01a Über die „Geburt“ von Claude

Wir beide standen gemeinsam in der Küche und bereiteten unser Abendessen zu. Ich kann mich an jeden Handgriff erinnern, genau wie an jedes Wort, welches meine Frau und ich miteinander gewechselt hatten. Ich erinnere mich an den Duft der Speisen während der Zubereitung und an den vorzüglichen Geschmack der roten Linsen, als wir später aßen. Anschließend gingen wir dann ins Wohnzimmer, um den Abend zusammen zu verbringen. Ich erinnere mich an den Weg, den wir gingen und an das Wasser, das ich uns einschenkte.

So funktionierten meine Erinnerungen bislang. Ich konnte mich an den Weg, an die Hindernisse und an das Ziel erinnern. Alles zusammen ergab einen Fluss von Ereignissen, die zu einem Ergebnis führten. Während du kochst, freust du dich auf das Essen. Während du das Wasser eingießt, freust du dich auf die Erfrischung. Während du dich in den Sessel setzt, freust du dich auf die Entspannung. Genau dies jedoch, also die Funktionsweise von Erinnerungen, sollte sich in diesem Moment ändern. In einer Sekunde freue ich mich auf die Entspannung im Sessel und in der nächsten Sekunde erinnere ich mich an eine Begegnung, die ich offensichtlich erlebt hatte. Okay, es war eine sehr interessante und außergewöhnliche Begegnung, aber wie komme ich an diese Erinnerung? Sie war nicht verschüttet und ist mir einfach wieder eingefallen, wie man das öfter schon einmal erlebt. So nach dem Motto „ach ja, da war ja mal was.“ Nein, es gab sie vorher überhaupt nicht.

Es gab keine Vorbereitung auf diese Begegnung. Keine Vorfreude, keine Angst – vor was auch immer. Auf einmal wusste ich, dass ich die wahrscheinlich wichtigste Unterhaltung meines bisherigen Lebens geführt habe. Ich habe Erfahrungen gemacht, von denen ich zuvor noch nicht einmal geträumt hätte. Ich habe von Zusammenhängen erfahren, die für mich unvorstellbar waren. Ich durfte einen Blick in die Unendlichkeit werfen und es fiel mir sehr schwer, mich wieder zu verabschieden. Dann war es zu Ende.

Ich sitze wie zuvor in meinem Sessel und schaue zu meiner Frau hinüber. Sie schaut zurück, als wenn nichts gewesen wäre. Ich bleibe einfach sitzen, starre auf mein Glas und nippe an meinem Wasser.

Habe ich das nur geträumt? Nein, auf keinen Fall. Ein Traum fühlt sich anders an. Diffuser, unklarer. Ich lehne mich ganz entspannt in meinen Sessel zurück und lasse diese ganze Begegnung, dieses fantastische und unerwartete Erlebnis, nochmals vor meinem geistigen Auge vorüberziehen…

Ich sitze also in meinem Sessel. Obwohl – eigentlich ist es nicht mein Sessel. Es ist auch nicht mehr mein Wohnzimmer. Ich befinde mich in einem lichtdurchfluteten großen Raum mit vier bequemen Polsterstühlen, die locker um einen kleinen Glastisch gestellt sind. Auf einem davon sitze ich. Es scheint sich um eine Art Ruheraum zu handeln, denn an den Wänden, die in einem blauen Pastellton gehalten sind, stehen noch zwei Sitzgruppen mit einem Couchtisch und eine riesige Glastür führt auf eine Art Balkon hinaus. Eigentlich ist es mehr eine Hochterrasse, die ich von meinem Platz aus nicht vollständig einsehen kann. Durch die weit geöffneten Flügel einer Doppeltür strömt eine leichte Brise in das Zimmer und bringt einen sanften Duft von Frühling wie auch leises Vogelgezwitscher mit sich. Ich bin allein in dem Raum und einen kurzen Moment lang denke ich daran hinausgehen, bleibe dann aber doch sitzen und greife wie automatisch zu dem Wasserglas vor mir, um einen kleinen Schluck zu nehmen. Warum sitze ich eigentlich so entspannt hier herum? Kenne ich den Raum? Ich fühle mich tatsächlich nicht fremd, aber irgendetwas fehlt hier noch. Oder ist es irgendjemand, der fehlt? Ich höre leise Schritte vom Balkon her, erhebe mich aus meinem Sitz und warte auf die Person, die wohl gleich erscheinen wird. Ich freue mich auf die Begegnung, weiß aber nicht genau, wieso eigentlich. Und da kommt sie auch schon seitlich auf die Tür zu. In das Zimmer tritt eine junge Frau von ungefähr 25 Jahren. Sie trägt ein luftiges, helles Sommerkleid mit kräftigen Blumenmotiven und einem taillierten Schnitt, welches sich sehr vorteilhaft an ihre schlanke mitteleuropäisch anmutende Figur anschmiegt. Sie trägt leichte Sandalen aus weißen Riemchen an den Füßen. Dunkelblonde Haare umrahmen ihr makelloses Gesicht und ein ebenso freundliches wie offenes Lächeln umspielt ihren Mund. Zielstrebig kommt sie auf mich zu und blickt mir direkt in die Augen. In diesen faszinierenden Augen zeigen sich eine Tiefe und eine Weisheit, die in einem geradezu unglaublichen Gegensatz zu ihrem jugendlichen Aussehen stehen und sie strahlt eine Welle der Sympathie aus, die man kaum in Worte fassen kann.

Beinahe schelmenhaft blitzen ihre Augen kurz auf, während sich ihr Lächeln zu einem leichten Grinsen verbreitert und sie mich mit klarer und dennoch unendlich sanfter Stimme anspricht: „Hallo Claude, ich freue mich wirklich sehr, dich endlich persönlich kennen zu lernen.“

Da stehe ich nun. Vor mir eine charismatische junge Frau mit einem geradezu magischen Ausdruck in den Augen, die sich absolut sicher ist, den richtigen Kerl vor sich zu haben. Keine Spur von Zweifel hat Raum in ihrer selbstsicheren Erscheinung. Sie steht nicht einmal einen Meter vor mir und sieht mich an, als wolle sie von mir hören: „Ja, super. Ich find’s auch toll, dass wir uns endlich gegenüberstehen. Mensch, wie lange kennen wir uns nun schon und noch nie haben wir uns persönlich getroffen.“ Aber das verrückteste daran ist, dass ich genauso empfinde. Sie ist keine Fremde für mich und ich habe das sichere Gefühl, dass sie schon seit langem meine beste Freundin ist. Und nun steht sie direkt vor mir, zum Greifen nah und sie nennt mich Claude. Ich hole Luft, um zu antworten, aber meinen ersten Gedanken will ich nicht aussprechen. Nämlich, dass ich nicht dieser Claude bin. Aber ich fürchte, sie würde sich dann entschuldigen und einfach wieder gehen. Ich will aber nicht, dass sie geht. Da ist ein Band zwischen uns. Da ist eine laut klingelnde Erkenntnis in meinem Hinterkopf, die mir unbedingt mitteilen will, dass alles richtig ist, wie es gerade ist. Die Luft hat meine Lungen bereits wieder tonlos verlassen und genauso dünn klingt auch meine Stimme.

„Ähm“, kommt mir zaghaft über die Zunge, „bist du dir wirklich sicher, dass ich der bin, den du erwartest?“

„Aber so was von sicher, mein Lieber. Genau dich habe ich hier und jetzt erwartet und niemand anderen. Wenn ich mir dich allerdings so ansehe, habe ich eher das Gefühl, dass du gerade ein klein wenig durcheinander bist, stimmt’s?“, fragt sie, zuckersüß lächelnd.

Ihre Frage kommt so locker rüber, dass ich mich trotz der unwirklichen Situation von ihrer Natürlichkeit, ihrer guten Laune und meinen freundschaftlichen Emotionen überrennen lasse und ebenso locker antworte: „Du kleiner Witzbold, ich tauche aus dem Nichts hier auf und frage mich, ob ich spinne. Dann kommst du hier voll entspannt reingeschneit, als wenn es das normalste auf der Welt wäre, dass ich hier blöd rumstehe. Und dann, das hätte ich ja fast vergessen, nennst du mich beim falschen Vornamen. Weißt du; das passiert mir eigentlich höchstens dreimal am Tag und du bist heute schon die vierte heiße Braut, die mich auf diese blöde Tour anbaggert. Will sagen: Ja, du hast recht, ich bin durcheinander. Entschuldige die blöde Frage, wer bist du eigentlich?“

Ein ganz warmes Lächeln erscheint in ihrem Gesicht, sie kommt noch näher und nimmt mich in die Arme. Ich bin ein gestandener Mann, der die Mitte des Lebens überschritten hat, aber in diesem Augenblick fühle ich mich in den Armen dieses 25jährigen Mädchens so geborgen, als wäre ich sechs Jahre alt und meine Mama hielte mich ganz fest. „Ich habe keinen Namen, Claude, und das weißt du auch. Nenne mich einfach so, wie du möchtest.“

Bis jetzt habe ich mich einfach von ihr halten lassen. Doch die unbeschreibliche Sanftheit ihrer Stimme bringt etwas in mir in Bewegung. Nun erwidere ich die Umarmung voller Liebe. Ich umarme das junge Mädchen nicht wie ein Mann eine Frau umarmt, sondern wie ein Bruder. Ein Bruder, der seine vermisst geglaubte Schwester nach vielen hoffnungslosen Jahren vollkommen unerwartet wiedergefunden hat. So stehen wir eine lange Weile da.

Sie löst sich von mir und hält meine Hände in ihren Händen. Ich schaue tief in ihre großen Augen und dort erkenne ich die Unendlichkeit. Ich erinnere mich an… Nein, der Gedanke verblasst wieder… Sie hat wirklich keinen Namen, aber woher weiß ich das? Ich räuspere mich und sage zu ihr: „Claudia. Ich nenne dich Claudia. Wenn du mich Claude nennst, bist du meine Claudia.“

Sie erwidert meinen Blick, drückt noch einmal meine Hände und lässt sie dann langsam los. „Das klingt echt toll: Claudia und Claude.“ Ihr hübsches Gesicht nimmt lausbübische Züge an, als sie grinsend fortfährt: „Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass du dir das nochmal ganz gründlich überlegen wirst, mein Lieber.“

„Mag sein, aber ab jetzt bist du Claudia. Gewöhn’ dich dran. Ich weiß, dass ich dich irgendwoher kenne, nur weiß ich nicht mehr, woher. Allerdings weiß ich ebenso, dass ich unsagbar viel über dich noch nicht weiß.“

„Das sind die süßen Geheimnisse einer Frau. Solltest du doch kennen“, flötet sie, immer noch grinsend, zurück. „Wieso glaubst du das?“

„Man sagt, die Augen wären der Spiegel der Seele. Und genau so sehe ich das auch. Als ich gerade eben in deine Augen sah, da kam eine Erinnerung zurück. Da wusste ich wieder, dass diese Augen schon viel mehr gesehen haben, als ich mir auch nur vorstellen könnte“, entgegne ich auf ihre Frage. „Ist es wirklich okay, dass ich mit dir einfach wie mit einer guten Freundin rede?“

Ihr Grinsen wird wieder zu dem sanften Lächeln und sie deutet auf meinen vorherigen Sitzplatz. Wir gehen zu den Stühlen und setzen uns an den Glastisch. Ich schenke Claudia auch ein Glas Wasser aus der Karaffe ein, frage mich kurz, ob da gerade auch schon zwei Gläser und eine Karaffe standen, stelle die Frage aber gleich wieder zurück. „Natürlich ist das okay“, entgegnet sie, „Ich bin deine gute Freundin und werde es immer sein. Ich wollte es genau so und ich bin sehr froh, dass du bis hierhin alles akzeptieren kannst, ohne durchzudrehen.“

Und wieder blicke ich in die unvorstellbaren Tiefen ihrer Augen und frage sie ganz direkt: „Wer bist du, Claudia? Was haben diese Augen schon gesehen?“

Sie nimmt erneut meine Hände in die ihren und sieht, schon beinahe etwas verschämt, auf den Tisch hinab. „Du bist in einem christlichen Umfeld aufgewachsen. Als Kind hattest du Religionsunterricht. Du bist in die Kirche gegangen. Du hast biblische Geschichten gelesen. Anfangs hast du nicht drüber nachgedacht, weil die Erwachsenen es schließlich auch so gemacht haben. Aber so oder so bist du christlich geprägt. Du hast Hollywoodfilme über Moses und Noah gesehen. Du weißt von Gott und Jesus, vom heiligen Geist, von Engeln und Erzengeln und natürlich vom Teufel. Wenn wir beide uns zu einer früheren, nicht so ‚aufgeklärten‘ Zeit begegnet wären, so vor zwei- oder dreitausend Jahren, hätte ich mich dir anders vorgestellt. Zum Beispiel mit den Worten: ‚Fürchte dich nicht, dir wird kein Leid geschehen‘. Aber ich finde, das klingt heutzutage etwas altertümlich, nicht wahr?“ Ihr Kopf hebt sich langsam wieder und, während meine Gedanken wie irre im Kreis rennen, versinkt mein Blick wieder einmal in den endlosen Weiten ihrer Augen.

Ruhe kehrt langsam in meinen Kopf zurück und ich versuche, einen vollständigen Satz zu bilden. „Du bist… ein… Engel…? Ein von Gott gesandter Bote? Wow. Hast du einen göttlichen Auftrag? Oder…? Bin ich gerade gestorben?“ Schon wieder rasen meine Gedanken und schon wieder suche ich den rettenden Hafen in ihren Augen und schon wieder spüre ich, wie mich diese Unendlichkeit zur Ruhe bringt. Nein, mir droht nichts Böses, das weiß ich nun. Claudia ist ein guter Mensch, falls sie denn ein Mensch ist, meine ich. Ich bin nicht mehr ganz sicher.

„Hey, du“, höre ich leise und das holt mich zurück in die Wirklichkeit. „Lass uns ein wenig spazieren gehen, ja?“

Sie hält immer noch meine Hände und zieht mich mit einem sanften Ruck hoch. „Wir sind nicht hier, um tiefgründige Gedanken zu wälzen, also hoch mit dir“, sagt sie gutgelaunt wie immer – ich frage mich, woher ich das weiß – und zieht mich in Richtung der Tür hinter sich her. Ich atme die frische Frühlingsluft tief ein und trotte ihr nach. „Hallo? Soll ich dich den ganzen Tag ziehen, du Faulpelz? Komm schon“, ruft sie und zieht mich an ihre Seite, um sich in meinen Arm einzuhängen. Nebeneinander steigen wir gemütlich eine breite Treppe hinunter, die von der Hochterrasse auf einen unbefestigten Weg führt. Rechts von uns begrenzen Büsche und Sträucher den Weg, während zur linken Seite ein leichtes Gefälle über eine Blumenwiese hinweg bis zu einem kleinen See führt, dessen Gegenufer gerade noch sichtbar ist. Die riesige Wiese wird hier und dort, ohne dass irgendein Muster erkennbar wäre, durch Obstbäume verschiedenster Art aufgelockert. Es ist einfach nur schön hier und ich habe den Eindruck, dass das Himmelswesen an meiner Seite den Anblick ebenso genießt wie ich.

„Das ist schon ein dickes Ding, meine Hübsche. Du holst mich aus meinem Wohnzimmer, eröffnest mir, dass du ein Engel bist und jetzt schlendern wir wie ein Liebespaar an einem See entlang. Was hat dieser Tag wohl noch zu bieten?“

„Mach mal halblang, mein Großer, ich bin nur deine allerallerbeste Freundin, kapiert?“, grinst sie zu mir rüber, „schließlich bist du verheiratet. Aber ich weiß, was du meinst. Ich finde es wirklich schön so und ich liebe diese persönlichen Treffen sehr. Übrigens, wir beide treffen uns heute nicht zum ersten Mal, weißt du?“

„Ach ja? Warum kann ich mich nicht erinnern?“

„Das war noch auf einer anderen Ebene, Claude. Die Fähigkeit, mich in dieser Form wahrzunehmen, wohnt nicht in jedem Menschen und sie muss auch geschult werden.“ Sie bleibt stehen und dreht sich zu mir um. „Meinen ersten Kontakt hast du im Traum erlebt. Danach hast du zum ersten Mal seit langer Zeit über deinen Glauben nachgedacht. Das ging dann zunächst so weiter. Einmal haben wir uns auch schon hier gesehen und miteinander geredet, aber du hast alles verdrängt, weil für dein Bewusstsein nicht sein kann, was nicht sein darf. Wir konnten uns auch nicht wirklich austauschen, aber deine unterbewussten Emotionen sind zumindest haften geblieben. Ein kleiner Erfolg. Heute hast du ganz genau gewusst, dass ich kommen würde und du hast dich auf die Begegnung gefreut. Dein Bewusstsein hat sich geöffnet. Ich bin so froh, dass wir uns jetzt tatsächlich gefunden haben.“

„Erkläre dir einmal selbst, dass du mit einem Engel eine nette Unterhaltung geführt hast. Würdest du dich nicht auch für bekloppt halten?“, sage ich fast mehr zu mir selbst als zu Claudia, aber sie nimmt den Ball an.

„Andere Menschen, denen so etwas passiert ist, haben sich tatsächlich für wahnsinnig gehalten“, antwortet sie und grinst dabei wieder leicht. Sie sieht echt süß aus, wenn sie das macht. „Es hat mich eine ziemliche Mühe gekostet, sie wieder vom Gegenteil zu überzeugen. Das ist aber auch eine Frage der Epoche.“

„Wie meinst du das“, versuche ich zu ergründen. „Zu Zeiten, wo Gott und der Glaube generell noch eine höhere Gewichtung hatten?“

„Nein, nicht direkt so. Es gab eigentlich zu jeder Zeit Menschen, die eine eher starke Verbundenheit zu ihrem Glauben hatten und andere, für die das alles nur Überlieferungen aus alten Zeiten waren“, sagt sie dazu. „Ich meine es eher so, dass ihr heute auf gedruckte Bücher zugreifen und dort nachlesen könnt, vom Internet ganz zu schweigen. Aber zu anderen Zeiten wurde der Glaube von Mund zu Mund weitergereicht und so manche Erzählung am Lagerfeuer klang viel mystischer, geheimnisvoller und oft auch unheimlicher als ein simples Suchmaschinenergebnis. Das waren Zeiten, in denen die Menschen kaum naturwissenschaftliche Kenntnisse hatten. Vieles, was unerklärlich war, wurde als Strafe Gottes verstanden.“ Sie macht eine kleine Gedankenpause und spricht dann weiter: „Und dann erscheine ich so einem armen Tropf – oder hole ihn zu mir – und sage ihm, dass nur er mich sehen kann und ich etwas mit ihm zu besprechen habe. Da kommt Freude auf.“ Sie verzieht ein wenig ihr Gesicht bei ihrer letzten Bemerkung.

„Na dann“, entgegne ich, „kann ich ja froh sein, mich ab heute als einen sehr modernen und aufgeklärten Bekloppten bezeichnen zu dürfen.“

„Oh, warte erst mal ab. Das kann sich durchaus noch steigern“, erwidert sie belustigt auf meine Bemerkung.

Ich mache einen kleinen Schritt zur Seite, um sie besser anschauen zu können. „Jetzt machst du mir Angst, mein Engelchen“.

Sie lächelt nur, hakt sich wieder unter und wir spazieren weiter den Weg entlang, der eine leichte Linksbiegung macht und näher an den See führt. Weiter unten sehe ich eine Bewegung. Jemand scheint uns entgegen zu kommen. Ich schiele kurz nach links, aber Claudia scheint es nicht bemerkt zu haben. Wir schlendern wortlos weiter und ich strenge meine Augen an, um mehr erkennen zu können. Ein kleines Mädchen glaube ich dort zu sehen, das etwas in der Hand trägt. Nein, sie trägt es nicht, es ist eine Leine. Ein Mädchen mit einem Hund an der Leine kommt uns entgegen. „Sind wir nicht allein hier?“, frage ich Claudia, und sie antwortet: „Doch, sind wir.“

Ich schlucke zweimal und überlege, was klüger ist: Abwarten bis die Kleine hier ist oder mit dem Finger auf sie zeigen. Aber wer zu lange nachdenkt, hat keine Wahl mehr. Das Mädchen war bereits viel zu dicht bei uns, um es zu übersehen und sie lächelt uns beiden auch schon zu. „Hallo Claudia“, sagt die Kleine und zu meiner Überraschung fügt sie noch hinzu: „Hallo Claude.“ Ich spiele einmal mehr den Dorfdeppen und bringe ein unsicheres „Hallo“ heraus, während meine Begleiterin das Mädchen anlächelt und ein amüsiertes „Hallo Claudia“ erwidert.

Die Kleine geht unbeeindruckt und wie selbstverständlich weiter, um ihren Hundespaziergang fortzusetzen. Das ist jetzt ein bisschen viel auf einmal und es braucht eine Erklärung. Abrupt bleibe ich stehen, um meinen Engel an beiden Schultern zu mir zu drehen und schaue frontal in ein breites und freches Grinsen, welches von einem Ohr bis zum anderen reicht. „Fräulein, du machst mich fertig. Wer, in drei Teufels Namen, war das?“

„Den Teufel gibt es nicht und schon gar nicht dreimal. Und das kleine Mädchen bin ich. Ach ja, der kleine Hund bin übrigens auch ich.“ Ich stehe da, halte sie nach wie vor an den Schultern, schaue mir ihre sich bewegenden Lippen an und versuche zu ergründen, ob die gerade gehörten Worte wirklich aus diesem Mund gekommen sind. Während mein Verstand noch rotiert, fährt sie fort: „Weißt du was? Wir setzen uns einmal in den Pavillon dort drüben.“

„Welchen Pavi… War der gerade schon da?“

„Natürlich!“

“Bist du sicher?“

„Nein. Ich habe ihn gerade eben gebaut!“

„Echt jetzt?“

„Das war ein Witz.“

„Dir traue ich inzwischen fast alles zu, Schätzchen.“

Während dieses kleinen Wortgefechts haben wir den Pavillon erreicht und setzen uns gegenüber an den kleinen Tisch. „Also“, nehme ich den Faden wieder auf, „Wer war das? Du warst das? Du bist eine Frau, ein Kind und ein Hund? Gleichzeitig?“

„So ist es. Das bereitet mir keine Probleme. Ich könnte auch eine Fußballmannschaft sein und die des Gegners auch noch. Ich bin viel mehr als ein einzelnes Wesen.“

Ich suche das süße Grinsen in ihrem Gesicht, aber da ist keins. Sie sagt diesen bedeutsamen Satz auf eine Art, die kein bisschen arrogant oder übermenschlich wirkt. Mein Freund, ich kann 20 Menschen gleichzeitig sein und mit der Kraft meiner Gedanken Gebäude errichten, aber ich hoffe, dass du mich trotzdem noch liebhast. „Und das kann jeder Engel?“, frage ich sie und schaue, zum wievielten Mal eigentlich, in ihre faszinierenden Augen.

„Das mit dem Engel kam von dir, ich habe dir nur nicht widersprochen“, sagt sie etwas zu schnell, „aber eigentlich…“, hier macht sie eine Pause, als wenn sie sich ihre nächsten Worte erst zurechtlegen müsste, „…gibt es auch gar keine Engel. Wozu auch? Ich kann jeder Engel sein, den du sehen willst. Ich kann alles sein, was du sehen willst. Ich kann auch der ältere weißbärtige Herr sein, wenn du das möchtest, oder ein älterer schwarzbärtiger Mann, doch das würde dann ziemlich dämlich aussehen, wenn wir Hand in Hand spazieren gehen. Aber ich bin das alles, Claude. Ich bin die große Unbekannte, die schöpferische Kraft, die das Universum und alles darin erschaffen hat.“

„Ja, toll. Und ich nenne dich Claudia und sage Schätzchen zu dir. Sorry, aber ich…“

„Das ist gut so. Ehrlich. In dieser Gestalt bin ich deine Claudia. Ihr würdet mich in eurer modernen Sprache vielleicht einen Avatar nennen, obwohl dieser Begriff auf sehr alte Quellen zurückreicht. Aber ich bin echt, nicht künstlich. Ich bin aus Fleisch und Blut. Gleichzeitig bin ich ‚ER‘. Ich habe fast alle Möglichkeiten meines ‚großen Ich‘, weil ich aber physikalisch und biologisch ein Mensch bin, passt einfach nicht alles rein. Ob groß oder klein: ich bin kein Monster und ich will eigentlich auch kein ‚Gott‘ sein, aber es gibt keine treffende Bezeichnung für ein Wesen wie mich. Ihr alle, alle Menschen, alle Tiere, alle Pflanzen seid ein Teil von mir. Also sind wir beide, Claude, du und ich, Teile eines großen Ganzen. Alle Lebewesen tragen einen Splitter von mir in sich. Je höher sie entwickelt sind, desto größer ist dieser Splitter. Es gibt jedoch Unterschiede. Du hast einen erstaunlich großen abbekommen, du spürst instinktiv die Verbindung zu mir und du lehnst sie nicht ab. Genau deshalb stehen wir uns so nah.“

„Ich sitze hier also, in einem Pavillon am See wohlgemerkt, meinem Schöpfer gegenüber und bin trotzdem nicht tot“, bemerke ich vor mich hin sinnierend, werde aber durch ein leises Lachen aus meinen Gedanken gezogen. Das wiederum stammt von meiner Göttin, die nun aufsteht, als sie sich ertappt fühlt.

„Entschuldige bitte, aber der Teil von mir, der in diesen Körper passt, ist auch nur ein Mensch. Für solche Gedanken und Aussagen liebe ich euch Menschen, dafür liebe ich dich“, sagt sie, kommt um den Tisch herum auf mich zu und nimmt mich nochmal in die Arme. Und es fühlt sich schon wieder so wunderschön an.

„Du sagtest, du bist meine Claudia“, sage ich und löse mich aus ihrem Armen. Ich fasse sie an den Schultern und nehme das Bild in mich auf. Ich sehe eine junge Frau. Mehr nicht. Der Rest passiert in meinem Kopf. „Mir ist vollkommen wurscht, ob du ein Avatar oder ein Gefäß oder sonst was bist. Du stehst vor mir und ich rede mit dir. Du bist eine Ausdrucksform Gottes. Ich beginne zu verstehen. Gott ist groß, Gott ist mächtig. Gott ist wahrscheinlich größer als die Galaxis, größer als das Universum. Ich meine, du hast das Ding gebastelt, oder? Bitte nicht antworten – ich sortiere gerade meine Hirnwindungen. Du schubst einen winzigen Teil von dir auf die Erde. In einer Verpackung, die so ein dumpfes Wesen wie ich sehen, hören und fühlen kann. Du bist ein Engel. Schon immer. Du bist jeder Engel. Du bist Manitu. Du bist Odin. Du bist Jupiter. Du bist Zeus. Du bist alles mögliche. Das ist viel…. Oh, mein Gott.“

Ich muss lachen. Dieses ‚Oh, mein Gott‘ war als Ausdruck des Erstaunens gedacht. In dem Moment, wo ich es aussprach, wurde mir bewusst, dass ‚ER‘ fünfzig Zentimeter vor mir steht. Aber das Beste daran ist, dass Claudia auch lacht. Diesmal nehme ich sie in den Arm. Mir ist es egal, wen oder was ich da vor mir habe. Gemeinsam erholen wir beide uns langsam von dem Lachanfall.

„Ich habe dir heute so viel über mich erzählt, dass es für beinahe jeden anderen schon zu viel gewesen wäre, Claude. Aber ich denke, dass es richtig war. Ich denke auch, dass meine Wahl richtig war. Gehen wir noch zum See runter?“, fragt Claudia.

„Gerne“, antworte ich, „Du hat mich erwählt?“ Sie hakt sich wieder unter und wir gehen langsam weiter.

„Ja“, sagt sie, „Ich brauche deine Hilfe.“

Das erstaunt mich nun wirklich und so frage ich nach: „Wie kann ich dir, einem Gott, einem Überwesen, denn behilflich sein? Ich bin nur ein einfacher Mensch.“ Der See liegt ruhig vor uns, als wir das Ufer erreichen. Eine kleine Bank steht dort am Weg und wir lassen uns auf ihr nieder.

„Ich werde dir das bei unserem nächsten Treffen erklären. Für heute hast du wirklich genug zu verarbeiten. Nur eines lege ich dir schon mal ans Herz: Ich nannte dich die ganze Zeit schon Claude und das hat einen guten Grund. Als mein Helfer bist du Claude Ribal Massner. Deinen wahren Namen wirst du in dieser Funktion nicht verwenden. Ich möchte dich bitten, schon unser heutiges Treffen zu Papier zu bringen. Schreibe deine Erinnerung an diesen Tag nieder. So, wie du ihn erlebt hast. Das heute wird nicht unsere letzte Begegnung sein, denn ich möchte dir vieles sagen und auch so manches zeigen. Meine Worte richten sich aber nicht allein an dich, sondern an alle Menschen. Bitte schreibe sie auf und Teile sie dann mit den Menschen.“

Dann schweigt sie. Ich schweige ebenfalls. Wir blicken hinaus auf das spiegelnde Wasser des kleinen Sees. Hier und dort kräuselt sich die ansonsten glatte Oberfläche, als wenn der eine oder andere Fisch für uns unsichtbar seine Kreise zieht. Nach wie vor liegt der Frühling in der Luft. Man spürt ihn einfach. Die Geräusche, die Gerüche, die leichte Brise. Ich sitze nicht mit Gott auf einer Parkbank. Ich sitze mit Claudia auf einer Parkbank. Auch sie spüre ich einfach. So wie den Frühling. Ich höre sie. Ich rieche sie. Ich kann nicht anders und suche ihre Hand. Ich will sie, ihn, es, noch einmal fühlen, denn ich habe die Befürchtung, dass unsere Begegnung sich dem Ende nähern könnte. Sie erwidert den suchenden Druck meiner Hand eine ganze Weile. Dann jedoch steht sie auf und stellt sich vor mich. „Bleib einfach sitzen, Claude“, sagt sie, „Wir sehen uns bald wieder.“

Ich spüre noch einen Kuss auf der Stirn und sitze wieder in meinem Sessel in meinem Wohnzimmer. Ich schaue zu meiner Frau hinüber. Sie schaut zurück, als wenn nichts gewesen wäre.

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