterschied zwischen uns, wenn wir zusammen sind. Um dir das zu verdeutlichen, nehme dich an der Hand und ziehe dich einfach mit. Ich will mit dir schlendern, wie damals am See, als Claudia. Das war sehr schön und ich liebe es. Ich denke an Julia, die kleine Vogelfrau, die uns im Traum dabei gesehen hat und ich denke daran, dass sie jetzt gerade in mir ist und das alles miterlebt. Das macht mich froh. Anders als im Halbbewusstsein haben wir uns noch nicht treffen können. Doch ich weiß, dass sich das ändern wird. Nicht wie mit Claude, aber auch sehr intensiv. Ich liebe dich, Julia.“

Meiner Frau fließen Tränen über ihr Gesicht, aber sie ist glücklicher als je zuvor. „Ich, Majikku, denke über mich, Julia, nach. Und ich freue mich auf mich. Das ist so verrückt. Ich kann fühlen, was ich für mich empfinde.“

Ich nehme sie an beiden Händen und drücke sie zärtlich. „Man könnte manchmal wirklich durchdrehen. Aber sie macht das mit einer so entwaffnenden Leichtigkeit, dass man sich immer sicher und geborgen fühlt.“

„Ich hab’ immer noch Hunger“, meint sie plötzlich, „Komm, dritte Runde.“

Sie steht auf und zieht mich an den Händen mit, wie ich sie zuvor. Also machen wir uns auf den Weg zu den Theken und schlagen zu. Nachdem uns auch diese Runde geschmeckt hat und eigentlich nur noch der köstliche Nachtisch auf dem Programm steht, nutzt sie die Gelegenheit, um weiter von ihrem Erlebnis zu berichten.

„Naja, zumindest muss du mir heute nicht erzählen, was du mit Majikku erlebt hast und worüber ihr so gesprochen habt. Das weiß ich alles schon. Obwohl auch das ziemlich bescheuert ist, denn als ich nach eurem Treffen an diesen Tisch kam, wusste ich es noch nicht. Erst, als du mich zur Glastür gezerrt hast, wurde das alles eingeleitet. Ich habe Majikkus Zeichen sehen können und das Schicksal nahm seinen Lauf. Eigentlich habe ich euer Treffen ‚nacherlebt‘. Wie geht das?“

„Raumzeitding“, sage ich kurz und trocken. „La Sola kann durch den Raum und durch die Zeit wandern. Wahrscheinlich hat sie dich einfach während des roten Leuchtens zu uns in die Vergangenheit geholt und danach wieder in der Gegenwart abgesetzt. Ist aber nur eine Vermutung von mir.“

Julia sieht mich an, als wenn ich ein Geweih hätte. Aber hinter ihrer Stirn rattert etwas. „Verrückt“, sagt sie nur. „Aber eines weiß ich leider nicht: Wie Majikku aussieht. Ich habe sie nur von innen erlebt.“ Sie schlürft gerade an ihrem Strohhalm, als ihr spontan noch etwas dringendes einfällt: „Mmmhh, wichtig: Ein paar Gedanken hat sie noch mit mir geteilt. Das waren die Sätze, die ich vorhin notiert habe. Ich zeige es dir zuhause.“ Dann beginnt sie auf einmal frech zu grinsen. „Hey, ist das nicht toll? Ich weiß etwas, was du nicht weißt“, singt sie mir ein Kinderlied vor, was mich schmunzeln lässt. Ich freue mich, dass es so ist, dass La Sola sie zum ersten Mal richtig einbezogen hat. Sie war nicht nur dabei, sondern sie war ein wichtiger Teil der Begegnung.

„Nachtisch?“, frage ich nach.

„Bevor oder nachdem du deine Regierung losgeworden bist?“, kommt die schlagfertige Antwort.

„Auf jeden Fall vorher, Julia-Chan, sonst wird das so bald nichts mehr mit der Kalorienbombe.“

Und Julia wirft mir einen Luftkuss zu.

 

Anmerkung:

In der Ursprungsversion hatte ich die ‚geteilten Gedanken‘ zwischen Majikku und Julia nicht in das Gespräch ‚Über die Kinder La Solas‘ eingebracht. Nun wisst ihr, dass diese Zeilen existieren. Darum habe ich sie in Majikkus Aussage an der von ihr gewünschten Stelle eingefügt, obwohl ich selbst sie nicht gehört habe. Ich vertraue.

Die Zeilen lauten: „Bewahrt eure Unterschiedlichkeit. Bewahrt eure Wertvorstellungen. Lasst euch nicht Vereinheitlichen. Gleichwertig sollt ihr sein, das ist richtig, aber nicht gleichartig. Ja, Unterschiede erzeugen Spannungen, aber das ist gut so. Denn eine Feder ohne Spannung besitzt keine Kraft. Lernt, diese Kraft positiv zu nutzen. Respektiert all eure Unterschiede. Respektiert euch gegenseitig. Lasst aber zusammenfließen, was zusammenfließen will. Das können Gegensätze, genau wie Gleichheiten sein. Zwingt jedoch nichts zueinander, was nicht zusammenfließen will. Dann ist es noch nicht an der Zeit. Früher oder später wird alles von allein fließen. Unterdrückt euch niemals. Achtet euch, auch wenn ihr anderer Einstellung seid. Nur eine freie Menschheit, bestehend aus freien Menschen mit freien Gedanken hat eine Chance, die Zukunft zu erleben.“

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