Wenn du mittendrin anfängst, verstehst du nicht alles: Beginne lieber am Anfang.
Nun ist er also da: Der bärtige alte Mann, auf den mich Claudia schon beim ersten Treffen beiläufig hingewiesen hat. Den Namen ‚Claudia‘ als Oberbegriff für den Schöpfer kann ich definitiv knicken. Das steht nun definitiv fest. In Isaaks Fall wäre ‚Jehova‘ ganz toll gewesen, aber das hätte wieder nicht zu Cassandra und Claudia gepasst. Und abgesehen davon wird Jehova ja eigentlich auch schon anderweitig verwendet. Außerdem klingt Jehova, genauso wie der ursprünglichere Name ‚Jahwe‘ auch, absolut unmodern.
Nein, ich brauche etwas Neues, da hat meine Julia schon recht. Ich denke ja auch schon eine Weile darüber nach, doch die meisten cool klingenden Namen sind schon irgendwo besetzt. Entweder im öffentlichen Leben oder im Internet, in den sozialen Netzwerken oder von der sich alles einverleibenden Werbewirtschaft.
Kommt Zeit, kommt Name, denke ich und nehme mir vor, bei Gelegenheit ein paar Übersetzungen von Gott, Schöpfer, Allmächtiger oder dem Alleinigen in verschiedenen anderen Sprachen zu auszuprobieren. Etwas Internationales wäre ganz toll. Noch besser wäre international und geschlechtsneutral. Schließlich habe ich bereits mit zwei Frauen und einem Mann geplaudert, hinter denen sich ‚die schöpferische Kraft‘ verborgen hat. Ich bin der festen Überzeugung, dass Gott ein reines Geistwesen ist, welches unseren Regeln der Biologie und der materiellen Physik überhaupt nicht verpflichtet ist. Er oder Sie oder Es hat sich diesen ganzen Kram doch ausgedacht. Alle unsere Elementarteilchen, Quarks, Leptonen, Atome und Moleküle, sind der Baukasten der schöpferischen Kraft. Damit spielt diese Kraft, wenn sie Lust dazu hat. Aber wenn ich ein Holzauto bastele, muss ich doch nicht selber aus Holz sein, oder?
Zuhause angelangt, sitze ich immer noch im Auto und denke nach. Ich glaube, es ist nicht die Aufgabe eines Menschen, herauszufinden was Gott ist. Verstehen würde ich es wahrscheinlich sowieso nicht. Mir reicht es erst mal, dass es diese schöpferische Kraft gibt. Aber fragen werde ich trotzdem danach, denke ich gut gelaunt. Ich greife mir meine Tasche, steige aus und gehe ins Haus, um meine bessere Hälfte zu begrüßen.
Einige Zeit später, nachdem wir zu Abend gegessen hatten und nun gerade das Geschirr wegräumen, erzähle ich Julia von meiner jüngsten Begegnung: „Ich war heute in der Wüste, Schatz.“
„In der…, was?“, fragt sie verwirrt und scheint wohl zu glauben, sich verhört zu haben.
Ich lache und kläre sie auf. „Du hast schon ganz richtig verstanden. Ich bin heute auf dem Rückweg mal wieder in einen Stau geraten, wartete auf den nächsten Schub und Schwupps – stand ich mitsamt dem Auto in der Wüste.“
„Juhu, das wird wieder spannend“, juchzt sie spontan, zieht mich hinter sich her zum Wohnzimmer, schubst mich auf die Couch und eilt an ihren Platz. Stutzt, huscht wieder in die Küche und Sekunden später ist sie mit Gläsern und Getränken wieder zurück. Sie gießt uns etwas ein, lümmelt sich auf die Couch, legt ihre Füße auf meinen Schoß und sagt: „Fang an.“
„Mit Füße massieren?“, frage ich. „Na, das ist ja wohl selbstverständlich. Und jetzt erzähl schon von Claude und der Wüstenbraut.“
„Von wegen ‚Braut‘. Schwiegervater passt deutlich besser“, berichtige ich sie. Ich grinse ihr ins verdutzte Gesicht und beginne zu erzählen.
Von Isaak am wärmenden Lagerfeuer und von seinem köstlichen Tee, dessen Kanne über Stunden nicht leer werden wollte. Von der Wüste, die nicht auf unserer bekannten Erde lag. Von meiner Frage zu religiösen Bekleidungsvorschriften und seinem Exkurs in die Genetik der Menschen. Zur Evolution und zur Mutation. Zur Flexibilität unseres Körpers und unseres Geistes. Zum Baukasten der Natur, den er für alles Leben bereitgestellt hat, mit dem die Menschen aber, mangels besseren Verständnisses, viel zu oberflächlich umgehen und sich dennoch wie Götter fühlen. Und von seinem Schmunzeln, als ich unsere fortwährenden Debatten über den Rassismus und die politische Korrektheit zur Sprache brachte.
„Isaak hast du ihn genannt? Klingt biblisch, auch wenn du Isaak Newton im Kopf hattest, nicht wahr?“, fragt Julia mich.
„Ja, schon, aber darüber habe ich nicht nachgedacht“, antworte ich ehrlich.
„Ist ja auch okay, Schatzi, es fiel mir nur auf. Aber nun hast du auch eine männliche Version von ‚Ihr‘ getroffen. Also ist der liebe Gott doch keine Frau. Eigentlich schade. Das wäre nämlich ein richtiger Hammer auf die Schädel der Männergesellschaft gewesen“, sagt sie und verzieht ein wenig missmutig den Mund.
„Stimmt schon, aber ein Mann ist er – oder sie – ja nun auch nicht ausschließlich, oder?“, spende ich meinen, nicht ganz ernst gemeinten Trost und zaubere damit ein, ebenso wenig ernst gemeintes, Lächeln auf ihr Gesicht.
„Und ihr wart nicht auf der Erde, sagst du?“
„Ich weiß nicht. Habe auch vor Verblüffung nicht nachgefragt“, entgegne ich, „Es klang aber für mein Gefühl nicht so, als dass wir auf einer anderen Welt waren. Nicht die Erde, wie ich sie kenne, sagte er. Also eine andere Erde – oder doch unsere eigene, aber zu einer anderen Zeit. Julia, das ist Gott – oder wie immer du ihn nennen magst. Wer weiß, welche Möglichkeiten er hat. Zukunft, Vergangenheit, Paralleluniversum – keine Ahnung. Aber das war mir in diesem Moment auch egal.“
„Das ist verständlich. Ich weiß nicht, wie ich mit der ganzen Situation umgehen würde“, sagt sie, schon beinahe tröstend. „Aber ich finde es toll, wie einfühlsam und sachte er dich in seine Welt einführt. Ich durfte dieses Gefühl von Liebe und Güte ja selbst erleben, das mich plötzlich erfüllte, als ich mich aus zehn Meter Höhe hasserfüllt auf Claudia stürzte. Und sie mir mit wenigen Worten meine Panik nahm und mir klarmachte, dass Vögel fliegen können.“
„Du hättest mich einweisen lassen, wenn sie dir nicht im Traum erschienen wäre“, muss ich lachend feststellen.
„Möglich“ grinst sie ein wenig hinterhältig. „Sie wusste aber wohl auch, dass du es mir erzählen würdest. Mann, ich sage immer noch ‚sie‘, obwohl du heute ja eher eine Herrenrunde hattest“, ärgert sie sich über sich selbst. Oder vielleicht immer noch darüber, dass Gott doch keine Frau ist?
„Ja, fast genauso hat er sich auch ausgedrückt“, fällt mir wieder ein.
„Ach nee, Kerle unter sich“, witzelt Julia und versucht, ein echt männliches Gesicht zu ziehen. „Bäh, lass das“, bremse ich sie, „Du hast ohnehin schon mehr Eier als die meisten Kerle.“
„Ich fasse das als Kompliment auf“, antwortet sie und neigt, sich bedankend, den Kopf. „Hey, du sollst meine Füße nicht wärmen, sondern massieren – oder zumindest kraulen, ja?“, erwischt sie mich, nicht zum ersten Mal, und ich starte meine Handarbeiten wieder.
„Er hat sich also über unseren politisch korrekten Umgang mit verkrampften Bezeichnungen für die verschiedenen Varianten der menschlichen Erscheinungsformen auf unserem Planeten amüsiert?“, fragt sie mit absolut ernster Miene.
„Was war das denn für ein Satz?“, entgegne ich verdutzt.
„Na, ein politisch korrekter, hoffe ich doch. Oder habe ich wieder irgendeine Feinheit übersehen?“, fragt sie grinsend.
„Nein, ich glaube nicht“, antworte ich nach kurzem Nachdenken, „Aber genau das hat er gemeint. Wir winden uns um Begrifflichkeiten. Dürfen nichts sagen, was irgendjemand falsch auffassen könnte. Reden deshalb oft um den heißen Brei herum. Treffen keine klare Aussage mehr, weil alles verwaschen und unscharf wird.“ Ich spüre Julias Hand auf meiner. Sie hat sich vorgebeugt, während ich mich ereiferte. Es beruhigt mich und deutlich ruhiger spreche ich weiter: „Dabei geht es doch nie nur um Worte, sondern immer um den kompletten Zusammenhang. Jedes Wort kann zur falschen Zeit böse oder diskriminierend gemeint sein – oder auch nur so aufgefasst werden.“
„Ja“, wirft sie ein, „die Menschen verstehen das, was sie verstehen wollen.“
Ich nicke ihr zu. „Vor allem, weil wir durch diese überzogene politische Korrektheit ja geradezu angespitzt werden, jede Bemerkung eines anderen unbewusst darauf abzusuchen, ob die Worte denn vielleicht verdächtig sein könnten. Wir suchen ja geradezu danach.“
„Wie war das? ‚Geoklimatische Ausprägung in einer Spezies‘?“, fragt sie unerwartet und lächelt mich an.
„So ähnlich, ja“, bestätige ich.
„Da fällt mir noch etwas ein“, erwähnt sie dann, „Du hattest Isaak ja nach Zuchttieren gefragt. Ob die Rassen bei den Nutztieren nicht nur durch menschlichen Einfluss entstanden sind.“
„Stimmt“, bestätige ich erneut.
„Denk einmal zurück an die alten Adelsgeschlechter. Da wurden auch viele Ehen arrangiert. Auch dabei haben die Eltern nur auf Standesreinheit geachtet. Und auch dadurch sind schlimme Erbkrankheiten gefördert worden. Also, in Sachen ‚Zucht und Selektion‘ haben die Menschen auch bei ihren Artgenossen keine Hemmungen gehabt. Wie dumm“, schließt sie und verzieht die Mundwinkel.
„Nun, sie wussten es aber auch nicht besser. Sie dachten, dass sie die guten Eigenschaften weitervererben“, verteidige ich diese Handlungsweise, muss sie aber direkt wieder relativieren. „Allerdings stellt sich natürlich auch die Frage, was die damals als gute Eigenschaft angesehen haben.“
„Wobei“, ergänzt Julia, „auch heutzutage noch immer Ehen arrangiert werden.“
„Manche lernen es halt nie, Schatz. Daran änderst du nichts“, erwidere ich, „Wobei…, genau das muss ich tun; etwas ändern. Mit kleinen Schritten etwas ändern. Das ist ein Teil meiner Aufgabe, denke ich.“
„Das sehe ich ähnlich, Schatzi“, bestätigt sie meine Vermutung, schwenkt aber gleich wieder zurück zu Isaak. „Aber trotz allem verachtet er Rassismus jeder Art, indem er sagt, dass all diejenigen, die bestimmte Menschen aufgrund irgendeiner Eigenart als höherstehend bewerten, bei ihrer Heimkehr ihr blaues Wunder erleben werden – und dass alle Menschen gleich wertvoll sind, gerade weil sie unterschiedlich sind. Das finde ich gut. Auch, wenn ich mir unter ‚Heimkehr‘ nichts vorstellen kann. Was ist das?“
„Keine Ahnung. Ich habe ein wenig Angst davor, ihn danach zu fragen. Das hat etwas von ‚zurück in den Himmel‘ – oder die Hölle. Ich warte erst mal ab, ob er von sich aus darüber sprechen mag.“
„Verständlich, ich habe bei diesem Wort auch eine Gänsehaut gespürt“, gibt sie mir recht, was mich etwas beruhigt, weil ich mir nicht mehr so sehr wie ein Weichei vorkomme. „Aber wie ging es denn nun weiter?“, fragt sie mich. „Du wolltest doch etwas über diese Kleiderordnung wissen, nicht wahr?“
„Bekleidungsvorschriften, Schatz“, berichtige ich sie. „Ich erzähle jetzt weiter.“
Ihre Zehen wackeln zwischen meinen Fingern und ich fasse das als Aufforderung zum Kraulen auf.
Also erzähle ich von den Bekleidungsvorschriften, die Isaak zu meinem Erstaunen gar nicht erlassen hat. Von den Völkerwanderungen, mit denen die Umweltanpassung der Menschen nicht mithalten konnte und die zweckdienliche Bekleidung erforderte, zu deren Gestaltung Isaak dann Tipps gab. Davon, dass sich die jeweils Herrschenden und Besitzenden viele angebliche Gottesbefehle nur ausgedacht haben, um bestimmte Kleidungen und Verhüllungen zu diktieren. Von Herrinnen und Sklavinnen. Von Herren und Sklaven. Von Männern und Frauen.
„Ich finde das herrlich befreiend“, sagt Julia. „Ihm ist es herzlich egal und wir können ab sofort tragen, was wir wollen. Ist doch toll.“
„Ich bin mir nicht sicher, was die Polizei davon hält, wenn du mit einer Serviette bekleidet in ein Einkaufszentrum gehst“, antworte ich platt – und zu einem ungünstigen Zeitpunkt, denn Julia hatte gerade einen Schluck Wasser genommen und muss jetzt verzweifelt ein Losprusten unterdrücken.
„Du bist so doof, Mann!“, bekomme ich die Quittung, als sie ihre Atemwege wieder leidlich unter Kontrolle hat. „Jetzt muss ich das Kopfkino wieder loswerden.“
„Es wäre ein hübsches Kopfkino, wenn ich nicht so viele andere Servietten sehen würde“, setze ich nach.
Julia hustet erst mal durch, obwohl es mehr nach einer Mischung von Husten und Lachen klingt, und meint dann mit Tränen in den Augen: „Genau das habe ich auch gesehen. Genau das. Es war schrecklich.“ Natürlich lache ich selbst auch schon mit, denn sie kann sehr ansteckend lachen.
„Okay, so ganz ohne Regeln geht es wohl nicht. Aber wenn du dir heute noch existierende Buschvölker anschaust, ist es fast so“, stelle ich fest, „nimm halt die Serviette weg und hänge dir einen Lendenschurz um, oder etwa nicht?“
„Stimmt, da ist was dran. Aber gewisse Regeln zu Ordnung und Anstand zu definieren, ist wohl tatsächlich Sache der jeweiligen Kulturgruppe und keine Angelegenheit Gottes“, beschließt Julia, „wenn Isaak also sagt, er stellte nie Forderungen dazu, glaube ich das unbesehen.“
„Jepp, sehe ich auch so“, bestätige ich, „Aber trotzdem interessiert es mich, wo dieser Verschleierungsbrauch herkommt.“
„Oh, da kannst du lange suchen. Schließlich ist der Islam im 7. Jahrhundert gegründet worden“, klärt meine Frau mich auf. „Das sind uralte Bücher, genauso wie die ersten christlichen Schriften. Da wurde schon so viel geforscht und interpretiert.“ Wieder nimmt sie einen Schluck Wasser, diesmal ohne Zwischenfall, wackelt auffordernd mit den Zehen und führt dann fort: „Der eigentliche Ursprung liegt wahrscheinlich, noch viele Jahrhunderte früher als der Islam, im arabischen Klima begründet. Da macht solche Kleidung nämlich Sinn. Später wurden dann, wie Isaak schon andeutete, wegen der damals üblichen patriarchalischen Strukturen, die Frauen vor den übereifrigen Nachstellungen der Männer versteckt, um sie zu schützen. Heute ist das ganze nur noch ein Zeichen. Ich gehöre dazu und will es sichtbar machen. Nicht mehr, nicht weniger.“
„Wow! Das ist beeindruckend“, muss ich zugeben.
„Hättest du mir wohl nicht zugetraut, hmm?“, fragt sie erwartungsvoll, aber ich kenne sie und ich weiß, dass sie bei Recherchen eine Größe ist. „Nein, ich staune nur, dass du dich damit schon beschäftigt hattest.“
„Es hilft aber bei der Beantwortung deiner Frage nicht weiter. Sagen wir einfach: Es liegt im Dunst der Historie“, schließt sie das Thema dann für sich ab und lehnt sich bequem zurück.
Nicht belastbare Theorien, die Jahrhunderte zurück reichen, brauche ich auch nicht. „Du hast recht“, entgegne ich. „Isaak hat sein Augenmerk ja nicht auf die Mode, Bekleidung oder sonst etwas gelegt, sondern hat es verurteilt, dass Menschen wider Willen bestimmte Kleidungen tragen müssen und nicht frei darüber entscheiden dürfen.“ Ich besinne mich kurz auf mein Treffen und führe dann fort: „Er sagte, falls sie es aus Zwang oder Angst tun, dann sind sie Opfer einer Verfehlung. Niemand darf sie dazu zwingen, etwas zu tun, was sie selbst nicht wollen. Das sagt doch alles.“
„Richtig. Und trifft sicherlich nicht nur auf Kleidung zu. Aber eines muss ich dir noch schnell erzählen“, sagt Julia spontan und beginnt vielsagend zu Grinsen. „Beim herumsuchen bin ich über ein gut 20 Minuten langes Video gestolpert, in dem wunderbar erklärt wurde, warum die Frauenverschleierung so toll ist.“
„Ja? Und?“, frage ich nach.
„Ein Typ nach dem anderen zählte die vielen, vielen Vorteile auf. Lauter bärtige Männer. Aber nicht eine einzige Frau kam zu Wort. Ich fühlte mich so was von verarscht.“
„Wenn die Frauen mitmachen wollen, ist das ihr gutes Recht. Und wenn nicht…, gibt’s später Ärger im Paradies“, grinse ich zurück.
„Hat Isaak diesen ‚gerechten Lohn‘ eigentlich irgendwie konkretisiert?“
„Nö. Ich habe aber auch nicht gefragt. Ich habe ihn aber noch auf die ‚freiwilligen‘ Frauen angesprochen, die keine Lust auf Belästigung haben, wie es Serpil passiert ist. Weißt du noch?“
„Ja, sicher. Die Typen, die sie als Schlampe angemacht haben und wo sie noch schnell in den Bus gesprungen ist, der in die falsche Richtung fuhr.“ Julia zieht ihre Beine zurück und richtet sich auf. Ich erkenne, dass die Erinnerung an dieses unschöne Erlebnis sie immer noch sehr aufwühlt. „Die Arme war fix und fertig. Sie hat den ganzen Abend geheult. Sedat war auf 180 und wäre am liebsten sofort losgefahren, um die Kerle zur Rede zu stellen.“
Auch meine Eindrücke an diesen Abend sind noch sehr präsent. Nicht ohne Grund hatte ich Isaak auf derartige Fälle angesprochen. „Ja, ich weiß. Und ich bin froh, dass ich ihn davon abhalten konnte, denn das wäre nicht gut für ihn ausgegangen.“
Serpil und Sedat sind ein mit uns befreundetes Ehepaar. Serpil arbeitet in derselben Firma wie ich. Beide sind Kinder ehemaliger türkischer Arbeitseinwanderer, die letztlich in unserem Land geblieben sind, und nun ihren Ruhestand genießen. Serpil zog sich aus Angst vor ähnlichen Übergriffen für einige Zeit ‚freiwillig‘ ein Kopftuch über, wenn sie allein in der Stadt etwas zu erledigen hatte. Von diesem Schock hatte sie sich erst nach einigen Monaten wieder erholt und fand nur langsam wieder in ihr vorheriges Leben zurück.
„Wir müssen die beiden mal wieder einladen, Schatzi. Es ist schon Wochen her“, beschließt meine Frau, die wieder zur Ruhe kommt. Mit der Ruhe finden auch ihre Füße wieder zurück auf meine Knie.
„Tu das, mein Liebling“, bestätige ich ihre gute Idee. „Aber ein wenig habe ich noch zu erzählen. Denn nach meiner Bemerkung zu dieser Art von ‚Freiwilligkeit‘ hat Isaak nochmal ganz weit ausgeholt.
Dann erzähle ich von meiner Nacht am Lagerfeuer. Isaak kann ganz wunderbar in Themen umherspringen, ohne sein Ziel aus den Augen zu verlieren. Jedes beiläufige Wort birgt schon wieder den Gesprächsstoff für eine weitere Stunde. Ich könnte mir vorstellen, eine Woche durchgehend mit ihm zu plaudern.
Natürlich versuche ich, alles so gut wie möglich in meine Erzählung für Julia hineinzupacken. Die erzwungene ‚freiwillige‘ Verschleierung und seine sehr heftige und deutliche Reaktion darauf war recht eindrucksvoll.
Aber auch seine Ausführungen zum Thema Geschlechter fand ich überaus interessant, weil sie meine etwas engstirnige Sicht hierzu doch stark erweiterte. Allerdings aus einer anderen Perspektive, als sie uns von der allgegenwärtig präsenten ‚politischen Korrektheit‘ diktiert wird.
Die wichtigste Botschaft, und das ja nicht zum ersten Mal, war natürlich die Gleichheit aller Menschen. Die Freiheit aller Menschen. Die Freiheit, für sich selbst entscheiden zu können, welchen Weg sie einschlagen wollen, wie sie sich präsentieren wollen, was sie denken wollen.
Und natürlich, darauf aufbauend, dass wir alle nur dann eine Chance auf die Zukunft haben, wenn jeder seinen Teil dazu beitragen kann und darf. Das gesammelte Potenzial aller Menschen auf diesem Planeten ist gefragt. Auf keinen Fall dürfen irgendwelche ‚gewählte‘ oder gar selbst ernannte Führerfiguren zu bestimmen haben, wie es mit der Menschheit weitergeht. Also ein klares Votum gegen Berufspolitiker, die das Lügen von der Pike auf gelernt haben.
Das Thema ‚Geld‘ sprach er an, nannte es elendig und bezeichnete es als den größten Fluch der Menschheit. ‚Aber darüber reden wir noch‘, sagte er dazu. Ich bin gespannt.
„Das sind schon sehr deutliche Worte“, denkt Julia laut nach, als ich geendet hatte.
„Welche von den deutlichen Worten meinst du?“, frage ich.
„Alles. Aber lass uns da anfangen, wo wir vor deiner letzten Erzählung in Gedanken waren: Diese sexuellen Übergriffe. Es ist bemerkenswert, dass Isaak da eine Zweiteilung vornimmt, aber er liegt richtig, denke ich. Diese ‚Schwanzprimaten‘ gibt es tatsächlich.“ Das ist wieder ihr Thema, bemerke ich, weil sie schon wieder ihre Füße einzieht und sich hinsetzt.
„Ein hübscher Begriff. So knackig auf den Punkt gebracht“, stelle ich lachend fest.
„Schwanzprimaten? Ja, ist doch so. Kerle, deren Testosteron bis zum Anschlag steht, weil sie wegen ihres Machogehabes nichts zum vögeln finden. Soll ich mich jetzt in hässliche Lappen einwickeln, weil die alles andere als Einladung verstehen, diese Idioten? Wo sind wir denn hier? Ist die Evolution an diesen Arschlöchern vorbeigelaufen?“
Julia live auf 180. Bin ich gerade wirklich ein Stück zur Seite gerutscht? Ich bin mir nicht ganz sicher. „Komm wieder runter“, werfe ich ein, „Du hast ja recht, aber ich glaube, dass hängt mit der Prägung zusammen und nicht mit der Evolution. An denen ist eher die Zivilisation vorbeigelaufen.“
Sie stutzt einen Moment und verarbeitet meine Worte.
„Sorry, du kannst ja nix dafür, aber ich habe vor Kurzem ein Video gesehen, wo so ein Hirnkranker sich an einem Autoauspuff erleichtert hat. Die greifen doch nach allem, was nicht bei drei auf dem Baum sitzt – und in unserer tollen Finanzgesellschaft wird man für Steuerbetrug härter bestraft als für eine Vergewaltigung. Selbst nach einer versuchten Vergewaltigung hat so ein Scheißkerl für Jahre im Bau zu verschwinden, mein Gott. Oder in der Irrenanstalt, wenn er ein armer psychisch erkrankter ist. Das ist den Frauen doch egal, warum so ein Typ denen das Leben zerstört hat. Die Frauen sind die Opfer!“
„Da muss was passieren, du hast recht“, antworte ich. „Wir normalen Bürger haben einfach zu wenig Einfluss. Ich halte nichts von Lynchjustiz, es muss definitiv ein ordentliches Gerichtsverfahren geben. Nur neigen unsere Gerichte zurzeit wirklich an einem Übermaß von politischer Korrektheit. Und zu deinem Beispiel mit dem Steuerbetrug hat Isaak ja offensichtlich seine feste Meinung: Kein Geld – keine Steuern – kein Steuerbetrug.“
„Du hast schon wieder diese politische Korrektheit genannt“, nimmt Julia meinen Begriff auf, „Was, zum Teufel, soll das sein? Ein Freifahrtschein für alle, die neben der Spur laufen?“
Ich kratze mich am Kopf. Wir beide sind nur zu zweit und üben uns am laufenden Band in Begriffsbestimmungen. Wie soll das werden, wenn ich ein Buch für Millionen, wenn nicht gar Milliarden von Menschen schreiben soll?
„Aber jeder darf neben der Spur laufen, Schatz, nur nicht zu Lasten der anderen. Denk an die Freiheit“, erinnere ich sie an Isaaks Worte, „Aber es muss anders darüber gerichtet werden. Frag mich jetzt bitte nicht, wie. Für mich ist das auch neu. Ich kann mir da jetzt nichts aus den Fingern saugen. Aber weißt du, ich habe inzwischen das Gefühl, dass Isaak mir auf alle meine Fragen jedes Mal eine klare und nachvollziehbare Antwort gibt, um mir anschließend sofort genügend Stoff für zehn weitere Fragen mit auf den Weg zu geben. Dieses Buch wird ein Mammutprojekt.“
Julia rutscht näher und nimmt mich in die Arme. „Du schaffst das, Claude. Du hast so eine ruhige und überlegte Art. Schreibe alles auf, was dir in den Sinn kommt und forme daraus die richtigen Worte. Ich bin mir sicher, dass, wenn du etwas Falsches schreibst, dir jemand ‚von oben‘ einen Tipp geben wird. Egal ob Isaak oder Cassandra oder Claudia oder wer immer da noch kommt.“
„Dein Wort in Gottes Ohr. Oh Mann, klingt das krank. Wir reden hier wirklich über Gottes Ohren.“ Wir lächeln uns an und Julia gibt mir einen Kuss, bevor sie sich wieder in die waagerechte begibt und ihre Füße auf meinen Schoß legt.
„Ich schreibe alles auf und lasse es eine Weile liegen. Dann lese ich es mir wieder durch und werde es überarbeiten. Die Geschichten zu meinen Treffen sind das geringste Problem, mein Gedächtnis funktioniert. Und wenn mir doch etwas durch die Lappen gegangen ist, kann ich es nachtragen. Oder auch entfernen, wenn ich etwas formuliert haben sollte, was missverstanden werden könnte. Aber ‚das Wort‘ ist mein großes Manko.“ Ich greife zum Glas und trinke einen Schluck Wasser, genieße es, als es durch meinen Hals rinnt und die Trockenheit von meinen Stimmbändern spült.
„Ich lerne bei jedem Gespräch viel dazu. Ich lerne, wie die schöpferische Kraft sich die menschliche Gesellschaft vorstellt. Was nötig ist, um die Zukunft zu erleben. Aber daraus Regeln zu machen, ist nicht einfach. Mein großer Vorteil ist, dass ich nicht drohen muss. Die Rechnung kommt zum Schluss und ich bin nicht derjenige, der sie überreichen wird. Was ist verboten? Was ist unerwünscht? Alles, was nicht ausdrücklich erwünscht ist? In Sachen Regelwerk ist Isaak von den dreien bislang am deutlichsten geworden. Andererseits, auch Claudia sagte schon: ‚Ihr alle seid ein Teil von mir‘ und daran, dass das Leben das höchste Gut ist, ließ sie keinen Zweifel.“
Nochmal spüle ich meinen Hals durch. Der Kreis schließt sich. Wir brauchen eine Rechtsprechung, die das Leben und die körperliche Unversehrtheit auf den ersten Rang des Schutzes stellt. Alles Materielle muss dagegen verblassen. Ich werde zu ‚das Wort‘ einen ersten Entwurf schreiben und nach und nach vervollständigen. Wenn ich halbwegs sicher bin, dass nichts Falsches drinsteht, lege ich ihn offen. Ich werde in Zukunft sehen, was dem Schöpfer wichtig ist. Wo die persönliche Freiheit ihre Grenze findet. Die Freiheit ist wichtig. Der Schutz des Lebens ebenfalls. Im Härtefall, wenn jemand es als Freiheit ansieht, Leben zu vernichten, geht das Leben vor.
„Ich fand Isaaks Ausführungen zur sexuellen Orientierung unglaublich simpel“, nutzt Julia mein schweigendes Nachdenken für die Eröffnung des zweiten Themas. „So natürlich und gleichmütig. Ich frage mich wirklich, warum wir so eine Wissenschaft darum zelebrieren. Es ist doch die einfachste Sache der Welt. Du bist so, wie du bist. Du gibst dich so, wie du dich geben willst. Alles ist erlaubt, alles ist normal.“ Sie macht eine Pause, um nun ebenfalls einen Schluck zu trinken. „Genauso normal ist es aber, dass die meisten Menschen eben Hetero sind, um den Fortbestand der Spezies zu sichern. Selbst wenn das nur auf dreiviertel der Menschen zutreffen würde, wäre es ausreichend. Die Natur macht alles richtig. Warum bilden manche Leute sich ein, es besser als die Natur zu wissen?“
„Ich weiß nicht“, antworte ich, „Weil Menschen alles erforschen wollen? Ich finde schon diese dritte Toilette blöd. Männer gehen in M, Frauen gehen in W und alle verschiedenen anderen sollen in D gehen? Das passt doch auch nicht um jeden Preis.“ Spontan fällt mir eine Lösung ein: „Dann sollen doch gleich alle Toilettenräume N werden. Neutral. Vielleicht mit einem Stehpinkelabteil hinter einer Schwingtür und einem Schminkabteil hinter einer zweiten Schwingtüre. Die WCs sind doch eh alle gleich, oder nicht?“
„Aber Männer furzen beim Pinkeln“, sagt Julia.
„Woher weißt du das denn?“, frage ich perplex, aber sie grinst nur und redet schon weiter.
„Außerdem haben nicht alle Kulturen ein WC, Schatzi. Und mancherorts müssen Frauen und Männer getrennt gehen. Du sollst doch für alle Menschen schreiben, oder?“
„Ich werde sicherlich nicht die Toilettenfrage in meinem Buch beantworten, du Nase“, erwidere ich lachend. „Da sollen sich die Leute mal hübsch selbst Gedanken machen. Mir geht es einzig und allein darum, dass jeder Mensch eines jeden Geschlechtes, egal ob als biologisches Geschlecht, oder als soziales Geschlecht, den gleichen Wert hat. Kein Geschlecht ist den anderen vorangestellt. Kein Geschlecht hat mehr Rechte. Wo und mit wem die dann pinkeln, ist mir absolut wurscht.“
„Gut gebrüllt, Löwe.“
„Danke, liebe Gazelle.“
„Gazelle? Okay, genehmigt“, goutiert sie meine Auswahl. „Hauptsache, dein Buch wird auch gelesen.“
„Naja, es ist nicht fertig.“
„Wenn das so weitergeht, mit deinen Einladungen ins Nirgendwo, wird es nie fertig“, stellt sie nüchtern fest. „Du musst irgendwann damit raus, auch wenn es nicht fertig ist. Jede Geschichte für sich.“
„Social Media. All diese Messenger und Portale, die es heute so gibt“, beschließe ich kurzerhand.
„Könnte klappen“, stimmt sie zu, „Aber du hast keine Ahnung davon. Ich nebenbei auch nicht.“
„Ich könnte ja die Kiddies fragen, aber das beißt sich mit meinem Versprechen, im Hintergrund zu bleiben.“
„Wieso? Du musst ja nicht erzählen, was du damit vorhast“, ist ihre Lösung. Und die Idee ist gut. Warum sollten wir nicht bei den jungen Leuten in die Lehre gehen.
„Eines ist mir gerade aufgefallen“, erwähnt Julia, während ich in Gedanken schon im Internet bin.
„Ja?“
„Über den ganzen Tag seid ihr beide an patriarchalischen Strukturen angeeckt, außer bei der Genetik und der Vererbung. Die sexuellen Übergriffe und auch die absolute Gleichwertigkeit der Geschlechter. Bei beidem wirst du in von Männern dominierten Gebieten oder Kulturen den stärksten Gegenwind bekommen.“
„Das stimmt, aber Isaak sagte auch, dass eine Dominanz immer nur besteht, weil die breite Masse sich ihrer Macht nicht bewusst ist. Wörtlich hieß es: ‚Wenn alle zusammenhalten würden, könnten sie jeden machtgeilen ‚Erhabenen‘ in Null Komma Nix von seinem selbstgebauten Thron stürzen‘. Und an diesem Punkt muss ich ansetzen.“
„Aber wie sollen die Frauen sich durchsetzen? Doch wohl kaum mit Waffengewalt?“
„Gewalt kann nie die Lösung sein. Aber wenn alle Frauen sich hinsetzen, wird etwas geschehen. Stell dir vor: Alle Frauen tun nichts mehr. Generalstreik. Da können die Platzhirsche blöken und schreien und prügeln und schlagen. Einfach nichts passiert. Bis jemand bemerkt, dass es ohne die Frauen nicht geht. Bis es sich herumspricht, dass es ohne die Frauen nicht geht.“
„Eine sehr feine Strategie. Wenn das da funktioniert, dann funktioniert es auch bei anderen Gelegenheiten und zu anderen Zwecken“, sagt Julia mit einem kämpferischen Glühen in den Augen. „Das gilt dann“, fügt sie hinzu, „nicht nur für Familienoberhäupter, sondern ebenso für komplette Regierungen.“
„Man muss nur alle Menschen davon überzeugen, in den Generalstreik zu treten.“ Ich lege beide Hände vor mein Gesicht und atme tief durch. „Na, das wird ja ein Kinderspiel.“
Die Einzige wird dich leiten – La sola gvidos vin
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- 1a Über die „Geburt“ von Claude
- 1b Bin ich wahnsinnig oder nur verrückt?
- 2a Über die Verbreitung des Wortes
- 2b Und wie bringe ich das nun meiner Frau bei?
- 3a Über Fragen und Antworten
- 3b Eine willkommene Abwechslung
- 4a Über Pferderassen, Bekleidung und die Vielfalt
- 4b Der bärtige alte Mann
- 5a Über eine Welt ohne Geld
- 5b Geld macht nicht glücklich
- 6a Über die Entstehung des Universums
- 6b Unbekanntes Terrain
- 6c Endlich ein Anfang
- 6d Wie funktioniert eigentlich Claudia?
- 7a Über Menschen, Tiere und Speisevorschriften
- 7b Glückliche Schweine und andere Tiere
- 8a Über die Selbstbestimmung
- 8b Hoppe, hoppe, Reiter
- 9a Über die Ebenen des Universums
- 9b Sie ist mein Anker
- 10a Über die Kinder La Solas
- 10b Exotische Jahreszeiten
- 11a Über falsche Götter
- 11b Götterdämmerung
- 12a Über Rebeccas Heimkehr
- 12b Freude schöner Götterfunken
- 13a Über Rebeccas Vergangenheit
- 13b Julia trifft eine Freundin
- 14a Über die Allseitigkeit
- 14b Mit Julia am See
- 15a Über eine Fahrt ins Ungewisse
- 15b Über den Weg der Göttin
- 16a Über Raum und Zeit
- 16b Über ein besonderes Wochenende
- 17a Über fiese alte Männer
- 17b Aller Abschied fällt schwer
- 18a Über fantastische Möglichkeiten
- 18b Utopia
- 19a Offen
- 19b Offen
- 20a Über den Blitz der Erkenntnis
- 20b Nachleuchten
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