11a Über falsche Götter

Wenn du mittendrin anfängst, verstehst du nicht alles: Beginne lieber am Anfang.

Ich bin ja sooo bekloppt. Wie konnte ich nur? Wie konnte ich Julia nur anbieten, zusammen mit nur einem Auto zu fahren, weil wir fast denselben Weg hatten? Sprit sparen? Umweltschutz? Dummheit? Ich sitze jetzt schon seit 30 Minuten im Auto und habe keine Ahnung, wie lange ihr Termin noch dauern könnte. Außer natürlich: „Dauert noch“, als Info per Messenger vor 10 Sekunden. Prima. Ich halte das Smartphone ja gerade in der Hand, dann kann ich auch an meinen Texten tüfteln. Es lebe die Technik. Also tippe ich drauf los. Meine Autokorrektur hat schon eifrig dazugelernt und macht nur noch selten lustige Fehler. Ich habe ebenfalls dazugelernt und bin inzwischen ziemlich fix mit dieser Methode. Beinahe schon schneller als am PC, denn dort arbeite ich nach dem Adlersuchsystem: Einkreisen und zuschlagen. Obwohl auch dabei die Übung den Meister macht.

Eine Viertel Stunde später, der Text ist schon deutlich gewachsen, öffnet sich die Beifahrertür und ohne aufzusehen speichere ich meinen Fortschritt. Bis ich aus den Augenwinkeln ein schwarzrotes Kleidungsstück wahrnehme. Julia hatte definitiv kein solches an und ich schrecke hoch. Neben mir sitzt eine orientalisch oder arabisch wirkende Frau. Sie ist Mitte 40, hat schulterlange dunkle Haare, die durch eine pfiffige Flechttechnik stramm gebunden sind. Nur an den Schläfen hängen geringelte Strähnchen herab, die nicht mit eingebunden sind. Sie trägt eine schwarze Filizzade mit einem Innenteil in Bordeauxrot. Die auffälligen Ärmel sind an den Manschetten mit in verschiedenen Rotschattierungen getönten kleinen Perlenfäden verziert. Das sieht sehr traditionell, aber auch sehr schick aus. Sie macht keinen durchgeknallten Eindruck und ich fühle mich auch nicht bedroht, aber sie ist nun mal im falschen Auto gelandet und schaut wortlos aus dem Seitenfenster.

„Entschuldigen Sie, junge Dame. Wenn Sie ein Taxi suchen, sind Sie hier leider falsch abgebogen“, versuche ich das Missverständnis mit Humor zu klären. Sie dreht ihren Kopf und ich sehe zwei hervorstechende Merkmale: Einen lächelnden Mund mit vollen Lippen und ein Augenpaar, das nicht von dieser Welt stammt. „Hallo Claude. Komm, wir gehen“, sagt sie nur, fasst an meine rechte Hand und im gleichen Moment sitzen wir auf der Bank am See. Ja, genau. Der See. Der See, an dessen Ufer ich vor langer Zeit mit Claudia spazieren gegangen war. Die Bank, auf der ich mit Claudia gesessen hatte. Wir sitzen im strahlenden Sonnenschein, eine leichte Brise weht und die Vögel zwitschern. Eine kleine Biene summt an meiner Nase vorbei und geht ihren Geschäften nach.

Immer noch hält sie meine Hand, während ich sie nur anstarre wie eine Erscheinung. Ich beginne zu grinsen, denn schließlich ist sie ja eine Erscheinung. „Hallo, meine Liebe“, beginne ich zaghaft, immer noch ein wenig geflasht von ihrem unerwarteten Auftauchen. Gleichzeitig stehen wir beide auf und umarmen uns zur Begrüßung. Ich muss euch das Gefühl nicht mehr beschreiben, welches mich durchströmt. Pure Energie, verpackt in eine geniale Mischung aus Geborgenheit und Labsal für die Seele. Was ich rein physikalisch fühle, kommt mir sehr bekannt vor, obwohl ich diesen Körper noch nie zuvor gesehen oder berührt hatte. Trotzdem finde ich Bekanntes darin. Ich kann es nicht beschreiben, aber es ist da. Ich glaube, dass, auch wenn die Physis eine andere ist, das Wesen ein anderes ist, eine gewisse Familienähnlichkeit doch immer mitschwingt. Es manifestiert sich in Gesten, Bewegungen, unsichtbaren Kleinigkeiten. Ich umarme La Sola nicht zum ersten mal und der große gemeinsame Nenner fühlt sich immer gleich an. Oder…, ich bilde mir das einfach nur ein. Ganz egal, ich liebe sie und ich genieße die Sekunden.

„Darf ich dich Yasmin nennen?“, flüstere ich ihr ins Ohr. Als Antwort erhalte ich ein leises Lachen. „Du Dummkopf. Natürlich darfst du das.“

„Es ist eine Weile her, meine Göttin“, flüstere ich weiter. Wieder lacht sie leise und löst ihre Arme langsam von mir. Dann steht sie vor mir, immer noch das Lachen im Gesicht und fragt mich flüsternd: „Warum tuscheln wir eigentlich so? Hast du Angst, dass jemand lauscht?“

„Mädchen. Soll ich dir vielleicht ins Ohr tröten? Lass dich doch mal ansehen“, sage ich und nehme sie an beiden Händen. Was mir erst jetzt auffällt, ist der raffinierte Schnitt ihrer Frisur. Von vorne betrachtet wirkt es, als wenn sie eine traditionelle Kopfbedeckung im Stil eines Mervin Şal tragen würde, zumal sie wirklich noch ein Halstuch geschickt um die Schultern gelegt hat. Nur aus der Nähe und in Bewegung bemerkt man, wie die Schwarztöne fließend ineinander übergehen. Sie ist ein kleines optisches Kunstwerk. Ihre schlanke und hauchzart gebogene Nase unterstützt den orientalischen Touch ihrer wunderschön geschnittenen Gesichtszüge und als absolute Krönung ziehen ihre Augen mich in die unendlichen Tiefen des Unbekannten.

Ich hebe ihre rechte Hand über ihren Kopf und gebe ihr einen leichten Drehimpuls. Wie eine Tänzerin führt sie eine perfekte Pirouette vor und steht dann mit ihrem warmen Lächeln zu mir gewandt wieder sicher auf beiden Füßen.

„Yasmin gefällt mir“, sagt sie. „Du hast ein Auge für die Regionen, in denen meine Physen geboren sind, Claude.“

„Ihr werdet geboren?“, frage ich erstaunt und im selben Moment fällt mir auf, wie idiotisch diese Frage klingt.

„Wenn wir nicht mit einer Banane aus dem Wald gelockt werden, meistens schon“, antwortet sie mit toternstem Gesicht.

„Verstehe. Die magische Lockbanane. Oder muss man dafür schon die göttliche Lockbanane einsetzen?“, gebe ich ebenso ernst zurück.

„Ach was. In den meisten Fällen reicht schon eine Biobanane. Ich mag Bananen.“ Langsam verliert sie ihre Ernsthaftigkeit und beginnt zu lächeln.

„Dann weiß ich ja Bescheid. Wenn ich mal Hilfe brauche: Biobanane gen Himmel und du tauchst auf.“ Auch ich lächele sie an.

Ihr Lächeln wird eine Spur offener als sie antwortet: „Du weißt ja: Wenn ich nicht gerade Golf oder Tennis spiele.“

„Es ist immer wieder faszinierend, dass jede oder jeder von euch immer auf dem Laufenden ist“, sage ich mit einem hochgezogenen rechten Mundwinkel.

Zum ersten Mal lacht sie mich ganz herzlich an und antwortet: „Ob Cassie oder Yasmin, ich bin Eins.“

„Es ist nur schwer für mich, das nie zu vergessen. Du siehst nun mal aus wie ein normaler Mensch und bei denen ist das üblicherweise anders.“

Sie hebt leicht die Schultern. „Du machst das sehr gut, Claude. Dein Verstand erkennt den Zusammenhang, nur dein gewohntes Gefühl lässt dich einen Augenblick stutzen.“

Ich muss etwas säuerlich Grinsen. „Wenn ich mich nicht mit Julia austauschen könnte, würde ich eher an meinem Verstand zweifeln.“

Sie kommt einen Schritt auf mich zu und nimmt mich tröstend in die Arme. „Es ist schön, dich wiederzusehen. Viel Zeit ist vergangen“, sagt sie, als sie mich festhält. Ich empfinde genauso. Es ist schön, sie zu spüren, diese unendliche Energie zu spüren und einen kleinen Teil davon aufnehmen zu können. Ich klammere mich an ihr fest und genieße jede einzelne Sekunde. Bevor es peinlich wird, lasse ich sie dann doch los und rücke ein wenig von ihr ab – nur um in ihr lachendes Gesicht zu sehen.

„Dir muss nichts peinlich sein, Claude. Ich weiß genau, dass dir die Dröhnung guttut – und ich weiß sogar besser als du, wie dringend du sie brauchst. Der Tag hat 24 Stunden, nicht wahr? Und wenn die nicht reichen, nimmst du halt die Nacht dazu, ja? Hör zu, Claude, mein allerallerbester Freund: Ich brauche dich lebend und bei guter Gesundheit.“ Ihre Augen blitzen kurz auf und im selben Moment zieht sie mich mit einem Ruck erneut an sich heran. Mit einer Kraft, die einem Bodybuilder gut zu Gesicht gestanden hätte. Ich bringe nur ein gepresstes „Mmmmpfff“ heraus, als unsere Haut sich berührt und mich ein unerwartet heftiger Schwall ihrer Energie überflutet. Nur einen Wimpernschlag lang hält die Hitze an, die ich empfinde, um sich dann sofort wieder in den sanften Strom wohltuender und aufbauender Wärme zu verwandeln, auf den ich so viele Monate verzichten musste. Ich genieße es einfach und es ist tatsächlich kein bisschen peinlich. Ich bin dankbar.

„Yasmin?“, flüstere ich in ihr schwarzes Haar.

„Mmmh?“, kommt tiefenentspannt zurück.

„Ich möchte dich etwas fragen.“

„Nur zu.“

„Wir hatten schon einmal darüber geredet, als wir über das Universum gesprochen haben.“

Sie kichert leise. „Du meinst, als dich Claudia in eurem Arbeitszimmer besucht hat? Wo du gerade im Alten Testament rumgestochert hast?“

„Genau, schlaues Kind. Du sollst keinen Gott haben neben mir. Wie steht La Sola dazu? Wozu soll das gut sein?“

Ein wenig abwesend antwortet sie, ohne die Umarmung zu lösen: „Ich weiß, wer ich bin. Ich muss nicht vergöttert werden. Hauptsache, die Menschen tun das richtige.“ Dann hebt sie ein wenig den Kopf und fragt: „Wollen wir uns setzen?“

„Wenn du möchtest, gerne.“

„Ich liebe diesen Ausblick, weißt du?“

„Neben Biobananen?“

„Blödmann.“ Sie schlüpft aus meinen Armen und dreht sich im selben Moment geschickt zur Bank, um sich mit einem wohligen Schnaufen darauf niederzulassen.

„Als ich sagte, ihr sollt keine falschen Götter anbeten, meinte ich eure manipulative Obrigkeit und eure selbsternannten Führer, euer materialistisches Geld und Gold, aber keine andere Darstellung von mir selbst, verstehst du?“

Ich setze mich neben sie und drehe mich halb in ihre Richtung. Sie tut es mir gleich und so hängen wir beide in den Ecken der Bank, halb an die Rückenlehne und halb die Armlehne gequetscht herum und lächeln uns an. Unsere Füße berühren sich fast und mir fallen wieder ihre mindestens 7cm hohen Absätze auf. „Du hast aber echt hohe Hacken an, meine Liebe“, fällt mir dazu ein, obwohl es eigentlich ziemlich einfallslos ist.

„Wo bleibt denn meine Autorität, wenn ich sooo viel kleiner bin als du, hmm?“, entgegnet sie, eine Spur breiter lachend.

„Das ist natürlich richtig. Welche anderen Möglichkeiten hättest du auch schon, um deine Größe zu beweisen?“, pariere ich und muss dabei loslachen.

Sie lächelt sanft zurück, schaut über die Weite des Sees und haucht schwärmend „Ist das nicht wunderschön? So friedlich und fast unberührt.“

„Du hast recht. Keine Menschenseele, pure Natur und ein Paradies für die Vögel und Insekten.“ Ich mache eine kleine Pause, denn eine Frage drängt sich mir spontan auf: „Damals, mit Claudia, hatte ich ja noch keine Ahnung von deinen Fähigkeiten; ist dieser See wieder irgendwo im Universum oder könnte ich da auch ganz alleine hinkommen?“

„Das könntest du tatsächlich. Er ist im Heute und liegt in Südfrankreich. Früher war hier auch mehr los, aber die Menschen sind weniger geworden, hier in diesem ländlichen Gebiet. In den Städten gibt es einfach mehr Arbeit.“ Sie dreht sich wieder zu mir zurück. „Das ist vielerorts so. Die Leute knubbeln sich an den Plätzen zusammen, wo sie möglichst viel Geld verdienen können. Viele Regionen werden, vor allem von den jungen Leuten, verlassen. Es gibt sogar einige Räume, die regelrecht verwahrlosen, weil nur noch die Alten zurückbleiben, die keine Karriere mehr machen müssen und wollen. Und denen fehlt einfach die Kraft. Sie können keine ganze Region aufrechterhalten. Das ist Schade.“

„Ich möchte einmal mit Julia hierherkommen. Das wäre schön“, sinniere ich leise.

„Ich werde einen Weg finden, dir diesen Ort aufzuzeigen, Claude. Was wolltest du genau über diese ‚falschen Götter‘ wissen?“, wechselt sie das Thema.

„Du hast mir mit deinem ersten Satz schon vieles verdeutlicht, Yasmin. Erstens: Die Aussage kommt wirklich von dir. Zweitens: Du meintest keine anderen Benennungen für dich, in deiner Eigenschaft als Schöpfer. Drittens: Du wolltest den Menschen verdeutlichen, dass ihre Führer und Werte keine Götter sind.“

Ich warte schweigend ab, ob meine Schlussfolgerungen ihre Zustimmung erhalten.

„Das könnte man so stehen lassen. Diesen Satz habe ich schon sehr oft gebraucht. In unterschiedlichsten Situationen. In unterschiedlichsten göttlichen Gestalten. Es gibt euch ja schließlich schon viel länger als die meisten heute bekannten Religionen. Ich habe tausende von Namen. La Sola ist der neueste von ihnen. Oft war ich auch einfach nur ‚Gott‘. Das klingt in tausend Sprachen und zehntausend Dialekten auch zehntausendfach anders. Zumal es durch tausende Übersetzungen auch einem stetigen Wandel unterzogen ist.“ Nach diesen Worten wendet sie sich wieder dem stillen See zu und lächelt ebenso still in sich hinein. Ich glaube, sie nimmt dieses Bild in sich auf, um einfach zu entspannen. So wie wir Menschen von Zeit zu Zeit einen Museumstag einlegen. Einfach nur, um schöne Sachen zu sehen und sich daran zu erfreuen.

„Ganz schön was los gewesen in der göttlichen Vergangenheit, nicht wahr?“, frage ich mit gedämpfter Stimme, um diesen Augenblick nicht zu zerschneiden.

„Kann man so sagen“, antwortet sie mit einer großen inneren Ruhe. „Ich war eine lange Reihe von Naturgöttern oder Göttinnen, bin als spezialisierte Gottheit bei deinen Vorfahren gewesen, egal ob für das Wetter, die Ernte oder das Jagdglück, war oft als Teil einer Mehrfaltigkeit unterwegs und letztlich auch als Allmächtiger, der keine Götter neben sich braucht. Je nachdem, was eurer spirituellen Entwicklungsphase entsprach. Sehr oft auch gleich in unterschiedlichen Varianten, je nach Kontinent, Region oder gar Landstrich und Dorfgemeinschaft. Aber das ist auch heute noch so und betrifft nicht nur die Vergangenheit, Claude.“

„Ich hatte schon mit Julia darüber geredet, ob du alle bekannten und unbekannten Götter ‚gespielt‘ hast. Wir hatten das dann aber einfach angenommen. Es ist wichtig für mich, weißt du? Wenn ich das Wort schreibe, frage ich mich, wie ich damit umgehen soll. Mit anderen Göttern, meine ich.“

„Gespielt ist nicht richtig, Claude. Sieh mal: Der Mensch ist mir wichtig.“

Sie wendet sich zu mir um. „Erinnere dich an unsere ersten Treffen. Ich habe mich dir vorsichtig genähert. Du hattest die Möglichkeit, einen Engel in mir zu sehen. Und ich war dieser Engel. Ich spielte ihn nicht. Dann erst habe ich mehr von mir offenbart. Du musstest es wissen, weil ich dich bitten wollte, meine Gedanken in die Welt zu tragen. Aber auch dabei bin ich deiner Vorstellung einer schöpferischen Kraft gefolgt. Weil eine nette junge Frau nicht bedrohlich wirkt, und auch weil für dich der gedankliche Wechsel vom blonden Engel zur Gottgestalt besser vollzogen werden konnte, bin ich als Claudia zu dir gekommen.“

Ich sitze da und höre gebannt zu. Es erscheint mir geboten, einfach zu Schweigen. Mit der zeitlichen Distanz, die ich inzwischen habe, machen ihre Worte für mich wirklich Sinn. La Sola hat mich als Freund gewonnen. Sie hat mir im Laufe der Zeit viele Gesichter gezeigt, aber auch auf den imposanten Isaak bin ich als Freund ans Feuer getreten. Und er hat mich als Freund begrüßt. Wie hätte sich alles entwickelt, wenn ich dem weißbärtigen Zweimetermann in seiner biblischen Kleidung ganz zu Beginn begegnet wäre?

„Jeder Mensch auf dieser Welt hat eine Vorstellung von ‚seinem‘ Gott und dessen Vertretern“, beginnt Yasmin wieder zu sprechen. „Nichts liegt mir ferner, als diese Vorstellung zu zerstören. Dadurch würde ich das Vertrauen dieser Person verlieren. Jeder Mensch kann sich vorstellen, dass ‚sein‘ Gott in Wirklichkeit auch jeder andere Gott ist. Sieh mal: Du hättest bestimmt auch kein Problem damit, dir vorzustellen, dass der ‚Liebe Gott‘ deiner Kindheit auch Allah der Muslime, Brahma oder Daksha der Hindus, Elohim oder Jahwe der Juden, Izanagi der Japaner, Rangi der Māori oder gar Pachakamaq der alten Inka sein könnte, oder?“

Der Blick ihrer Zauberaugen bleibt auf mich gerichtet. Ein paar Sekunden halte ich ihm stand, dann fixiere ich unwillkürlich ihre Nasenspitze. In meinem Kopf jagen sich Begriffe wie ‚Feigling‘ oder ‚Weichei‘ und ich schaue ihr standhaft wieder tief in die Augen – und in alles Verborgene dahinter. In eine unendlich warme Liebe und Zuneigung und Geborgenheit. Ohne jegliche Berührung strömt mir ihre Kraft, ihre Energie entgegen, die mich aufbaut und stärkt. Eine neue Erfahrung für mich. Wie konnte ich auch nur für einen Augenblick Unbehagen empfinden? Hat mich die relativ lange Zeit seit unserem letzten Treffen verunsichert? War es Yasmin, die ich noch nicht kannte? Oder…, von allem ein bisschen? Gerade noch sinniere ich über La Sola als meinen Freund oder meine Freundin und kurze Zeit später sehe ich meinen Gott oder meine Göttin in ihr. Der Unendlichkeit aus ihren Augen, die mich pulsierend durchfließt, entnehme ich die Gewissheit, dass beides unbedingt richtig ist. Mein Gott ist mein Freund. Bisher kannte ich immer nur die Definition: Gott, der Herr. So wurde es mich gelehrt. La Sola hat mich etwas anderes gelehrt: Gott, der Freund. Der beste Freund der Menschen. Yasmin blinzelt. Ich muss lächeln, denn ich weiß genau, dass sie genau weiß, was gerade in mir vorging und dass sie mich mit eben diesem Blinzeln wieder in die Gegenwart zurückgeholt hat. Auch sie lächelt, wenn auch eine Spur breiter als ich. Eine Sekunde lang muss ich mir ihre Frage ins Gedächtnis zurückrufen.

„Wenn ich etwas zurückdenke – nein, hätte ich absolut nie gehabt“, antworte ich, ohne großartig nachzudenken. „Das wird ja auch in vielen Fällen gar nicht bestritten. Beinahe alle religiösen Feindschaften machen sich ja nur am Beiwerk fest.“

„Na, siehst du. Kein Mensch hätte damit ein Problem, solange er sich sicher sein kann, dass sein Gottesbild so stark und mächtig ist, dass es auch alle anderen Götter ‚spielen‘ kann. Wenn du alle historischen Winkel und Pfade verfolgen könntest, würdest du dich wundern, über wie viele Götter irgendwie dann doch die gleichen Geschichten erzählt werden. Hey, lass uns ein paar Schritte laufen. Auf Dauer ist die Bank doch etwas hart.“

Mit diesen Worten steht sie auf und streckt sich. Automatisch stehe ich mit ihr zusammen auf. „Tut dir der Hintern weh?“, frage ich spontan nach.

„Das fragt man eine junge Dame nicht, du ungehobelter Klotz“, entgegnet sie lachend und hält mir ihre Hand hin. Ich greife zu und wir schlendern Hand in Hand den Weg zurück, den ich vor langer Zeit mit Claudia gekommen bin. Der Weg führt vom See weg und steigt in Richtung der Villa mit der großen Terrasse leicht an. Ich muss gerade an Julia denken, die in Gestalt eines Vogels eine Eifersuchtsattacke auf Claudia geflogen ist. Es war nur ein Traum, wenn auch kein zufälliger, wofür ich Claudia immer noch sehr dankbar bin.

„Dann habe ich in meinen Texten nichts Falsches geschrieben. Ich fordere niemanden auf, zu La Sola zu konvertieren, oder etwas ähnliches.“

Sie lächelt mir von ihrer Seite aus kurz zu und drückt leicht meine Hand, sagt aber nichts dazu und schlendert gut gelaunt weiter.

„Jeder kann seinem Gott treu bleiben“, denke ich weiter laut nach. „Ich allein kenne dich schon unter so vielen Namen, die ich dir sogar selbst gegeben habe.“

„Chang und Majikku sind von mi-hir“, singt Yasmin freudig und schlenkert unsere Arme vor und zurück.

„Aber nur wegen meiner Asien-Schwäche, meine Gute“, kontere ich sofort.

„Egal, Claude-Chan, es gilt.“

„Von mir aus, gerne. Aber was sind schon Namen. Für ‚La Sola‘ habe ich auch nur so lange gebraucht, weil ich etwas Internationales finden wollte, was nicht im Internet schon totgedudelt worden ist. Vielleicht wächst in den Menschen das Verständnis, dass Namen nur Schall und Rauch sind. Dass sie ihren Glauben nicht an einem Namen festmachen sollten. Vielleicht können, im Laufe der Zeit, die Menschen dann auch ihren religiösen Zwist begraben.“

„Leider schwingen in den alten Büchern aber auch sehr viel von Menschen gemachte Fehlinterpretationen mit“, ergänzt Yasmin und trifft damit leider einen traurigen, aber realen Umstand wie den Nagel auf den Kopf. Es ist nicht nur der Name, sondern die fundamentale Unterscheidung zwischen Gläubigen und Ungläubigen. Wer glaubt welcher Version der alten Bücher? Und in wie vielen Versionen dieser Bücher steht, dass alle, die nicht dieser Version glauben, vernichtet oder unterworfen werden müssen?

„Gibt es den wahren Glauben, Yasmin?“, frage ich sie unvermittelt. „Gibt es Gläubige und Ungläubige?“

Sie bleibt stehen, lässt meine Hand los und setzt sich, einfach so, ins Gras neben dem Weg. Ich setze mich ihr gegenüber ebenfalls hin und schaue ihr ohne Scheu in ihre wunderbaren und klaren Augen.

„Ja, Claude“, antwortet sie sanft lächelnd, „es gibt den wahren Glauben. „Aber den findest du nicht in den alten Büchern. Ganz viele gute Menschen haben ihre Träume, ihre Wünsche und ihre Sehnsüchte, verkleidet als mein Wort, dort hineingeschrieben. Aber genauso viele schlechte Menschen haben ihre Gier, ihre Machtgelüste und ihre Herrschaftsansprüche, verkleidet als mein Wort, dort hineingeschrieben. Wenn du diese Bücher nur mit den Augen und dem Verstand liest, wird es dir schwer fallen, die guten von den schlechten Worten zu trennen.“

Sie streichelt über die Wiese, ganz zart über die Spitzen der einzelnen Halme. An einigen Stellen der Wiese haben sich Grasähren gebildet, die aus der unfassbaren Menge der Halme herausstechen. Sie spielt mit einem von diesen rauen und piekenden Gewächsen. „Auf dieser Wiese siehst du Millionen von Grashalmen und Tausende von Grasähren. Die Halme sind die Menschen, die Ähren sind die Götter der Vergangenheit und die Götter der Gegenwart. Den wahren Glauben findest du nur in den Herzen der Menschen, Claude. Irgendwo in ihrem Inneren. Ob bewusst oder unbewusst, tief in sich weiß jeder Mensch, wer ich bin. Ich bin nicht dieser Halm. Ich bin nicht diese Ähre. Ich bin die ganze Wiese.“

Ich schließe die Augen und verdeutliche mir selbst, was Yasmin eben gesagt hat. Sie ist Alles. Sie ist in jedem Grashalm und in jeder Grasähre. Wir sind ein Teil von ihr. Ich atme tief durch. Tausend Fragen brennen mir auf der Zunge. Ich öffne meine Augen wieder und…

…starre auf die Windschutzscheibe meines Autos.

Sie hat mich einfach Sitzen lassen. Einfach so, ohne ein einziges Wort des Abschieds. „Yasmin!“, rufe ich laut, erhalte aber keine Antwort. Dann reißt mich ein Signal meines Telefons aus meinen aufgewühlten Gedanken. Genervt ziehe ich es aus der Tasche und lese: Julia schreibt: „Dauert noch“.

Schon wieder? Oh, Mann! Nein, Moment. Das steht nur einmal auf dem Display. Und es kam gerade erst an. Die Uhrzeit?

Verdammt, wo ist mein Text? Ich hatte doch schon…

Ich muss leise in mich hineinlachen. Diesen Text, den ich mir ausgedacht hatte, müsste ich jetzt umändern. Wenn ich ihn je geschrieben hätte. Ich mache die Musik lauter und lehne mich entspannt zurück. Ich weiß, welches Lied gleich gespielt wird. Den Titel danach kenne ich auch schon. Ich weiß, dass ich mindestens eine viertel Stunde ungestört hier sitzen kann. Vorher wird Julia auf jeden Fall nicht zurückkommen. Auch Yasmin wird diesmal nicht an ihrer Stelle einsteigen. Nicht in dieser Viertelstunde, die ich jetzt zum zweiten mal erleben werde. Was danach geschehen wird, weiß nur La Sola. Eine krasse Sache, dieses Raumzeitding.

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